Luftballons, in der Form eines grünen Panzers zusammengebunden, mit der Aufschrift "No War"

Foto: Kai Pfaffenbach/reuters

Münchner Sicherheitskonferenz:Schlacht um Frieden

Auf der Sicherheitskonferenz diskutieren Politiker über Auswege aus dem Ukrainekrieg – ohne Vertreter Russlands. Das erhält auf Demos Schützenhilfe.

19.2.2023, 18:48  Uhr

Der Sound eines Herzschlags ist schon von Weitem zu hören. Im Stakkato, monoton, einprägend. Der Blick richtet sich dann auf zerbombte Häuser, Menschen, die aus dem Schutt gezogen werden, blutüberströmt. Unter einem Berg zerschossener Hausfassade ragen zwei Kinderbeinchen mit türkisfarbenen Turnschuhen an den Füßen hervor.

Die Collage ist Teil einer Ausstellung im Bayerischen Hof zu russischen Kriegsverbrechen. Genau dort, wo von Freitag bis Sonntag die Münchner Sicherheitskonferenz (MSC) tagte. Das Bild, das erzeugt werden soll, ist klar: Pulsierendes Leben wurde und wird barbarisch ausgelöscht. Von Putin, von der russischen Armee, in den vergangenen zwölf Monaten Krieg. Hunderte Kriegsverbrechen, die von den ukrainischen Strafverfolgungsbehörden untersucht und bestätigt wurden, wurden in der Ausstellung der Victor Pinchuk Foundation auf einer Landkarte dokumentiert. Die schwer erträglichen Fotos und Video zeigen die Gräueltaten.

„Wir wollen nicht schockieren, sondern die Realität abbilden“, sagt Ilona Demchenko, Leiterin der Ausstellung. In Davos beim Weltwirtschaftsforum wurde sie gezeigt, im EU-Parlament, in New York bei der UN-Vollversammlung. Überall dort, wo politische Ent­schei­de­r:in­nen zusammenkommen, sagt Demchenko. So auch bei der Münchner Sicherheitskonferenz. Am Sonntag verabschieden sich der amtierende Vorsitzende der Konferenz Christoph Heusgen und sein Vorgänger Wolfgang ­Ischinger persönlich von Demchenko und Oligarch und Stiftungsgründer Victor Pinchuk.

Starke emotionale Bilder, Werben um Solidarität, um Durchhaltevermögen, den langen Atem. Mit diesem Tenor eröffnete der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski am Freitagmittag die Münchner Sicherheitskonferenz. Eindringlich appellierte er von Kyjiw aus an die in der bayerischen Landeshauptstadt versammelten Staats- und Regierungschefs, die militärische Unterstützung für die Ukraine zu verstärken. „Goliath darf keine Chance haben“, sagte er. „Die Steinschleuder muss noch stärker werden, und zwar jetzt.“

„Bessere Steinschleuder“

Putins Russland ist der Goliath, die Ukraine David – so das biblische Bild, das sich durch die gesamte Rede Selenskis zog. Die Botschaft: „Wir müssen Goliath besiegen!“ Und er ist tatsächlich zuversichtlich: „Der russische Goliath hat bereits angefangen zu verlieren“ und werde „in jedem Fall in diesem Jahr fallen. Wir können es schaffen.“ Zu einem Sieg der Ukraine gebe es „keine Alternative“.

Ein Sieg, der für Selenski vor allem über starke militärische Unterstützung der Verbündeten funktioniert. Dass die Waffenwunschliste der Ukraine gar nicht oder nicht schnell erfüllt wird, wird in München mehr als deutlich. Für Kanzler Olaf Scholz gelten bei den Waffenlieferungen die Grundsätze „Sorgfalt vor Schnellschuss“ und „Zusammenhalt vor Solo-Vorstellung“. Außerdem sei die Unterstützung „so anzulegen, dass wir sie lange durchhalten“. Scholz räumte ein, dass der von den westlichen Staaten eingeschlagene Weg durch „unkartiertes Gelände“ führe. Scholz’ Äußerungen bewegten sich ganz auf der Linie des französischen Präsidenten Emmanuel Macron, der unmittelbar nach ihm auf der Siko sprach. „Die Frage ist, wie kann die Ukraine widerstehen?“ Auch Macron pocht auf eine dauerhafte Unterstützung. Wie auch der britische Premierminister Rishi Sunak forderte er, die Lieferung von Waffen zu intensivieren. Die ukrainischen Streitkräfte müssten in die Lage versetzt werden, in die Gegenoffensive zu kommen. Erst das eröffne die Möglichkeit für Verhandlungen – und zwar „zu Bedingungen, die die Ukraine auswählt“.

