Offener Brief an Fridays For Future: Liebe FFF-Aktivist*innen, …
Die Umweltfrage ist ohne einen Systemwechsel nicht lösbar. Kimaaktivisten wissen das, aber sie stellen die Systemfrage nicht. Ein offener Brief.
ich würde wirklich gerne mit euch demonstrieren, aber ich kann es nicht. Ich würde gerne „Junggebliebene weiße Männer for Future“ gründen, aber ich kann es nicht. Ich wäre wirklich gerne einmal Teil einer Jugendbewegung, aber ich kann mich euch nicht anschließen. Ihr steht gerade vor einer Grundsatzentscheidung. Der Entscheidung, ob ihr weiterhin das gute Gewissen einer falschen Lebensweise bleiben wollt oder ob ihr euch für einen fundamentalen Umbau dieser Gesellschaft einsetzt.
Ihr bezeichnet euch selber gerne als radikal, doch in Wahrheit verharrt ihr auf der Ebene der rein rhetorischen Radikalität. Denn eure Forderungen sind Minimalforderungen, die uns erlauben sollen, weiter so leben zu können wie bislang. In den Medien wird oft der Vergleich mit den 68ern gezogen, aktuell seid ihr aber das Gegenteil der 68er-Bewegung. Damals haben die Jugendlichen die verkrustete Gesellschaft herausgefordert und die Systemfrage gestellt.
Sie haben das Wirtschaftssystem angegriffen, alte Familienmodelle aufgebrochen und die Gesellschaft grundlegend verändert. Sie haben die Systemfrage gestellt. Wir profitieren noch heute von den Freiheiten, die damals gegen den Widerstand vieler hart erkämpft wurden. Eure Forderungen gehen aber in eine ganz andere Richtung: sie nutzen vor allem der Verhinderung der Beantwortung dieser Systemfrage.
Dabei leben wir in einer wachstumsgetriebenen Ökonomie und müssen die Frage beantworten, wie wir innerhalb dieser die Klimakatastrophe verhindern wollen. Eine wachstumsgetriebene Ökonomie bedeutet: immer mehr Autos besitzen, immer mehr fliegen und immer mehr kaufen. Wie können wir in einem Wirtschaftsmodell des „Immer mehr“ das Klima retten? Die ehrliche Antwort: Es ist unmöglich. Die Umweltfrage ist ohne einen Systemwechsel nicht lösbar. Und das wisst auch ihr. Daher müsst ihr diese Frage in den Fokus rücken. Ich weiß, bei euch gibt es viele, die sie stellen wollen. Gebt ihnen eine Plattform.
Wir brauchen eine Alternative zum jetzigen Wirtschaftsmodell, und meine Generation hat in dieser Frage in Gänze versagt. Ich bin 33 Jahre alt. Meine Generation hat die Ökonomisierung der Gesellschaft auf die Spitze getrieben: Wir lassen uns unser Essen per Fahrradkurier nach Hause bringen. Wir sind die Generation Easyjet, die mal schnell für ein Wochenende nach Rom fliegt. Mit Airbnb haben wir nun selbst das Übernachten bei Fremden durchökonomisiert. Ihr müsst mit unserem Lebensmodell brechen.
Wie kann ein solcher Bruch mit dem jetzigen Wirtschaftsmodell aussehen? Sicherlich nicht allein durch eine CO2-Steuer und durch einen Umbau des Energiesektors, wie ihr fordert. Eine CO2-neutrale Gesellschaft ist in einer wachstumsgetriebenen Ökonomie nicht möglich. Nehmen wir das Beispiel der CO2-Steuer beim Fliegen. Eine CO2-Steuer würde die Ärmeren treffen und ihre bereits geringe Mobilität weiter einschränken.
Das ist eure Aufgabe
Den Vielflieger würde eine geringe Steigerung der Preise von Flugtickets wiederum nicht stören. Die Party ginge größtenteils weiter wie bislang. Warum verteilen wir nicht Kontingente an Kilometern, die jede Person verfliegen darf? Wir starten erst mit einer recht hohen Anzahl an Kilometern und reduzieren diese dann langsam und stetig. Es wäre ein wirklicher ökonomischer Systemwechsel.
Das Beispiel zeigt: Denkt groß, denkt radikal, denkt grundlegend, denkt über den jetzigen Kapitalismus hinaus. Dank eures Alters habt ihr das Privileg des freien Denkens. Stört unser bis zur Perfektion einstudiertes Leben. Das ist eure Aufgabe. Ihr dürft uns das „Weiter so“ nicht durchgehen lassen. Doch eure bisherigen Forderungen spielen uns in die Karten.
Durch die fehlende Systemfrage seid ihr ein immanenter Baustein des „Weiter so“. Ohne die Systemfrage seid ihr eine Stütze des falschen Systems. Geht die Party weiter oder bauen wir die Gesellschaft jetzt grundlegend um? Das entscheidet ihr. Werdet endlich radikal.
Für diese neue Radikalität müsstet ihr euer politisches Engagement verändern. Ihr könnt euch aktuell auf eine einzelne politische Frage konzentrieren. Aus der eigenen Betroffenheit heraus versucht ihr gesellschaftliche Lösungen zu finden. Meine Generation hat mit der Individualisierung des politischen Engagements angefangen – ihr seid dabei, das zu perfektionieren. Es ist gemütlich, sich mit nur einem Thema in einer weitgehend homogenen Gruppe zu befassen: Man kann die reine Lehre predigen.
