7. Oktober – ein Jahr danach: Chronik einer Tragödie
Der 7. Oktober 2023 hat nicht nur die Geschichte im Nahen Osten neu geschrieben. Die Nachwirkungen zu „Ten Seven“ bleiben weltweit spürbar.
I n einer anderen Welt wäre Moshe Ridler ein Überlebender. Als die Nationalsozialisten im Juni 1941 die Sowjetunion überfielen, war der gebürtige Rumäne neun Jahre alt. Die mit den Nazis paktierende rumänische Regierung deportierte ihn und seine Familie in ein Arbeitslager in Transnistrien. Tausende Jüdinnen und Juden starben dort und auf dem Weg dahin – erfroren, verhungert, ermordet. Ridler konnte fliehen, überlebte. Dann siedelte er ins neu gegründete Israel über. Allein. Seine gesamte Familie starb im Holocaust.
Moshe Ridler zieht in den Kibbuz Cholit, eine kleine, landwirtschaftlich geprägte Siedlung, die 1982 an den Rand des Gazastreifens verlegt wurde. Die Bewohner*innen pflegen gute Beziehungen zu ihren palästinensischen Nachbar*innen, arbeiten mit- und füreinander, sind befreundet.
Am Morgen des 7. Oktober 2023, dem jüdischen Ruhetag Sabbat, ertönen die Sirenen über Cholit. Viele der 53 Familien im Ort sitzen gerade beim Frühstück oder schlafen. Etwa um 6.30 Uhr sind Schüsse zu hören. In der Chatgruppe des Kibbuz heißt es, Terroristen gingen von Tür zu Tür, drängen in die Häuser ein, brächen die Schutzräume auf. Am Ende des Tages sind vier Kibbuz-Bewohner nach Gaza entführt und 15 ermordet. Darunter auch Moshe Ridler.
Es ist nicht der einzige Kibbuz, der auf nie da gewesene Art angegriffen wird. Nachdem am Morgen bereits Tausende Raketen auf Israel niedergegangen sind, überwinden etwa 6.000 Gazaner, davon mindestens 3.800 Bewaffnete der Hamas, zu Fuß, auf dem Wasser, mit Motorgleitern, auf Motorrädern und mit Pickups den Grenzzaun zwischen dem Gazastreifen und Israel.
Ein reaktiviertes Trauma
Sie kommen, um zu töten, zu foltern, zu brandschatzen und Geiseln zu nehmen. Sie fesseln Familien aneinander und zünden diese dann an, ermorden Eltern vor den Augen ihrer Kinder. Sie töten auch Kleinste oder verschleppen diese nach Gaza – darunter ein Neugeborenes, das bis heute als vermisst gilt.
Videos ihrer Taten schicken sie mittels der Telefone der Opfer an deren Angehörige. Während sich die grausamen Bilder langsam verteilen, erwachen in vielen Israelis und später auf der ganzen Welt Assoziationen. Im Zuge der „Al-Aqsa-Flut“, wie die Hamas ihren Angriff nennt, sterben etwa 1.200 Israelis, die meisten davon Zivilist*innen. 240 werden als Geiseln nach Gaza verschleppt. Es ist der größte zusammenhängende Massenmord an Jüdinnen und Juden seit dem Holocaust.
So war es gewollt. Der amerikanisch-israelische Autor Ron Leshem schildert in seinem Buch „Feuer. Israel und der 7. Oktober“, wie die Hamas und andere Gruppen den Angriff vorbereiteten: Sie studierten das israelische Überwachungssystem, bildeten Kämpfer aus, übten das Überwinden von Zäunen, das Eindringen in Gebäude, das Kidnappen von Menschen. Ein gigantisches Tunnelsystem, das fast den gesamten Gazastreifen aushöhlt und bis an die israelischen Kibbuzim heranreicht, sollte als Angriffslinie, Kommandozentrale und Verwahrlager für Geiseln dienen.
Reaktion und „Widerstand“
Der israelische Verteidigungsapparat hingegen versagte: Hochrangige Militärs spielten Warnungen herunter, hielten Manöver der Hamas am Grenzzaun für Provokationen. Statt Truppen bei Gaza zu verstärken, beschützte das israelische Militär im Westjordanland den Bau neuer Siedlungen.
Leshem schreibt: Die Hamas sah die arabische Unterstützung für die „palästinensische Sache“ schwinden, weil Israel die Beziehungen zu seinen arabischen Nachbarn zunehmend verbesserte. Zudem fühlte sie sich von einem jüdischen Gebet am für Muslimen heiligen Tempelberg provoziert.
Der beispiellose Angriff sollte den israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu und sein rechtsextremes Kabinett zu einer derartig heftigen Reaktion treiben, dass die übrigen arabischen Staaten, vielleicht auch die westliche Welt, nicht weiter tatenlos zusehen könne.
