Janine Wissler über die Krise der Linken: „Keine fünfte Kolonne Putins“

Die Chefin der Linkspartei spricht über das Ringen um die richtige Haltung zum Ukrainekrieg. Außerdem äußert sie sich zu MeToo-Vorwürfen in den eigenen Reihen.

Janine Wissler vor blauer Leinwand

„Ich bin harte politische Auseinandersetzungen gewohnt“, sagt Janine Wissler Foto: Chris Emil Janssen/imago

taz: Acht Mal in Folge hat die Linkspartei nun bei Wahlen verloren. In Schleswig-Holstein landete sie unter und jetzt in NRW nur knapp über 2 Prozent. Halten Sie den Weg zur Splitterpartei noch für aufhaltbar?

Janine Wissler: Ja.

Warum?

Vollkommen klar, dass das ganz bittere Wahlniederlagen gewesen sind. Aber die Linke hat immer noch ein Fundament. Es gibt vielerorts aktive Kreisverbände mit einer kommunalpolitischen Verankerung, die Linke ist in neun Landtagen vertreten, an vier Landesregierungen beteiligt und in Thüringen sind wir nach wie vor stärkste Kraft.

Deswegen glaube ich, dass wir aus dieser schwierigen Situation wieder rauskommen können. Wir haben es selbst in der Hand. Wir müssen endlich die Themen, die uns ausmachen, wieder nach vorne stellen und mehr mit einer Stimme sprechen. Schauen Sie sich an, was Menschen unter dem Hashtag #IchBinArmutsbetroffen berichten, darüber wie Armut in diesem reichen Land aussieht. Den Bedarf nach einer linken Partei gibt es. Ich höre immer wieder: Ich will euch ja wählen, macht es mir doch nicht so schwer.

In allen zentralen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen scheint der Linkspartei nicht mehr die Vermittlung zu gelingen, wofür sie eigentlich steht – egal ob es um Migration, die Klimapolitik, Minderheitsschutzrechte, Corona oder nun den Ukrainekrieg geht. Was bleibt da noch?

Wir müssen die Gemeinsamkeiten wieder in den Blick nehmen und nach vorne stellen. Wenn wir sich widersprechende Botschaften nach außen geben, dann wissen die Leute irgendwann nicht mehr, für was wir stehen. Wenn man zehn Sekunden Zeit hat, etwas über die Linke in eine Fernsehkamera zu sagen, dann sollte man nicht die eigene Partei kritisieren, sondern darüber sprechen, für was wir inhaltlich stehen und was wir erreichen wollen. Ich möchte, dass die Mitglieder wieder stolz sein können auf ihre Partei und ihre Abgeordneten.

Seit Jahren wird das öffentliche Bild der Linkspartei geprägt von dem Konflikt mit Sahra Wagenknecht und ihrem Anhang. Ihre Medienpräsenz nutzend hat sie es geschafft, den Eindruck zu vermitteln, die Linkspartei werde von einem Haufen Lifestyle-Linker dominiert, der sich nicht mehr für die Sorgen und Nöte von Werktätigen und sozial benachteiligten Menschen interessiere.

Soziale Gerechtigkeit ist unser absolutes Schwerpunktthema. Das ist offenkundig, wenn man sich unsere Initiativen in den Parlamenten, unsere Homepage oder Presseerklärungen ansieht. Der Kampf um soziale Gerechtigkeit und gegen alle Formen von Diskriminierung gehört zusammen. Ich kann diese ganze Debatte um angebliche Lifestyle-Linke in der Linken nicht nachvollziehen. Ich wünsche mir von jedem Abgeordneten und jeder Abgeordneten, dass sie den politischen Gegner ins Visier nehmen und sich nicht an der eigenen Partei abarbeiten.

Woher kommt die Mutlosigkeit, den Konflikt mit Wagenknecht & Co. nicht klären zu wollen, obwohl der Bruch nicht zu kitten ist und die Linkspartei zerreibt?

Für uns stehen einige inhaltliche Klärungsprozesse an, wie zur Frage der sozial-ökologischen Transformation und dem nachhaltigen Umbau der Industrie. Wir müssen als konsequente Friedenspartei wahrgenommen werden und auf dem Parteitag im Juni unzweideutig klarstellen: Wer einen verbrecherischen Angriffskrieg führt, den kritisieren wir aufs Schärfste. Da machen wir auch keinen Unterschied, wer ihn führt.

So wie wir stets völkerrechtswidrige Kriege der USA abgelehnt haben, verurteilen wir jetzt in Wort und Tat genauso, dass Russland die Ukraine überfallen hat. Menschenrechte gelten für alle: für die Häftlinge in Guantanamo wie für chinesische Gewerkschafter oder russische Oppositionelle, die drangsaliert werden. Wir messen nicht mit zweierlei Maß. Daran dürfen wir keinen Zweifel lassen.

Trotzdem wird die Linkspartei von manchen als fünfte Kolonne Putins wahrgenommen.

