Verstörender Bellizismus: Fankurve des Krieges

Ja, Krieg ist manchmal gerechtfertigt. Aber der Frieden sollte nicht verächtlich gemacht werden, nur weil er faule Kompromisse verlangt.

Euin Baum wächst in einer russischen Rakete, Strassenszen in Lviv

Kunst aus Raketenteilen: Strassenszene in Lviv, Ukraine, im März 2023 Foto: Olena Znak/AA/picture alliance

Die Welt steht an allen Ecken in Flammen, und der Krieg kommt gefühlt und real näher. Ich muss gestehen – und bin nicht der Erste, der das bemerkt –, wie bitter ich die Gefühlskälte vieler Zeitgenossen empfinde. 1.400 bestialisch Ermordete, in einem Blutrausch gemeuchelte Frauen, Kinder, Männer, Alte, Partyteens; ein Massaker, das in seiner Perfidie und Mordlust seinesgleichen sucht, und so viele hohle, schale Worte.

Ob das Gemetzel sich jeder „Kontextualisierung“ entzieht oder nicht, ist erst einmal eine nebensächliche Angelegenheit. Man kann ja über Kontexte – welchen immer – grübeln, aber bitte doch nicht mit dieser Gefühlskälte. Durchaus fragwürdig sind gewiss jene, die rausbrüllten, es verbiete sich jedes „aber“, denn wenn man über ein Geschehnis nachdenken will, wird man niemals ohne „aber“ auskommen. Deswegen hat Navid Kermani richtig formuliert, nicht das „aber“ sei das Problem, sondern das, was vor dem Wort kommt. Nicht das „aber“ ist das Problem, sondern die Kälte, die dem vorangeht.

Kaum weniger verstört mich die Kriegsgeilheit so vieler, die herausposaunen, dass die Tat der Hamas und der Menschenhass der islamistischen Todessekte jede Form des militärischen Gegenschlags rechtfertige. Da entlarven sich plötzlich Leute um mich, die ungeschminkt bekunden, beim Selbstverteidigungsrecht Israels solle man jetzt bitte keinen Verzärteltheiten das Wort reden. Beim Erdbodengleichmachen Dresdens habe man doch auch keine Gedanken auf die Zivilbevölkerung verschwendet.

Wo das Gerechte gegen das Böse kämpft, da wollen wir doch keine Erbsenzähler sein, und irgendwie gebührt es ja wohl den meisten, die es erwischt, genau kann man das nicht wissen, so eine Bombe hat ja keine Augen. Plötzlich ertappt man sich beim Gedanken, so ein Massaker könnten auch die eigenen Freunde anrichten, wenn man ihnen nur ausreichend viele Argumente liefert, dass es schon die Richtigen treffe. Ich stelle mir ein paar liebe Kumpel als Killer vor, und es läuft mir kalt den Rücken hinab.

Wer Großziele für die ganze Menschheit verfolgt, neigt dazu, dem Einzelnen keine große Bedeutung zuzumessen

Die Reste meiner menschenfreundlichen Gutgläubigkeit verhelfen mir zu der Vermutung, dass sich die meisten am Leid der Anderen nicht wirklich erfreuen, sondern dass wir offenbar alle relativ gut darin sind, insbesondere das Leid der als „die Anderen“ markierten als etwas Abstraktes zu behandeln, sodass wir es ignorieren können.

Es gibt eine Kriegszugeneigtheit, die sich seit Jahren verbreitet. Durchaus begründbar übrigens: Das, was man in den neunziger Jahren „Menschenrechtsbellizismus“ nannte, ging etwa davon aus, dass Kriege das kleinere Übel sind, jedenfalls relativ zu Autokraten, die ihre eigene Bevölkerung massakrieren. Zugleich wurden Kriege als „führbar“ empfunden. Und bald als Lösung für jedes Problem.

Es ist kein Zufall, dass diese Jahre mit dem Moment zusammenfielen, als uns das Kriegsgeschehen in Form aseptischer Luftbilder präsentiert wurde, wo hübsche Bömbchen auf kleine Männchen abgeworfen wurden und alles so aussah wie im Computerspiel. Und sollte es traurigerweise unbeteiligte Pechvögel treffen, hatte man auch niedliche Begriffe parat: „Kollateralschäden“, was mehr nach Wasserrohrbruch als nach Massengrab klang.