Für diese These spricht, dass ein Hamas-Sprecher später gegenüber der New York Times verlauten ließ, der Krieg möge „an allem Fronten permanent werden“. Das abzusehende Leid der palästinensischen Bevölkerung war einkalkuliert.
Über Nacht in einer anderen Welt
Doch noch bevor Israels Militäroperation „Eiserne Schwerter“ mit über 40.000 Toten zu einem der tödlichsten Kriege des 21. Jahrhunderts werden konnte, waren propalästinensische Akteure in aller Welt damit beschäftigt, den Angriff der Hamas zu feiern. Vom New Yorker Times Square bis zum Berliner Hermannplatz zelebrieren Anhänger in den Stunden nach der Attacke den „Widerstand“ der Hamas.
Im Internet verbreiten sich die ersten Bilder, die motorisierte Gleitschirme als Befreiungssymbol inszenieren. Von solchen Gleitern aus entdecken die Terroristen ein Musikfestival nahe Gaza und beschlossen außerplanmäßig, es niederzumetzeln. Über 300 Menschen, darunter die Deutsch-Israelin Shani Louk, werden brutal ermordet oder verschleppt, es gibt Hinweise auf Massenvergewaltigungen
„Gaza ist aus dem Gefängnis ausgebrochen“, lautet eine Botschaft, die viele teilen. „Wir sind überwältigt“, frohlockt der deutsche Arm der antizionistischen Gruppe „Palästina spricht“.
Auf der ganzen Welt wachen Jüdinnen und Juden am 7. Oktober in einer Realität auf, in der nicht nur die Idee Israel wankt. Jüdische Restaurants, jüdische Friedhöfe und jüdische Gemeinden werden angegriffen. Antizionismus, „Israelkritik“ und Judenhass vermengen sich über Nacht so sehr, dass sie sich nur noch unter Verdrängung voneinander trennen lassen.
Fronten und Fake News
Verdrängen lässt sich allerdings auch nicht, was der israelische Verteidigungsminister als Vergeltung für den Angriff der Hamas ankündigt: „Wir kämpfen gegen menschliche Tiere“, sagt Joav Galant am 9. Oktober. Kurzerhand gibt er den Befehl, dem gesamten Gazastreifen Strom, Treibstoff und Nahrungsmittel zu entziehen. Millionen von Palästinenser*innen werden angewiesen, den Norden Gazas Richtung Süden zu verlassen. Für viele ist es kein Wendepunkt, sondern Kontinuität.
Den Vorwurf der Vertreibung und des Völkermords äußern erst wenige, dann viele. Dann Prominente: Die Klimaaktivistin Greta Thunberg mobilisiert noch im Oktober für einen „Generalstreik“ gegen den „Genozid“. Mit geschätzt 100.000 bis 300.000 Teilnehmer*innen findet am 4. November die bislang größte propalästinensische Demonstration in der US-Geschichte statt. Ähnlich große Demos gibt es in London, Paris und Istanbul. Die Ermordeten und Verschleppten auf israelischer Seite kommen in den Protesten, wenn überhaupt, nur am Rande vor.
Parallel werden Plakate, die nach israelischen Geiseln fahnden, als „zionistische Propaganda“ bezeichnet und abgerissen. Gruppen wie „Palestinians and Jews for Peace“, die für Opfer auf beiden Seiten einstehen, bleiben eine Seltenheit.
Was Propaganda ist und was nicht, ist bald darauf tatsächlich schwieriger zu unterscheiden. Eine Rakete, die vor dem Al-Ahli-al-Arabi-Krankenhaus in Gaza einschlug und zahlreiche Zivilist*innen tötete, wurde laut Einschätzung von Human Rights Watch wohl von palästinensischer Seite abgefeuert. Da hatten der ehemalige britische Labour-Chef Jeremy Corbyn oder der deutsch-israelische Linken-Politiker Jules El-Khatib bereits behauptet, es handele sich um einen israelischen Angriff. Die New York Times berichtigt einen falschen Report über den Vorfall und erklärt, sie habe zu sehr „auf Behauptungen der Hamas“ vertraut. Andere lassen die falsche Nachricht stehen.
Ein Mädchen wird zum Symbol
Dabei bietet das Vorgehen der israelischen Armee genug Anlass für Kritik. Januar 2024: Erste Hilfsorganisationen berichten von einer beginnenden Hungersnot in Gaza. Es gibt Videos von misshandelten palästinensischen Gefangenen. Journalist*innen sterben. Ärzt*innen sterben. Vorwürfe der Kriegsverbrechen gegen die israelische Regierung mehren sich. Die streitet stets ab, lenkt die Aufmerksamkeit lieber auf angebliche Hamas-Strukturen im Palästina-Hilfswerk UNRWA.