Eine fünfte Kolonne Putins waren und sind wir in keiner Weise. Niemand in der Linken heißt diesen Krieg gut oder stellt sich an die Seite der russischen Regierung. Selbstkritisch muss man feststellen: Schon vor dem Angriff auf die Ukraine gab es die brutalen Kriege Russlands in Tschetschenien, in Georgien, in Syrien, die Unterstützung der Diktaturen in Belarus und Kasachstan, das Verbot von Memorial und die Unterdrückung der Opposition. Da hätte unsere Kritik lauter sein müssen.

Laut ihrem Grundsatzprogramm will die Linkspartei die Nato auflösen und ein kollektives Sicherheitssystem unter Einbeziehung Russlands. Ist das noch zeitgemäß?

Dieser Krieg hat natürlich die gesamte Sicherheitssituation in Europa völlig verändert. Das ändert aber nichts daran, dass die Angriffskriege der Nato, etwa im Kosovo oder von Nato-Mitgliedsstaaten im Irak, falsch waren und es nach Ende der Blockkonfrontation eine gemeinsame Friedensordnung mit dem Ziel der Abrüstung und Nichtangriffsfähigkeit gebraucht hätte, statt einer Ausweitung des Militärbündnisses Nato. Eine weltweite Friedensordnung und Abrüstung bleiben notwendig. Aber das ist derzeit leider in weite Ferne gerückt.

Im Leitantrag für den Parteitag heißt es, die Linkspartei nehme keine Verletzungen des Völkerrechts hin und stünde an der Seite der Menschen, die sich gegen Diktaturen einsetzen. Wie passt das mit der Ablehnung von Waffenlieferungen an die Ukraine zusammen?

Russland führt in der Ukraine einen verbrecherischen Angriffskrieg. Unsere Solidarität gilt den Menschen in der Ukraine, die um ihr Leben fürchten, die in die Flucht getrieben werden. Ich kann die Befürwortung von Waffenlieferungen emotional nachvollziehen, aber ich unterstütze diese Forderung nicht.

Meine Befürchtung ist, dass das letztlich zu mehr Opfern und einer weiteren Eskalation führen wird. Schon jetzt greifen russische Spezialeinheiten Waffentransporte an und bombardieren Bahnlinien. Das kann den Krieg weiter nach Westen verlagern, dorthin wo hunderttausende Geflüchtete sind, und die humanitäre Versorgung gefährden. Eine weitere Eskalation muss verhindert werden, die droht, wenn Deutschland und andere Nato-Staaten die ukrainische Armee an schwerem Gerät ausbilden und damit selbst Konfliktpartei werden.

Dann liegen also Bodo Ramelow und Gregor Gysi – mit der Einschränkung, die Waffen sollten aufgrund der deutschen Geschichte aus anderen Ländern kommen – falsch, die sich beide für Waffenlieferungen an die Ukraine aussprechen?

Ich habe gesagt, was die Position der Linken dazu ist – und ich habe es auch nicht so verstanden, dass die beiden für die Lieferung von schweren Waffen sind.

In Umfragen zeigen sich mehr als 40 Prozent der Bevölkerung ablehnend gegenüber der Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine. Wieso landen die nicht bei der Linkspartei?

Wir haben bei vielen unserer inhaltlichen Positionen eine deutlich größere Zustimmung als die Partei bei Wahlen an Stimmen bekommt. Das gilt für die Steuerpolitik, die Rente, die Bürgerversicherung und auch für das 100 Milliarden schwere „Sondervermögen“ für die Bundeswehr, das von sehr vielen Menschen skeptisch gesehen wird, aber im Bundestag nur von uns abgelehnt wird. Dass uns nicht alle diese Menschen ihre Stimme geben wollen, liegt auch an uns selbst, an unserem Auftreten.

Während Russland Krieg in der Ukraine führt, findet an diesem Samstag in Berlin ein Kongress unter dem Titel „Ohne Nato leben – Ideen zum Frieden“ statt, zu dem auch Bundestagsabgeordnete der Linkspartei aufrufen. Ist das nicht eine etwas merkwürdige Prioritätensetzung?

Ich kenne den Aufruf im Wortlaut nicht. Das ist eine Konferenz, die nicht von der Partei Die Linke veranstaltet wird, weder inhaltlich noch organisatorisch. Grundsätzlich gilt: Wer heute eine Konferenz für Frieden veranstaltet, muss sehr deutliche Worte zur Aggression Russlands finden. Putin spricht davon, dass die Staatlichkeit der Ukraine ein Fehler der russischen Revolution war und er diesen „Fehler“ korrigieren will. Das ist imperialistisches Großmachtstreben, das wir als Linke ablehnen.

Das heißt nicht, dass man die Nato nicht mehr scharf kritisieren sollte, aber es gibt keinerlei Rechtfertigung und Entschuldigung für diesen Angriffskrieg.

Es scheint so, dass die Linkspartei derzeit mit zu vielen Krisen zu kämpfen hat. Jetzt wird sie auch noch von #LinkeMeToo erschüttert. Hat die Linkspartei ein Sexismus-Problem?