Der Aktivist – also die individuelle Problemlösung – ist in den vergangenen Jahren zum neuen Star des politischen Engagements aufgestiegen. Er wird mittlerweile gesellschaftlich auf Händen getragen. Ihr seid die perfekte Bewegung für eine durchindividualisierte Generation: instagrammable, frei von Mehrdeutigkeiten und moralisch auf der richtigen Seite. Bislang konnte aber noch niemand sagen, wie aus einem immer individueller werdenden Engagement ein gesamtgesellschaftliches Konzept werden soll.
Die Umweltfrage ist nicht ohne die Wirtschaftsfrage zu beantworten. Die Wirtschaftsfrage ist nicht ohne die Gerechtigkeitsfrage zu beantworten. Und die Gerechtigkeitsfrage ist nicht ohne die Umweltfrage zu beantworten. Aus der Kombination aus all dem wird dann irgendwann die Systemfrage.
Ich beneide euch. Mit einem Engagement in einer Partei habe ich einen anderen Weg als ihr gewählt. Ich wurde wegen meiner Parteimitgliedschaft schon oft bedroht und beschimpft. Einem Freund wurde an einem Infostand mit dem Hinweis „Danke für Hartz IV“ ein Eimer Wasser über den Kopf geschüttet. Welche innerparteiliche Position man für Themen einnimmt, interessiert da draußen niemand. Man ist Teil des politischen Kollektivs und daher auch für alles mitverantwortlich.
Sprengt unsere Parteitage mit neuen Ideen
Parteien sind große heterogene Gruppen, die Volksparteien im Besonderen. Da stößt man mit neuen Themen oft auf große Ablehnung. Als ich vor zehn Jahren mit dem Thema Digitalisierung in der SPD ankam, brach auch keine Welle der Begeisterung aus. Bis heute kämpfe ich um Beachtung für das Thema. In einer neuen, jungen Bewegung ist es da sicherlich viel gemütlicher. Der Herausforderung Partei müsst ihr euch aber stellen. Es ist eure Aufgabe, die Parteivorsitzwahl meiner Partei zum Festival der Ideen für Umweltschutz zu machen.
In diesen Tagen dreht sich alles ums Klima. Aus dem einsamen Protest von Greta Thunberg in Stockholm ist eine globale Bewegung geworden. Sie ruft zum weltweiten Streik auf. Am 20. September protestiert „Fridays For Future“ in 400 deutschen Städten, weltweit soll es 2.000 Aktionen in 120 Ländern geben. Gleichzeitig stellt die Bundesregierung die Weichen für eine strengere Klimapolitik.
Die taz ist Teil der Kampagne „Covering Climate Now“. Mehr als 200 Medien weltweit setzen bis zum UN-Klimagipfel vom 21. bis 23. September in New York gemeinsam genau ein Thema: Klima, Klima, Klima.
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Sprengt unsere Parteitage mit neuen Ideen und bringt uns zum Nachdenken. Von euch kommen immer mehr Forderungen, aber ihr kommt nicht in die Parteien und ihr lasst uns da ziemlich alleine sitzen.
Da ihr die Systemfrage nicht beantworten wollt, verharrt ihr derzeit auf der symbolischen Ebene. Ihr dürft vor der UNO sprechen, werdet zu Talkshows eingeladen und bekommt Titelbilder in Magazinen. Es ist gesellschaftlich schick geworden, sich mit euch zu umgeben. Vor einigen Tagen habe ich durch meine „Instagram Stories“ geschaut und da empfahl mir der Sohn von Will Smith einen TED-Talk von euch, wie man Klimaaktivist*in wird. Bei eurem Camp tritt Joko Winterscheidt auf. Aber Veränderung erreicht man nur durch Reibung, durch Widerstand.
Wenn ihr Veränderung einfordert und euch alle zujubeln, dann stimmt irgendwas nicht. Ihr sprecht das richtige Problem an, eure Antworten sind aber noch zu klein. Mit dem Beantworten der Systemfrage würde auch euer gesellschaftlicher Applaus abebben, aber ihr könntet diese Gesellschaft dann wirklich verändern.
Meine Generation hat in jeglicher Hinsicht gezeigt, wie ihr es nicht machen solltet. Wir hatten alle Möglichkeiten, diese Gesellschaft zum Besseren zu verändern, aber wir haben alles schlimmer gemacht. Der Zufall der Geburt hat die Anfänge des Internets und meine Jugend synchronisiert. Das Internet, als ich es zum ersten Mal kennenlernte, war ein toller Ort: dezentral aufgebaut und anarchisch. Den Namen Mark Zuckerberg kannte kaum einer. Ich war der festen Überzeugung, es wäre unser Woodstock. Aus Gitarrenriffs seien Nullen und Einsen geworden.
Das Internet ist meiner Generation aber entglitten. Sein Freiheitsversprechen hat sich ins Gegenteil verkehrt. Wir haben uns um die Gestaltung des Netzes gekümmert und dabei Gesellschaft und Politik vergessen. Wir dachten, das Internet habe eine solche Ausstrahlungskraft auf den Rest der Gesellschaft, dass wir uns einzig und allein darum kümmern müssten. Dann kamen Mark Zuckerberg, Amazon und Google und haben die Systemfrage für uns beantwortet. Euch darf das mit dem Klima nicht passieren, es steht zu viel auf Spiel.
Orte des Klimawandels
Die Systemfrage zu stellen wird nicht leicht. Es wird viel Kraft kosten. Aber ich verspreche euch, es lohnt sich. Und ich verspreche euch: dann gründe ich „Junggebliebene weiße Männer for Future“ und streike mit euch, wenn ich das noch darf.
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