Auch mit einem Vorfall um ein sechsjähriges Mädchen, der Schlagzeilen macht, will die Armee nichts zu tun gehabt haben. Hind Rajab ist mit ihrer Tante, ihrem Onkel und vier Cousins auf der Flucht aus Gaza-Stadt, als Schüsse aus einem israelischen Panzer das Auto treffen. Rajab überlebt allein, ihre Cousine konnte zuvor noch den Notruf wählen. Drei Stunden lang kommuniziert die Sechsjährige mit einem Rettungsdienst, bittet um Hilfe, dann bricht das Telefonat ab. Recherchen der Washington Post ergeben, dass Hind Rajab, ihre Familie sowie ein zur Hilfe eilendes Rettungsteam bewusst vom israelischen Militär getötet wurden.
Gleichzeitig erreicht den Internationalen Gerichtshof eine Klage von Südafrika: Israel begehe Völkermord. Wenngleich die damalige IGH-Vorsitzende später klarstellt, dass sie nie von der Plausibilität des Vorwurfs sprach, ist die Verhandlung ebenso präzedenzlos wie ihre Basis: Über 20.000 Palästinenser*innen, überwiegend Kinder, sind nach Angaben des Hamas-geführten Gesundheitsministeriums bis Januar 2024 getötet worden. Parallel eskaliert die Siedlergewalt im Westjordanland.
Der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag beantragt später Haftbefehle gegen drei Hamas-Führer und Israels Regierungschef Netanjahu sowie Verteidigungsminister Joav Galant wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Eine Entscheidung der Vorverfahrenskammer steht noch aus.
Verbot und Repression
Anfang 2024 wollen Protestierende an der New Yorker Columbia-Universität ein Gebäude zu Ehren der getöteten Hind Rajab zur „Hind’s Hall“ umbenennen. Weltweit entstehen an Unis Palästina-Protestcamps. Manche verlaufen friedlich, auf anderen werden Hamas und Hisbollah verherrlicht oder jüdische Studierende ausgegrenzt. Viele Camps löst die Polizei gewaltsam auf.
In Berlin wird der jüdische Student Lahav Shapira zusammengeschlagen. Jüdinnen und Juden, die ihre Religion offen zeigen, oder Israelis, die laut Hebräisch sprechen, fühlen sich bedroht. Um über 80 Prozent sind die antisemitischen Vorfälle im Jahr 2023 laut dem Informationsdienst RIAS gestiegen. Neben Angriffen von rechts zählen zu dieser Statistik vermehrt Fälle aus dem „Bereich des antiisraelischen Aktivismus“.
Dagegen setzen Behörden auf Repression. Ein Palästina-Kongress wird im April in Berlin aufgelöst. Die Bundesregierung verhängt Einreise- und „politische Betätigungsverbote“, auch gegen den griechischen Ex-Finanzminister Yanis Varoufakis.
Ende eines Selbstbildes
Szenen von Polizeigewalt gegen Palästinenser*innen, aber auch antizionistische Jüdinnen und Juden nähren international das Image Deutschlands als staatsräsonierendem „Unterstützer des Genozids“. Nicht immer lässt sich im Nachhinein gut nachvollziehen, was bei Protesten vorgefallen ist.
Ein Eindruck bleibt: Palästinenser*innen und deren Kinder in Deutschland werden sich erinnern, dass ihre Proteste gegen einen brutalen Krieg niedergeknüppelt oder verboten wurden. Sie werden anders auf Deutschland blicken als noch vor dem 7. Oktober – ganz ähnlich wie Jüdinnen und Juden, die hier nicht sagen sollen, was in Israel selbst kein Verbrechen ist.
Deutschland, der geläuterte Erinnerungsweltmeister; Israel, der sichere Hafen für Jüdinnen und Juden – diese Erzählungen gehören für viele in eine andere Welt. Es ist die gleiche Welt, in der 116 noch vermisste Geiseln einen Sabbat erleben, in der 40.000 Palästinenser*innen noch am Leben sind.
In dieser Welt ist Moshe Ridler nicht nur den Nazis, sondern auch der Hamas entkommen – und Hind Rajab ein Mädchen, das einen Geburtstag feiert. Es ist eine Welt, in der die Bewohner des Kibbuz Cholit mit ihren palästinensischen Nachbarn leben und arbeiten, in der noch Universitäten in Gaza stehen.
Seit dem 7. Oktober 2023 gibt es diese Welt nicht mehr.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
MLPD droht Nichtzulassung zur Wahl
Scheitert der „echte Sozialismus“ am Parteiengesetz?
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Prozess zu Polizeigewalt in Dortmund
Freisprüche für die Polizei im Fall Mouhamed Dramé
Proteste in Georgien
Wir brauchen keine Ratschläge aus dem Westen
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Förderung von E-Mobilität
Habeck plant Hilfspaket mit 1.000 Euro Ladestromguthaben