Von diesem Ansatz hält ein Großteil der De­mons­tran­t:in­nen am Samstag gar nichts. Auf dem Königsplatz dröhnen Cat Stevens’ „Peace Train“, Marius Müller-Westernhagens „Freiheit“ und Nenas „99 Luftballons“ aus den Boxen. Dazwischen wechselt sich eine Kuhglockenkapelle aus der Schweiz mit einer bayerischen Trommeltruppe ab. An einem Stand gibt es Warnwesten mit der Aufschrift „Nein zur Impfpflicht“ und „Nehmt die Masken ab!“-Aufkleber. Während im Bayerischen Hof US-Vizepräsidentin Kamala Harris Russland vorwirft, in der Ukraine „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ zu begehen, sammeln sich zeitgleich einen Fußweg von rund 15 Minuten entfernt „Friedensfreund:innen“ ganz eigener Provenienz: ein Bündnis von Gruppen aus der Coronaleugner:innen- und der sogenannten Querdenken-Szene, die für sich inzwischen den Ukrainekrieg zum neuen Aktionsfeld auserkoren haben.

„Ami go home“

Klassizistisch umrahmt von der Glyptothek im Norden und der Antikensammlung im Süden wehen Weiße-Taube-auf-blauem-Hintergrund-Friedens- neben Deutschlandfahnen. Nicht wenige Russlandfahnen sind ebenfalls zu sehen, ebenso „Ami go Home“-Transparente des Rechtsaußenmagazins Compact. Rund 10.000 Menschen sind gekommen, um sich die Reden des Ex-Linken-Parlamentariers und Musikmillionärs Diether Dehm sowie des früheren CDU-Bundestagsabgeordneten und heutigen Kleinstparteigründers Jürgen Todenhöfer anzuhören.

Die Bühne, die vor den Propyläen aufgebaut ist, ziert ein Banner mit der Aufschrift „Macht Frieden!“. An wen sich das richtet, daran lassen sowohl Todenhöfer als auch Dehm keinen Zweifel: nicht an Russland. Für beide, wie auch für alle anderen auf dem Platz, ist klar, wer für den Ukrainekrieg eigentlich verantwortlich ist: die Nato im Allgemeinen und die USA im Besonderen, deren Vasall Deutschland sei. Das Pentagon habe, so verkündet Dehm, den Krieg „auf dem Rücken Europas“ mit Hilfe von „ukrainischen Killerbanden mit SS-Symbolen“ vorbereitet.

Dehm gehört zum minoritären Wagenknecht-Lager in der Linkspartei, gegen ihn läuft ein Parteiausschlussverfahren. Hier in München wird er umjubelt. Das liegt auch daran, dass er nicht nur Putin verteidigt, sondern zielgruppenorientiert ebenso „die Freiheit, alternative Meinungen zu den Coronadiktaten zu sagen“. Nachdem er dazu aufgerufen hat, am kommenden Samstag zur Wagenknecht-Schwarzer-Demonstration vor dem Brandenburger Tor zu kommen, fordert Dehm am Ende seiner Rede dazu auf, gemeinsam sein neuestes Lied zu singen – und aus tausenden Kehlen erklingt: „Ami, go home“. Das ist das, was alle hier verbindet.

Anders als Dehm lässt der nachfolgende Todenhöfer, der zu den Erst­un­ter­zeich­ne­r:in­nen des Schwarzer-Wagenknecht-Manifests gehört, immerhin nicht unerwähnt, wer wen angegriffen hat. Einen knappen Satz in seiner fast 40-minütigen Rede verliert er dazu: „Wir sind ganz selbstverständlich gegen den Krieg Russlands gegen die Ukraine“, sagt er – um direkt hinzuzufügen: „Aber wir sind auch gegen diejenigen, die diesen Krieg bewusst provoziert haben.“ Und damit es auch je­de:r versteht: „Der Westen wollte diesen Krieg.“ Es ginge nur darum, „Russland fertigzumachen“. Auf Putin lässt hier niemand etwas kommen.

