Hofreiter über Scholz’ Ukraine-Politik: „Eine schwere Fehleinschätzung“
Grünen-Militärexperte Anton Hofreiter kritisiert, Olaf Scholz sei zu nachsichtig gegenüber Russland. Deutschland müsse der Ukraine das Taurus-System liefern.
taz: Herr Hofreiter, wie steht es um die Ukraine?
Anton Hofreiter: Die letzten Tage waren sehr schwierig für Europa und die Ukraine. Der deutsche Kanzler und der französische Präsident sind weit auseinandergefallen. Olaf Scholz hat ohne jede Not mit einer sehr schwierigen Begründung die Lieferung der Marschflugkörper Taurus abgesagt und Emmanuel Macron hat ohne jede Not und ohne jeden Sinn die Entsendung von Bodentruppen ins Spiel gebracht. Damit verunsichert er die Bevölkerung: Bodentruppen stehen nicht zur Debatte. Putin dürfte sich sehr gefreut haben.
Anton Hofreiter, geboren 1970, gehört seit 2005 dem Bundestag an und zwischen 2013 und 2021 war er mit Katrin Göring-Eckardt Vorsitzender der grünen Fraktion. Er ist promovierter Biologe.
Was ist so schwierig an der Argumentation des Kanzlers?
Sie signalisiert: Wir haben Angst vor Putin. Ein Diktator wie Putin sieht Schwäche und nutzt sie aus. Wenn man erreichen will, dass er den Krieg möglichst schnell beendet und nicht weiter aggressiv vorgeht, muss man Stärke signalisieren. Putin wird erst dann bereit sein, ernsthaft über Frieden zu verhandeln, wenn er zu der Überzeugung kommt, dass er seine Ziele auf dem militärischen Weg nicht erreicht.
Spricht aus Scholz’ Argumentation nicht gesunde Vorsicht? Was ist, wenn es doch eine rote Linie für Putin gibt, ab der er zurückschlagen würde?
Auch ich habe Sorge vor einer Ausweitung des Krieges. Entscheidend ist, dass wir diese Ausweitung verhindern. Die Argumentation mit der roten Linie hat sich bislang als falsch erwiesen und signalisiert Erpressbarkeit. Das ermutigt den Aggressor. Wenn man es hart ausdrücken will, ist es klassische Appeasementpolitik. Die funktioniert gegenüber Diktatoren nicht.
Warum agiert der Kanzler so?
Zum Teil aus falsch verstandener Tradition der wirklich erfolgreichen Ostpolitik von Willy Brandt. Scholz glaubt wohl, dass man mit Putin durch eine gewisse Nachgiebigkeit verhandeln kann. Das ist eine schwere Fehleinschätzung. Er will als vorsichtiger Kanzler dastehen, dabei sorgt er dafür, dass dieser Krieg länger dauert. Und er ermuntert Putin, weitere Länder anzugreifen.
Er trifft mit seiner Vorsicht den Willen der Bevölkerung, weit mehr als Sie.
Ich verstehe, wenn sich Menschen Sorgen machen. Wir haben den größten kriegerischen Konflikt in Europa seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Aber wenn mit falschen Behauptungen Angst geschürt wird, braucht man sich über die Stimmung in der Bevölkerung nicht zu wundern. Angesichts dessen bin ich ehrlicherweise manchmal erstaunt, wie stark die Unterstützung im Land für die Ukraine noch ist.
Was genau ist faktisch an der Begründung des Kanzlers falsch?
Man muss die ukrainischen Soldaten am Taurus ausbilden, aber deutsche Soldaten müssen dafür nicht in die Ukraine. Südkorea hat 260 von diesen Marschflugkörpern und dort wartet man nicht darauf, dass sie im Ernstfall von deutschen Soldaten bedient werden. An den Leopard II-Panzern wurden die Ukrainer auch in Deutschland ausgebildet.
Ist das Thema Taurus-Lieferung nach dieser Aussage des Kanzlers durch?
In meinen Augen nicht. Die größten Sorgen bereitet mir aber Scholz’ Begründung für die Nichtlieferung. Die Gefahr ist, dass Putin sich dadurch ermuntert fühlt. Scholz’ Aussagen sind ein Sicherheitsrisiko.
Wenn das so ist, ist er als Kanzler für Sie noch tragbar?
Wir müssen dringend diese Politik verändern. Vergangene Woche hat der Bundestag mit einer Mehrheit beschlossen, die Ukraine ausreichend zu unterstützen, damit sie diesen Krieg gewinnen kann. Ich erwarte vom Kanzler, dass er das jetzt umsetzt.
Sind die Grünen gegenüber dem Kanzler nicht durchsetzungsfähig genug?
Ich glaube, dass die Grünen, die FDP und auch die Union in dieser Frage durchsetzungsfähiger werden müssen, weil wir alle ein hohes Interesse daran haben, dass die Ukraine den Krieg gewinnt.
Wie groß ist dafür die Bedeutung des Taurus? Wird er nicht überbewertet?
Wird er. Es kommt aufs Gesamtpaket an. Wir müssen dringend mehr Geld in die Friedensfazilität der EU geben, aus der das ukrainische Militär unterstützt wird. Wir brauchen eine funktionierende Struktur zum Einkauf von Rüstungsgütern und müssen Garantien an die Rüstungsindustrie geben, damit die Produktion hochgefahren wird. Wir brauchen mehr Munition, mehr Flugabwehr und wir müssen die Bundeswehr besser ausstatten, bis wir wirklich konventionell abschreckungsfähig sind.
Russland hat drei Kriegsziele. Das erste ist die Wiedererrichtung des russischen Imperiums, das zweite die Zerstörung der demokratischen Ukraine. Und das Dritte, das eigentlich das zentrale ist und bei uns zu wenig wahrgenommen wird, ist die Zerstörung der regelgebundenen internationalen Ordnung. Dazu muss Putin die Nato und die Europäische Union spalten. Deswegen ist dieses Signalisieren von Schwäche so problematisch.
Und wie wollen Sie all das, was Sie gerade aufgezählt haben, bezahlen? Das Geld ist nicht da.
Doch, das ist da. Die Bundesrepublik Deutschland ist das am niedrigsten verschuldete große Industrieland. Wir sind die drittgrößte Industrienation der Welt, die ökonomisch zweitmächtigste Demokratie der Welt. Die Kosten des Nicht-Handelns, die uns im Falle einer Ausweitung des Krieges drohen, sind viel höher als die Summe, die wir jetzt investieren müssen. Deshalb müssen wir dringend die Schuldenbremse aufheben. Sie ist eine Gefahr für die nationale und europäische Sicherheit.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Anschlag auf Magdeburger Weihnachtsmarkt
Vieles deutet auf radikal-islamfeindlichen Hintergrund hin
Keine Konsequenzen für Rechtsbruch
Vor dem Gesetz sind Vermieter gleicher
Wahlprogramm von CDU und CSU
Der Zeitgeist als Wählerklient
Russische Männer auf TikTok
Bloß nicht zum Vorbild nehmen
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“