Demokratie mit Marschflugkörpern?

Ich will das nicht denunzieren; die Interventio­nen in Bosnien (die das Dayton-Abkommen zur Folge hatten) und die im Kosovo waren sicherlich besser als die Nicht-Interventionen in Ruanda. Ich neige nur dazu, mir grübelnd die Frage zu stellen: Was handeln wir uns ein, was kriegen wir zum Richtigen dazu, was wir gar nicht haben wollten?

Kriege gegen Diktatoren wie Putin, gegen islamische und faschistische Todessekten, sie sind genauso richtige Kriege wie die Kriege der Alliierten gegen die Nazis oder von Befreiungsbewegungen gegen Soldateskas. Aber ein wenig geht verloren, dass sich das Gute, Demokratische, das Menschenfreundliche mit Kanonen und Marschflugkörpern meist schlecht verbreiten lässt und auf den Gräbern derer, die ihre Befreiung leider nicht überlebten, nicht immer Pflänzlein künftiger Zivilisiertheit spießen.

Wer Großziele für die ganze Menschheit verfolgt, neigt häufig dazu, dem einzelnen Menschen keine große Bedeutung zuzumessen. Auch Kriege für eine gerechte Sache verheeren Länder, zerstören Leben. „Frieden ist nicht alles, aber alles ist ohne Frieden nichts“, sagte Willy Brandt.

Wir sitzen (noch) auf der Zuschauertribüne (und manchmal in der Fankurve); Schlachtenbummler im Krieg gegen das Böse, und manchmal kommt mir der Verdacht, dass hier auch eine Art des geliehenen Heroismus hineinspielt. Man will in der postheroischen Gesellschaft ein paar Krümel Heldentum, stellt Unbedingtheit und Entschiedenheit aus. Solange das alles fern ist. Man wette besser nicht darauf, dass das so bleibt.

Den Krieg rehabilitiert

Der Firnis der Zivilisation ist dünn. Geraten Gesellschaften auf eine abschüssige Bahn, dann geht es schneller bergab, als man geglaubt hat. Sigmund Freud und Albert Einstein haben diese unerfreuliche Tatsache in ihrem legendären Briefwechsel „Warum Krieg?“ mit großer Ehrfurcht umkreist: dass moderne Kriege durch moderne Menschen „mindestens ebenso grausam, erbittert, schonungslos“ wie frühere geführt würden, angetrieben von „Hass und Abscheu“. Gelinge es in einer Massenpsychose, die eigene Sache als gerecht, die Gegenseite aber als irgendwie inhuman zu markieren, dann breche sich das „Hassen und Vernichten“ schnell Bahn.

Ich habe Sorgen. Wir haben Schritt für Schritt den Krieg rehabilitiert und den Frieden verächtlich zu machen gelernt, weil Letzterer so oft faule Kompromisse verlangt und die Grenze zwischen kluger Diplomatie und Appeasement auf keiner Landkarte exakt eingezeichnet ist. Ich habe viele kluge Meinungen gehört in den vergangenen Wochen und auch einige Phrasen und viele Slogans. Aber vielleicht, denke ich mir, hören wir eine zu selten: „Krieg dem Krieg.“

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Geboren 1966, lebt und arbeitet in Wien. Journalist, Sachbuchautor, Ausstellungskurator, Theatermacher, Universaldilettant. taz-Kolumnist am Wochenende ("Der rote Faden"), als loser Autor der taz schon irgendwie ein Urgestein. Schreibt seit 1992 immer wieder für das Blatt. Buchveröffentlichungen wie "Genial dagegen", "Marx für Eilige" usw. Jüngste Veröffentlichungen: "Liebe in Zeiten des Kapitalismus" (2018) und zuletzt "Herrschaft der Niedertracht" (2019). Österreichischer Staatspreis für Kulturpublizistik 2009, Preis der John Maynard Keynes Gesellschaft für Wirtschaftspublizistik 2019.

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