„Es ist ein sehr guter Auftakt für den Friedensfrühling in Deutschland“, schwärmt Compact-Chefredakteur Jürgen Elsässer in eine Kamera. Elsässer hatte zuvor bereits an einer AfD-Demo mit knapp 300 Teil­neh­me­r:in­nen auf dem nahegelegenen Karl-Stützel-Platz teilgenommen. Nun freut er sich, dass er und seine extrem rechten Ka­me­ra­d:in­nen auch auf dem Königsplatz gern gesehen sind. Schließlich verstehen sich die Versammelten als „lagerübergreifend“, wie einer Veranstalter von der Bühne herab verkündet.

Parallel zum „Querdenken“-Event haben sich auf dem Odeonsplatz Menschen versammelt, die nur Empörung für solche Töne übrig haben: Ukrai­ne­r:in­nen und deren Un­ter­stüt­ze­r:in­nen, die gegen Putins Angriffskrieg protestieren. Der Platz vor der Feldherrnhalle ist geschickt gewählt, liegt er doch unmittelbar neben dem internationalen Pressezentrum der MSC. Etwa 1.500 Menschen sind gekommen, die meisten mit Fahnen, Tüchern oder Mützen in den ukrainischen Landesfarben Blau-Gelb. Mit dabei sind auch mehrere Bundestagsabgeordnete: die Grünen Anton Hofreiter und Jamila Schäfer, die FDP-Politikerin Marie-Agnes Strack-Zimmermann sowie Roderich Kiesewetter und Florian Hahn von der Union.

Demonstration mit Banner mit der Aufschrift "Danke Deutschland für die Unterstützung der Ukraine"

Gut aufgestellt: Demonstranten auf dem Odeonsplatz werben für Solidarität mit der Ukraine Foto: Sachelle Babbar/imago

Zu Beginn der Kundgebung wird gemeinsam die ukrainische Nationalhymne gesungen. Etliche Kinder halten Schilder mit der Aufschrift „Arm Ukraine Now“ in die Höhe. „Ukrainische Armee + deutsche Waffen = Sieg für Ukraine“, ist auf Plakaten zu lesen. Ein ukrainischer Abgeordneter heizt mit „Freedom, Freedom, Freedom“-Rufen die Menge an – um schließlich damit zu enden: „Putin ist ein Killer. Er wird seinen Preis bezahlen.“ Jubel folgt aus der Menge. Wer mit einzelnen Teil­neh­me­r:in­nen spricht, bekommt auch immer wieder die bange Frage gestellt: Wie lange wird die Unterstützung des Westens andauern, wenn der Krieg noch lange, möglicherweise mehrere Jahre dauert? „Ihr werdet bald vergessen, dass in der Ukraine Frauen vergewaltigt, Menschen gefoltert oder Kinder verschleppt werden“, sagte eine Frau mit dem traditionellen kranzförmigen ukrai­nischen Blumenschmuck auf dem Kopf.

Die ersten Redebeiträge sind gerade vorbei, als es auf einmal hitzig wird. Direkt an der Ukraine-Soli-Demo leitet die Polizei die traditionelle Anti-Siko-Demonstration des „Aktionsbündnisses gegen die Nato-Sicherheitskonferenz“ vorbei. Der Zug ist ein Sammelsurium der linken und friedensbewegten Szene. Pax Christi ist dabei, Ak­ti­vis­t:in­nen für ein freies Kurdistan, Gewerkschaften, Mitglieder der Linkspartei natürlich, feministische und antifaschistische Organisationen unterschiedlichster Colour. Was sie eint, ist ihre Ablehnung der Nato, sie sind per se gegen Waffenlieferungen, fordern Frieden jetzt und sofort – und vor allem Verhandlungen.