Sexismus ist ein gesamtgesellschaftliches Problem und natürlich gibt es das auch in der Linken. Gerade wir als linke Partei müssen aber einen besonders hohen Anspruch an uns selbst haben. Wir müssen alles dafür tun, um in der Partei ein Klima zu schaffen, in dem Frauen nicht sexistischen Sprüchen oder gar Übergriffen ausgesetzt sind. Deswegen haben wir inzwischen eine externe Ex­per­tin­nen­kom­mis­si­on eingesetzt, mit einer erfahrenen Rechtsanwältin und einer erfahrenen Psychologin, die beide seit vielen Jahren mit Betroffenen von sexualisierter Gewalt arbeiten.

Haben Sie das Problem unterschätzt?

Es war ein Fehler, dass wir das nicht schon früher gemacht haben. Ich ermuntere alle Betroffenen ausdrücklich, sich an diese Kommission zu wenden, damit man solche Fälle aufarbeiten kann.

Bei #LinkeMeToo stehen auch Sie persönlich in der Schusslinie. Ihnen wird vorgeworfen, 2018 die Hilferufe einer jungen Frau nicht gehört zu haben, der Ihr damaliger Lebensgefährte nachgestiegen ist.

Ich habe eine ausführliche persönliche Stellungnahme dazu abgegeben.

Fällt es Ihnen schwer, darüber zu sprechen?

Es geht hier um mein Privatleben, eine persönliche Verletzung, und mir wird etwas unterstellt, was ich nicht getan habe.

Wie war es denn tatsächlich?

Im Mai 2018 teilte mir eine Frau mit, dass sie eine Affäre mit meinem damaligen Lebensgefährten hatte. Nicht nur aufgrund des großen Altersunterschieds fand ich das äußerst befremdlich. Zum Zeitpunkt, als ich davon erfuhr, war sie volljährig. Im August 2018 hat sie mir dann mitgeteilt, dass dieses Verhältnis entgegen anderslautender Versicherungen meines damaligen Partners fortbesteht.

Sie können sich vorstellen, dass mich das zutiefst verletzt hat. Ich habe die Frau daraufhin angerufen. Der Vorwurf der sexuellen Belästigung wurde mir gegenüber nicht geäußert. Nach dem Ende meiner Beziehung sind die beiden weiterhin zusammen gewesen, offenbar noch weit ins Jahr 2019 hinein. Und ich habe seit September 2018 nie wieder etwas von der Frau gehört – bis Ende letzten Jahres.

Das ist die Geschichte?

Ja. Die Frau hat mir damals noch geschrieben, dass ihr das alles leid tue. Aus allen Wolken bin ich gefallen, als sie über drei Jahre später den Vorwurf erhoben hat, es sei zu sexuellen Übergriffen gekommen und ich würde meinen Ex-Partner schützen. Ich weiß nicht, was in dieser Beziehung geschehen ist, die ja offenbar fast zwei Jahre lang dauerte. Aber nach allem, was passiert ist, hatte und habe ich keinen Anlass, ihn zu schützen. Als ich Ende letzten Jahres von den Vorwürfen erfahren habe, habe ich umgehend die zuständigen Parteigremien informiert.

Trotzdem erhebt die junge Frau die Vorwürfe gegen Sie.

Ich verstehe das nicht.

Sie haben stets versucht, Ihr Privatleben aus der Öffentlichkeit fernzuhalten. Jetzt wird darüber groß und breit diskutiert. Wie schmerzhaft ist das für Sie?

Natürlich ist das schmerzhaft. Und ich bin ja harte politische Auseinandersetzungen gewohnt, unter anderem mit der Hessen-CDU. Als ich 2008 das erste Mal in den hessischen Landtag gewählt wurde, war mir klar, dass ich eine große Verantwortung habe.

Mir war bewusst, dass jedes persönliche Fehlverhalten einer Fünfprozentpartei das Genick brechen kann. Entsprechend habe ich immer sehr darauf geachtet, mir nichts zuschulden kommen zu lassen und keine Fehler zu machen. Ich habe jede Fahrtkostenabrechnung eigenhändig gemacht, damit da bloß nichts schief geht. Jetzt werde ich für etwas verantwortlich gemacht, was hinter meinem Rücken passiert ist.

Der Druck auf Sie ist groß. Werden Sie auf dem Parteitag im Juni erneut für den Parteivorsitz kandidieren?

Wenn man Parteivorsitzende ist, ist der Druck grundsätzlich immer groß. Die letzten Monate waren da sicher besonders hart. Aber Sie sehen ja, ich bin da. Auch wenn das Wort vielleicht etwas pathetisch klingt: Ich empfinde es als Ehre, als Vorsitzende der Linken gewählt worden zu sein. Und ich will alles dafür tun, dass unsere Partei wieder auf die Beine kommt. Ich will, dass die Mitglieder wieder stolz auf ihre Partei sein können, wenn sie morgens in die Zeitung schauen.

Das heißt, Sie kandidieren erneut?

Da gibt es im Moment noch nichts zu verkünden. Ich führe viele Gespräche. Wichtig ist, dass ein gutes Team zustande kommt. Das brauchen wir jetzt.

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