Nahost-Konflikt: Alternative Narrative
Die Hamas schreibt sich den bewaffneten Widerstand auf die Fahne und lässt keinen anderen Weg gelten. Folgen muss man ihr deshalb noch lange nicht.
W ie bedauerlich, dass der aktuell vorherrschende palästinensische Diskurs jede innenpolitische Kritik an der Hamas zum Schweigen bringt. Dabei kommt immer dasselbe Argument: Jetzt, so heißt es, sei nicht der richtige Zeitpunkt, um die Bewegung zu kritisieren, die allein an der Spitze des Kampfes gegen die Besatzung steht.
Dieser Sichtweise zufolge müssen wir uns auf absehbare Zeit der mörderischen islamistischen Ideologie der Hamas anschließen und das säkulare nationale palästinensische Narrativ ignorieren. All jene, die den säkularen Vorstellungen folgen – und das ist die Mehrheit der Palästinenser und Palästinenserinnen sowohl innerhalb als auch außerhalb des Gazastreifens –, müssen sich gegen die eigene Haltung positionieren.
stammt aus der arabisch-israelischen Kleinstadt Qalansawe und stieß nach ihrem Studium der Konfliktbewältigung zur Tageszeitung „Ha’aretz“, für die sie aktuell aus Amsterdam berichtet. Die Schwerpunkte der Palästinenserin sind der israelisch-palästinensische Konflikt, Frauen im Nahen Osten und Kultur in der arabischen Welt.
Die wenigen, die es bislang gewagt haben, die Hamas, ihre Methoden und die Folgen des 7. Oktobers für den Gazastreifen zu kritisieren, werden stets mit dem Slogan konfrontiert, den die Hamas völlig sinnentleert hat: „Wir haben das Recht auf Widerstand!“ Dieser Satz wird bis heute als die ultimative Antwort auf jeden ethischen, moralischen und politischen Versuch angesehen, die banale Definition des Widerstands der Hamas infrage zu stellen.
Es ist, als sei „Wir haben das Recht auf Widerstand“ nicht nur eine temporäre Maßnahme, sondern ein göttliches Gebot. Wichtig ist mir, an dieser Stelle festzuhalten, dass ich unser grundsätzliches Recht als Palästinenser und Palästinenserinnen, uns gegen die Besatzung zu wehren, keinesfalls infrage stelle. Es ist ein Recht, das im Völkerrecht verankert ist.
Nur noch zwei Schritte zur Befreiung
Worüber ich jedoch streite, ist die Definition, sind die Methoden, die die Hamas dem palästinensischen nationalen Narrativ und den Generationen, die ihm blindlings gefolgt sind, aufgezwungen hat. Wichtig ist auch festzuhalten, dass diese Kritik Israel keinesfalls von der Verantwortung für die unsägliche Vernichtung des Gazastreifens entbinden soll.
Für die Hamas umfasst der Satz: „Wir haben das Recht auf Widerstand“, die Zerstörung, die Auslöschung ganzer Familien im Gazastreifen als einen notwendigen Preis auf dem Weg zur ersehnten nationalen Befreiung. All die Verluste und Zerstörungen bringen uns Palästinenser dieser Interpretation zufolge unseren Zielen näher. Je massiver und tragischer die Verluste sind, desto größer die Chance für die nationale Befreiung. Demnach sind wir nach dem Völkermord in Gaza nur noch zwei Schritte von der Befreiung entfernt.
Die Hamas hat diese Verluste zum einzigen Maßstab für den Erfolg des palästinensischen Kampfes gegen die Besatzung gemacht. Und wir sollen dem Preis, den sie fordert, ohne Fragen oder Vorbehalte zustimmen. Die Hamas hat die Körper der Palästinenser zu einem Werkzeug gemacht, um ihre politischen Ansichten durchzusetzen, und zum einzigen Werkzeug im Kampf für die nationale Befreiung.
Sie hat die Palästinenser und Palästinenserinnen an der vordersten Front des Widerstands allein gelassen und sie der systematischen Vernichtung ausgesetzt. Und zwar nicht nur, weil sie alle Bewohner des Gazastreifens für das Blutbad vom 7. Oktober verantwortlich gemacht hat. Sie hatte nie vor, sie zu schützen. Der Plan von Beginn an war, die Menschen im Gazastreifen für die eigenen Ziele zu benutzen.
Ich warne meine palästinensischen Schwestern und Brüder vor dem gefährlichen Weg des Widerstands, den die Hamas propagiert und praktiziert. Gefährlich nicht nur, weil die islamistische Bewegung ihre Version des Widerstands instrumentalisiert, um interne palästinensische Kritik zum Schweigen zu bringen. Gefährlich, weil sie die „Schahid-Industrie, den Märtyrertod, verherrlicht. Gefährlich, weil sie den Palästinensern als göttliches Gebot präsentiert wird.
Hamas ohne politischen Horizont
Wer sich dagegen stellt, untergräbt die Legitimität des Projekts der nationalen Befreiung, die einzig durch den bewaffneten Kampf und die damit verbundenen Kollateralschäden zu erreichen sei. Wir sollten uns diesen Geboten nicht unterwerfen und uns nicht mit unseren legitimen ethischen und humanitären Fragen zum Schweigen bringen lassen.
Wir sollten unsere Denkprozesse, von denen sich die Hamas als Doktrin und einzige politische Option untergraben fühlt, vorantreiben und andere Wege suchen, die nicht über die Leichen von zigtausenden Palästinensern und Palästinenserinnen führen. Ich appelliere an euch, meine palästinensischen Schwestern und Brüder: Es ist an der Zeit zuzugeben, dass die Hamas keinen politischen Horizont hat. Es ist an der Zeit, die gescheiterte Interpretation des Widerstands zurückzuweisen.
Es ist an der Zeit, die Definitionen, Interpretationen und Praktiken zurückzuweisen, die das katastrophale Narrativ vom 7. Oktober als Widerstand wiederholen. Wir müssen nicht länger mit der Idee einhergehen, dass die Hamas gerettet und ihre Führung rehabilitiert werden muss, während sie weiterhin den Gazastreifen beherrscht. Vor allem müssen wir uns fragen, wie in aller Welt der 7. Oktober als Widerstandsnarrativ unter den Palästinensern und in der weiteren arabischen Welt legitimiert werden konnte, wenn auch nur teilweise. Und was sagt das über uns und unser Narrativ aus?
Jetzt ist die Zeit für eine andere Form, für andere Methoden des palästinensischen Widerstands, die dem Geist der nationalen Befreiung entsprechen, von dem wir träumen. Jetzt ist die Zeit, dem Ethos des nationalen Widerstands nach der Enteignung durch die Hamas eine neue Bedeutung zu verleihen. Unsere einzige Chance zu überleben, ist einzusehen, dass die vorherrschende nationale Erzählung, die auf Opfermythos und Selbstgerechtigkeit beruht, nicht mehr funktioniert.
Wir werden nur überleben, wenn wir uns auf den Weg machen, ein alternatives palästinensisches Narrativ zu schaffen, in dem kein Platz für israelisches Blut oder anderes Blut ist.
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