Die Pro-Ukraine-Aktivist:innen sind zahlenmäßig deutlich weniger, dafür umso lauter. „Lumpenpazifisten, geht zum Putin“ und „Ihr unterstützt Terroristen“, dröhnt es wütend den linken Gruppen entgegen. Faschistenfreunde nennen sie sie. Aber auch die linken De­mons­trant:innen zeigen ihre Wut. So kommt mitten aus dem Demo-Zug ein Mann mit Schiebermütze auf eine junge Frau zugerannt, die sich am Straßenrand mit einer ukrainischen Flagge in die Sonne gestellt hat. „USA ist Nato. Nato ist Krieg“, schreit er die Frau an. „Wir wollen leben“, sagt sie. Dann reckt er drohend die Faust und verschwindet in der Menge des Protestmarsches.

Beide Seiten wollen Frieden. Doch was das konkret bedeutet, dazwischen stehen nicht nur Absperrgitter und Polizist:innen, sondern Welten. Die Ukrai­ne­r:in­nen und ihre Un­ter­stüt­ze­r:in­nen fordern mehr und schwerere Waffen, hoffen auf einen Sieg über Russland. Und die anderen? „Verhandlungen und humanitäre Hilfe“, sagt eine Lehrerin, die ihren Namen nicht nennen will. Auf der Anti-Siko-Demo trägt sie ein Schild mit einer Friedenstaube um den Hals, in der Hand hält sie eine Pace-Flagge. Auf die Bemerkung, dass es humanitäre Hilfe doch gebe und das Problem mit Verhandlungen sei, dass Putin diese nicht wolle, entgegnet sie, dass man davon ja gar nichts hören würde. „Es geht hier doch nur um Waffen, mehr nicht.“

Wiederaufbau

Um für genau diese andere Hilfe zu werben, ist Lena Koszarny nach München gekommen. Während Scholz und Macron das Publikum auf Solidarität mit der Ukraine – vor allem militärisch – einschwören, sitzt sie gegenüber dem Bayerischen Hof und wirbt für ihr Unternehmen, eine Privat-Equity-Gesellschaft, die in ukrainische Technologieunternehmen investiert. Seit der Krieg in ihrem Land tobt, schrecken Investoren zurück. „Dabei brauchen wir auch wirtschaftliche Stabilität, um gegen Russland zu bestehen“, sagt Koszar­ny. Militärische Hilfe allein wird die Ukraine nicht wieder aufbauen. Sie warnt vor einem „brain drain“, einem Verlust von gut ausgebildeten Arbeitskräften. Und davor, dass mit dem Wiederaufbau ihres Landes nicht bis zum Ende des Krieges gewartet werden kann. „Wir brauchen Risiko­garantien“, sagt Koszarny. Damit meint sie „Werkzeuge“, die Investoren animieren sollen zu investieren und ihnen die Angst vor finanziellen Verlusten nehmen.

Die Privatwirtschaft spiele eine entscheidende Rolle beim Thema Wiederaufbau, sagt sie und hofft, dass die deutsche Bundesregierung und dort das Entwicklungsministerium sich für solche Garantien einsetzen. Auch Andriy Vadatursky, Chef von Nibulon, einem der größten ukrainischen Getreidehersteller und -exporteure, fordert eine solche Risikominimierung. Die Ukraine könne Ernährungssicherheit global gewähren, wenn man Unternehmen wie seines nicht allein lasse. Und: Russland hätte kein Interesse daran, diese Aufgabe zu übernehmen. „Niemand weiß, wie viel Zeit wir noch haben“, sagt Vadatursky. Was er aber weiß, ist, dass es bei den Getreideexporten zu deutlichen Einbrüchen kommen wird, wenn der Krieg noch sehr lange andauert. Für die Ernten 2024 und 2025 hat er keine gute Prognose.

Demonstrant mit einem Plakat, auf dem unter einem Panzer-Verboten-Zeichen "Abrüsten statt Aufrüsten" steht

Demonstrant auf dem Marienplatz Foto: Daniel Biskup

Von solchen Überlegungen scheint es, wollen die De­mons­tran­t:in­nen nichts wissen. Der Protestzug der Anti-Siko-Demo ist mittlerweile am Marienplatz angekommen. Auf der Bühne vor dem Neuen Rathaus steht Claus Schreer vor einem Banner mit der Aufschrift „Verhandeln statt schießen!“. Der mittlerweile 84-Jährige ist so etwas wie eine Institution der Friedensbewegung. Bereits als junger Kriegsdienstverweigerer war er beim ersten Münchner Ostermarsch 1961 dabei, seit 2002 organisiert er die Demonstration gegen das Spektakel im Bayerischen Hof. „Krieg darf kein Mittel sein“, sagt Schreer. Er fordert einen sofortigen Waffenstillstand, das Ende aller Waffenlieferungen, Schluss mit der Aufrüstung der Nato und die Rückkehr zu internationaler Zusammenarbeit.

Knapp 3.000 Menschen haben sich auf dem Marienplatz versammelt – deutlich weniger als bei der „Querdenken“-Demo. Für eine Antwort auf die Frage, wie er das findet, bleibt Schreer an diesem Tag keine Zeit. „Furchtbar“ sei das, sagen andere Anti-Siko-Leute. Das einzige Positive: „Zum Glück sind die ja nicht hier.“

Dann betritt die Hauptrednerin die Bühne: Sevim Dağdelen. Die Linken-Bundestagsabgeordnete, die wie Dehm zum Wagenknecht-Lager zählt, sprach auch bereits auf der Anti-Siko-Demo im vergangenen Jahr. Vor einem Transparent mit der Aufschrift „Stoppt den Kriegskurs der Nato-Staaten!“ bezichtigte sie damals die USA, mit ihrer Warnung vor einem russischen Einmarsch in die Ukraine eine „Lügenkampagne der CIA“ zu verbreiten. Und von der Ukraine forderte sie, endlich ihre „Provokationen“ zu beenden. Das war fünf Tage vor dem russischen Überfall.

Das Plädoyer des ukrainischen Vizeregierungschefs für Streubomben liefert Kritikern eine Steilvorlage

An ihrer Weltsicht hat sich auch fast ein Jahr nach Kriegsbeginn nichts geändert. Die Sicherheitskonferenz ist für sie bloß eine „Kriegskonferenz“, der Ukrainekrieg ein Stellvertreterkrieg der USA gegen Russland. In Wahrheit gehe es ja gar nicht um die Freiheit der Ukraine, sondern um das Befördern deren autokratisch-nationalistischen Kampfes gegen Russland. Kritische Töne Richtung Putin hat sie nicht. Dafür geht Dağdelen die Bundesregierung mächtig an, insbesondere die grüne Außenministerin Annalena Baerbock. Sie und andere hätten gar kein Interesse daran, den Krieg zu beenden, sondern „die gelangweilte Bourgeoisie hat Sehnsucht nach der Apokalypse“. Es sind Sprüche, die ankommen. Die De­mons­tran­t:in­nen – viele mit „Stop Ceta“-Buttons, mit Pace-Schals, Kirchentag und Ostermarsch erprobt, klatschen begeistert, rufen „Bravo, bravo“. Und selbstverständlich ruft Dağdelen zur Wagenknecht-Schwarzer-Demo am nächsten Samstag auf.

Nicht ungenutzt lässt sie auch die Steilvorlage, die ihr der ukrainische Vizeregierungschef Olexander Kubrakow tags zuvor 500 Meter entfernt im Bayerischen Hof geliefert hat. Kubrakow hatte am Freitagabend von den westlichen Verbündeten die Lieferung von Streumunition und Phosphor-Brandwaffen ins Spiel gebracht. Wie Russland wolle auch sein Land diese „Art von Kampfmitteln“ nutzen, sagte er. „Warum können wir sie nicht nutzen? Es ist unser Staatsgebiet“, sagte er.

Kubrakows völkerrechtlich hochproblematische Forderung hat auf der Siko für einige Irritationen gesorgt. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg erteilte ihr umgehend eine Absage: „Wir liefern Artillerie und andere Arten von Waffen, aber keine Streubomben“, sagte er. Auch Baerbock ließ an ihrer Ablehnung keinen Zweifel. Doch während die Außenministerin am Samstag auf Nachfrage eindeutig auf das Völkerrecht verweist, suggeriert Dağdelen vor den Anti-Siko-Demonstrant:innen, dass die Bundesregierung zur Verteidigung der Ukraine zu allem bereit wäre. Im Publikum wird die Nachricht von der Streumunition-Forderung aufgefasst wie ein Offenbarungseid der Ampel. Denn sie entspricht nur allzu perfekt ihren Vorstellungen einer vermeintlichen „Kriegstreiberkoalition“.

Dem Auftreten der Bundesregierung auf der Siko entspricht das nicht. So vermied Kanzler Olaf Scholz bei seinem Auftritt am Freitag jedes unpassende Säbelrasseln. „Wir tun gut daran, alle Konsequenzen unseres Handels sorgfältig abzuwägen und alle wichtigen Schritte eng abzustimmen unter Bündnispartnern“, sagte er. Zu einem Krieg zwischen der Nato und Russland dürfe es keinesfalls kommen. „Die Balance zwischen bestmöglicher Unterstützung der Ukraine und der Vermeidung einer ungewollten Eskalation werden wir auch weiterhin wahren“, versprach der Kanzler.

Mit Blick auf die bundesdeutsche Bevölkerung sagte Scholz, er verstehe, „wenn einige bei uns in Deutschland Sorgen haben und unsere Entscheidungen hinterfragen“. Aber die Waffenlieferungen an die Ukraine würden nicht den Krieg in der Ukraine verlängern, sondern dienten dem Gegenteil: „Je früher Präsident Putin einsieht, dass er sein imperialistisches Ziel nicht erreicht, desto größer ist die Chance auf ein baldiges Kriegsende, auf Rückzug russischer Eroberungstruppen“, sagte Scholz.

Frankreichs Präsident Macron unterstützt den Kurs. Aber: Er rief auch dazu auf, in die Zukunft zu schauen: „Bereiten wir auch den Frieden vor“, sagte er. „Keiner von uns wird die Geografie von Russland verändern, es wird immer auf europäischem Boden liegen.“ Er glaube nicht an einen Regimewechsel in Moskau. Das bedeute, es werde „keinen dauerhaften und vollständigen Frieden auf unserem Kontinent geben, wenn es uns nicht gelingt, uns der Frage Russlands zu stellen, mit klarem Verstand und ohne jede Selbstgefälligkeit.“

Aber von dem, was auf der Siko besprochen wird, bekommen die Anti-Siko-Aktivist:innen nur wenig mit. So ist es bei ihnen kein Thema, dass Chinas oberster Außenpolitiker Wang Yi kurz vor Beginn ihrer Demo am Samstagmittag einen Friedensplan seines Landes angekündigt hat. „Wir werden etwas vorlegen, und zwar die chinesische Position zur politischen Beilegung der Ukraine-Krise“, sagte Wang Yi. „Wir werden auf der Seite des Friedens und des Dialoges standfest stehen.“ Was das konkret bedeutet, blieb allerdings offen. Gleichwohl begrüßte die deutsche Außenministerin Baerbock erst einmal die Initiative. Es sei gut, wenn China „eine Verantwortung sieht, für den Weltfrieden einzustehen“, sagte sie. „Wenn man das ganze Jahr für Frieden arbeitet, muss man jede Chance auf Frieden nutzen.“

Nach fast fünf Stunden neigt sich die Anti-Siko-Kundgebung dem Ende zu. Geklebte Friedenstauben liegen am Boden, die Pace-Flaggen werden eingerollt. Die Ukrai­ne­r:in­nen und ihre Un­ter­stüt­ze­r:in­nen dagegen feiern sich geradezu am Odeonsplatz. Von schlechter Stimmung ist nichts spüren. Eher von starkem Zusammenhalt in furchtbaren Zeiten.

Diesen Eindruck will auch Demchenko den Be­su­che­r:in­nen ihrer Ausstellung mitgeben. Neben der Collage mit den Terrorbildern läuft ein weiteres Video in der Ausstellung im Bayerischen Hof: Zwei Kinder, Bruder und Schwester, laufen Anfang Januar durch das befreite Cherson. Das Mädchen hüpft über den Gehweg. „Wer die Ukraine nicht liebt, soll zur Hölle fahren“, singen beide. Wie lange der Krieg noch dauern wird, dafür hat auch Ausstellungsleiterin Demchenko keine Prognose. Aber: „Wir haben Hoffnung“, sagt sie.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Wir alle wollen angesichts dessen, was mit der Ukraine derzeit geschieht, nicht tatenlos zusehen. Doch wie soll mensch von Deutschland aus helfen? Unsere Ukraine-Soli-Liste bietet Ihnen einige Ansätze fürs eigene Aktivwerden.

▶ Die Liste finden Sie unter taz.de/ukrainesoli

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.