Friedensappelle im Ukrainekrieg: Blinder Pazifismus
Sofortige Friedensverhandlungen? Die aktuellen Aufrufe dazu sind gut gemeint. Allerdings blenden sie die Realität aus: Putin ist nicht zu trauen.
T agelang blickte die Welt nach München: Viele erhofften sich von der Sicherheitskonferenz klare Botschaften, wie es nach einem Jahr Krieg in der Ukraine weitergehen wird. Wirklich überrascht hat schließlich US-Präsident Joe Biden mit seiner Reise nach Kyjiw. Bilder, die ihn zusammen mit Wolodimir Selenski zeigen, gingen um die Welt. Selbst als Alarm ertönte, blieben die beiden Staatschefs wie unberührt unter freiem Himmel.
Bidens Besuch in dem freiheitsliebenden Land, wie er sagte, stellte die Sicherheitskonferenz weitgehend in den Schatten. Als ich anfing, diese Kolumne zu schreiben, hielt Russlands Präsident Wladimir Putin eine Rede zur Lage der Nation. Wenige Stunden später sollte Biden seine Rede an die Nation halten, und natürlich erinnert das an Zeiten des Kalten Krieges, natürlich liegt es nahe, dass Putin versuchen wird, Bidens Besuch als Zeichen zu deuten, der Westen führe einen Krieg gegen Russland – die Frage ist nur, wie sehr man sich von Putin beeindrucken lassen möchte.
Er hat in seiner Rede gelogen und behauptet, der Westen habe „den Krieg losgetreten“, und Russland führe „keinen Krieg gegen das ukrainische Volk“. Die Münchner Sicherheitskonferenz vor einem Jahr hat diese Militäroperation nicht zum zentralen Thema gemacht. Das Ende der Konferenz war am 20. Februar 2022. Vier Tage später überfiel Russland die Ukraine.
Man kann davon ausgehen, dass bis zu vier Tage vor Beginn des militärischen Überfalls weite Teile des Westens Putins Zerstörungsgewalt unterschätzt haben. Sie haben selbst angesichts des historischen Militäraufgebots die Gefahr verdrängt und den Aggressor verharmlost. Hätte man die Ukraine bereits während des wochenlangen Aufmarschs der russischen Armee unterstützt, wäre die Botschaft an Russland vielleicht eine andere gewesen, abschreckend.
ist Schriftstellerin, Dramatikerin und Kolumnistin. Sie lebt in Heidelberg und ist Mitglied des PEN-Zentrums. Ihr letztes Buch, „Sheroes. Neue Held*innen braucht das Land“, erschien 2019.
Drohungen vom Westen brauchte es nicht
Ähnlich äußerte sich auch die finnische Staatschefin Sanna Marin. Das Wegsehen und die Untätigkeit des Westens hat Putin weder sanft gestimmt noch dazu gebracht, von seinen strategischen Zielen abzulassen. Es brauchte keine Drohgebärden. Russland begann seinen Angriffskrieg ganz ohne – das sollte man in Erinnerung rufen, wenn Putin nun wieder behauptet, der Westen habe den Krieg begonnen.
Putin mag auf diplomatische Entwicklungen mit Krieg reagiert haben, doch in welcher Welt leben wir, wenn es als legitim erachtet wird, die Selbstbestimmung des ukrainischen Volkes einzuschränken? Letzte Woche wurden in Deutschland wieder prominentere Stimmen laut, die forderten, man müsse jetzt über Frieden verhandeln. Die meisten Namen sind hinlänglich bekannt, ein neuer Einwurf kam von Jürgen Habermas.
Viele, die jetzt für einen Verhandlungsfrieden argumentieren, klammern aus, wie vieles von dem, was sie heute als Verhandlungsoption präsentieren, Russland bereits 2014 zugesichert und der Ukraine abgesprochen wurde. Welches Interesse sollte Russland haben, sich nach einem Jahr Kriegsführung mit dem Status quo von vor Kriegsbeginn zufriedenzugeben?
Wer also fordert, man müsse jetzt mit Russland verhandeln, sollte auch erklären, ob er Russland noch mehr zugestehen möchte. Und wäre damit ein dauerhafter Frieden gewährleistet? Wohl kaum. Was, wenn gerade das Verhandeln und Nachgeben die Gewaltspirale nach oben treibt? Nehmen Menschen, die für Verhandlungen – meist zu Ungunsten der Ukraine – argumentieren, so etwas wie die neusten Meldungen wahr.
Brachiale Debatte
Wie ein Investigativkollektiv anhand von Dokumenten nachwies, die aus der Moskauer Präsidialversammlung geleakt wurden, plant Russland auch die Übernahme von Belarus bis zum Jahr 2030. Worauf stützen sich die, die jetzt Verhandlungen fordern, wenn sie in Putin einen verlässlichen Verhandlungspartner sehen? Wenn man die Diskurse des letzten Jahres betrachtet, so entspricht der Vorwurf, man könne in der deutschen Öffentlichkeit nicht gegen die Unterstützung für die Ukraine sprechen, ohne geächtet zu werden, nicht den Tatsachen.
Sicher, es wird manchmal brachial, doch die Verrohung des Diskurses lässt sich bei allen Themen feststellen. Selbst wer über stillgelegte Straßen in Berlin-Mitte schreibt, wird heute angeprangert. Merkwürdigerweise reagieren ausgerechnet jene, die von den Ukrainern fordern, diesen Krieg zu beenden, besonders empfindlich auf Widerspruch. Ihre Opferrolle setzt leider oft genau dann ein, wenn es um die konkrete Entwicklung eines Szenarios geht, wie der Verhandlungsfrieden herbeigeführt werden könnte.
Vielen fehlt die Auseinandersetzung mit der Realität, die Russland seit einem Jahr gewaltvoll zu verändern versucht. Soll man um des Friedens Willen wirklich auf jede Forderung Russlands eingehen? Was ist mit dem Größenwahn Putins? Hier die Unterschätzung des russischen Staatschefs – es reicht ein Friedensangebot für den Frieden –, dort die paralysierende Überhöhung der Gefahr durch ihn: Am Ende führt er uns in den dritten Weltkrieg oder drückt den Atomknopf.
Wer in diesem Krieg nicht zweifellos deutlich macht, wer der Kriegstreiber ist, nämlich Russland, spielt Putins strategischen Zielen in die Hände. Niemand hat etwas gegen einen breiten Diskurs über Krieg und Frieden, doch muss es möglich sein, Diskursbeiträge, die Putins psychologischer Kriegsführung in die Hände spielen, als solche zu benennen.
Natürlich gab es im letzten Jahr auch Phasen, in denen die USA zögerte, und es wird wieder ungeklärte Fragen darüber geben, wie die Unterstützung konkret aussehen sollte. Die Ukraine-Reise des US-Präsidenten ist jedoch das klare Bekenntnis dazu, dass man nicht neutral sein wird, während Russland versucht, sich über geltendes Völkerrecht hinwegzusetzen. Vielleicht sind Zweifel über den konkreten Weg der Hilfe leichter zu ertragen, wenn die symbolischen Botschaften so eindeutig sind.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert