Essensausgabe bei der Tafel: Nicht anfassen!

Als alleinerziehende Mutter ist unsere Autorin auf die Tafel angewiesen. Doch sie geht dort nicht mehr hin, weil sie sich gedemütigt fühlt.

Es gibt einen Stand, für den sich der Besuch lohnt: Es sind die Brote Foto: M. Popow/imagov

„Nicht anfassen!“, raunzt jemand durch den Raum. Das Erste, was man bei unserer Tafel lernt, ist: „nichts anfassen“. Dabei wollte ich nur sehen, ob Zucker in dem Zwieback ist. Jetzt weiß ich es. Doch immer, wenn jemand neu ist, höre ich das „Nicht anfassen“-Raunzen durch die Kirche hallen.

Man lernt auch das Wartesystem kennen: Vor dem Eingang verteilt jemand Nummern, die darüber entscheiden, wie lange man warten muss. Der Mann, der die Karten verteilt, mag es nicht, wenn die Leute drängeln. Dann macht er besonders langsam, zieht den Kartenfächer ein und sagt: „So nicht“. Er scheint dieses Machtspiel zu mögen. Er sitzt am längeren Hebel.

Bei mir hält er den Kartenfächer fest, als ich eine Nummer ziehen möchte, und fragt, in welcher Gruppe ich sei. Die Nachnamen sind in Gruppen und Zeitfenster eingeordnet. Ich nenne meinen Nachnamen, und er lässt den Kartenfächer locker, ich kann eine Karte ziehen. Es ist eine 7, Glück gehabt. Es gibt auch eine 25, dann muss man sehr lange warten.

Wenn seine Nummer aufgerufen wird, bezahlt man einen Euro und wird auf der Liste abgehakt. Zuvor habe ich mich und meine Kinder mit meinem Bescheid registrieren lassen. Man bekommt drei laminierte Karten: ein Erwachsener, zwei Kinder, und darf sich eine Süßigkeit nehmen.

Ein distanzierendes Wir/Sie-Gefühl

Ein Ehrenamtlicher kommt mit einer riesigen Kiste Schokoladeneier und sagt: „Für die Kinder.“ Doch Ostern ist schon lange vorbei. Ich soll meinen Beutel aufmachen, und bevor ich widersprechen kann, habe ich Massen von Schokoladeneiern darin.

Dann geht es zum Gemüse. Ich sage, was ich möchte, und bekomme es. Beim Tisch mit dem Obst staut es sich. Der Ehrenamtliche dort führt gern Gespräche und lässt sich nicht hetzen. Schließlich wollen wir was von ihm und nicht andersrum. Ein distanzierendes Wir/Sie-Gefühl ist sofort bemerkbar.

Ich will nur schnell nach Hause, die Lebensmittel verstauen und ab zur Kita, mein jüngstes Kind abholen. Das Gespräch an der Obstausgabe zieht sich in die Länge. Ich schaue nervös auf die Uhr. Gerne würde ich das Obst überspringen und zum nächsten Tisch gehen, doch das wird nicht gern gesehen.

Beim Stand mit der Fertignahrung gibt es Pudding und Trinkpäckchen mit Zuckerwasser. Ich entscheide mich für die Haferflocken. Pudding für die Kinder wird mir trotzdem hingestellt. Bei meinem dritten Tafelbesuch schaffe ich es endlich, all das abzulehnen. Die vorherigen Male habe ich mich nicht getraut und nicht gewusst, was ich mit dem Zuckerwasser – nach der Sonne benannt – machen soll. Keinem Kind wollte ich so etwas anbieten. Schließlich nahm es mir dankbar der obdachlose Mann am Bahnhof ab – der hatte keine Zähne mehr.

Zucker ohne Ende

Gesunde Ernährung ist bei der Tafel nicht so leicht. Salat, das meiste Gemüse und Obst halten sich auch im Kühlschrank nicht lange. Schließlich stand es vorher auch schon eine Weile im Supermarkt herum. Kartoffeln, Mohrrüben, Kohl und Wurzelgemüse halten sich dagegen lange.

Sehr hilfreich sind das gute Vollkornbrot und die Milch, zwar meistens halbfett, aber immerhin. Wenn ich Glück habe, gibt es auch mal Naturjoghurt, den essen wir zu Hause oft mit Müsli. Ansonsten gibt es viele hochverarbeitete Lebensmittel. Fleisch und Fleischersatz mit vielen Zusatzstoffen. Es gibt auch Basics wie Haferflocken, Senf oder Frischkäse. Ansonsten haben viele Produkte Zucker und viele Zusatzstoffe. Kann man mal mitnehmen, aber ich möchte es nicht als festen Bestand in unserer Ernährung.

Viele Lebensmittel sind abgelaufen. Ich habe Kinder und bin gerade bei Milchprodukten eher vorsichtig. Manchmal muss ich zu Hause Lebensmittel wegschmeißen, da beispielsweise Gemüse oder Aufschnitte verschimmelt sind.

Ungesundes Süßes gibt es on top, wenn ich die Karte mit der Aufschrift „2 Kinder“ vorzeige. Auch hier lerne ich mit der Zeit abzulehnen. Limonade, Kekse, Frühstücksflocken, die eigentlich zerbröselte Kekse sind, Schokoriegel oder Gummitiere sind mal drin, doch nicht in dem Ausmaß und nicht jede Woche.

Gerade in ärmeren Familien mit wenig Bildungsressourcen besteht ein Zusammenhang zu weniger gesunder Ernährung. Wenn Kinder eines nicht zusätzlich brauchen, sind es Süßigkeiten. Selbst dem ärmsten Kind in der Stadt mangelt es nicht an Süßigkeiten, im Gegenteil. Süßigkeiten und Fertignahrung gibt es an jeder Ecke. Meine Kinder bekommen auch ständig Süßigkeiten zugesteckt.

Davon abgesehen haben das Essen und der Nachtisch in Schule und Kita auch nicht gerade wenig Zucker. Das besagte Trinkpäckchen hat beispielsweise mehr Zucker, als an einem Tag für Kinder empfohlen wird. Mit Blick auf die Zunahme von Diabetes Typ 2 ein nicht unerhebliches Problem.

Draußen kommen mir Kinder mit Chipstüten entgegen, die kreischend die Kirchentreppe hinuntersteigen. Hinter ihnen kommt die Mutter. Ihre schwere Tasche schlägt gegen den langen Rock. Ich sehe Pudding mit Kühen drauf, Tiefkühltorte und Kekse.

Demütig und gedemütigt

Bei meinem ersten Tafelbesuch zitterten meine Knie. Es riecht nach fauligen Gemüse. Ich bin demütig und gleichzeitig fühle ich mich gedemütigt. Ich bin dankbar und gleichzeitig denke ich Undankbares. Mir fällt der Spruch ein: Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul.

Es gibt hier ganz spürbar eine asymmetrische Machtbeziehung. Hinter den Tischen stehen die Ehrenamtlichen, die Gutes tun und sich gut fühlen dürfen, und vor der Kirche warten diejenigen, die die Spenden in Empfang nehmen und brauchen.

Ich möchte nicht Projektions­fläche für das berechtigte gute Gefühl von Ehrenamtlichen sein

Ich möchte nicht Projektionsfläche für das berechtigte gute Gefühl von Ehrenamtlichen sein. Mir wäre es lieber, Bür­ger­geld­emp­fän­ge­r*in­nen würden sich selbst organisieren. Ich spüre den Machtunterschied. Ich schäme mich.

Ich habe einen Master mit einer Note von 1,0. Doch es gibt nur ein Einkommen, in der Elternzeit nichts und es ist unmöglich, zwei kleine Menschen mit einer halben, wenn auch nicht schlecht bezahlten Stelle, großzuziehen. Die Miete frisst einfach alles auf. Für mich allein würde es locker reichen. Alleinerziehende werden durch das System arm gemacht. Fast die Hälfte aller Alleinerziehenden gelten in Deutschland als arm, und das nur, weil sie eben alleinerziehend sind.

Spürbare Machtunterschiede

Ich finde die Tafel nicht falsch. Essen denjenigen zukommen zu lassen, deren Regelsatz so niedrig ist, dass vieles nicht möglich ist, hilft vielen. Es würde auch den Grenz­gän­ge­r*in­nen helfen, die knapp über der Bedarfsgrenze liegen, aber nicht wie ich von allen möglichen Vergünstigungen (ÖPNV, reduzierter Beitrag für das Mittagessen in der Kita, ermäßigte Eintrittspreise etc.) profitieren.

Letztendlich ist es ja auch eine Maßnahme gegen Lebensmittelverschwendung. Doch durch die Rahmenbedingungen, durch das ganze Ambiente und die spürbaren Machtunterschiede fühlt sich der Besuch für mich unwürdig an. Immerhin – beim dritten Mal heule ich nicht mehr.

Ich merke, dass die Tafel für mich, die sehr auf gesunde Ernährung achtet, nur minimal finanzielle Erleichterung bringt. Weil Obst und Gemüse nicht lange halten, gehe ich ein paar Tage später doch wieder Salat, Gurke, Tomaten und Paprika einkaufen. Und 79 Cent für Haferflocken, die die Kinder fast täglich mit Rosinen, Nüssen oder Tiefkühlbeeren essen, habe ich noch übrig. Ich entscheide mich, nur noch selten hinzugehen. Denn der Tafel-Besuch kostet auch viel Zeit, Wartezeit, und ich komme in Abholstress.

Doch es gibt einen Stand, für den sich der Besuch lohnt. Es sind die Brote. Gute, dicke, gesunde Laibe Vollkornbrot, die im Laden fast 5 Euro pro Stück kosten und die mein ältestes Kind so liebt. „Das beste Brot,“ sagt es und genießt es mit Gouda. Ich bekomme zwei ganze Brote, schneide sie zu Hause in Scheiben und friere sie ein. Alle paar Tage taue ich ein paar Scheiben auf. Das reicht dann fast drei Wochen, da das ältere Kind auch oft bei Freund*innen, Großeltern oder dem befreundeten Nachbarskind isst.

Mitnehmen zur Tafel würde ich mein ältestes Kind nicht. Es würde mein Schamgefühl und die Anspannung wahrnehmen. Es würde den fauligen Geruch riechen. Es würde den manchmal rauen Ton hören. Es würde viele Menschen auf Bänken, die Arme auf den Einkaufskarren gestützt, warten sehen. Es würde viele Fragen stellen. Ich müsste die Themen Machtunterschiede, Gerechtigkeit und Geld erklären.

Doch dafür braucht es einen anderen Ort und eine gefasste erklärende Mama und nicht eine, die sich selbst bei der Tafel völlig fremd und beschämt fühlt.

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