Ein Urinal für Frauen: Pinkeln gegen das Patriarchat

Männer erleichtern sich in Pissoirs oder an Bäumen, Frauen müssen fast immer lange vor Kabinen warten. Deshalb gibt es jetzt das „Missoir“.

Drei Frauen hocken über einem Urinal

In der „Missoirsstellung“: Lena Olvedi (Mitte) beim Probesitzen auf ihrer Erfindung Foto: Stefanie Loos

Es hocken da drei Frauen und unterhalten sich, während sie vor sich hin urinieren, Großmutter, Mutter und Tochter. Sie sitzen mitten in Berlin-Wedding auf dem Nettelbeckplatz. Im Hintergrund läuft ein Vortrag über Gleichberechtigung für Frauen – es ist der 8. März, im Wedding findet eine Kundgebung zum Frauenkampftag statt. An diesem Feiertag in Berlin riecht es nach Frühling, die Sonne scheint.

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Als die drei Frauen nach einer Toilette suchten, entdeckten sie die Kabinen, deren Außenwände mit Vulven in knalligen Farben dekoriert sind. „Peequality for you and me“ und ähnliche Slogans stehen auf Pappschildern, die an die Kabinen gepinnt sind. In den Kabinen befinden sich „Missoirs“, also wasserlose Hockurinale, konzipiert für Flinta* (Frauen, Lesben, Inter-, nonbinäre, Trans- und Agender-Personen).

Nebeneinander sind mehrere rechteckige Löcher in den Boden eingelassen, darüber ein Gittersieb, das als Spritzschutz dient und dafür sorgt, dass kein Müll in den Abfluss kommt. Unter dem Gitter ist ein Sammelbehälter für den Urin. Das Missior ist ganz ohne Plastik gebaut, mit nachhaltigen Materialien. An den Seiten befinden sich Klopapier und Haltegriffe. Wer ohne diese auskommt, für die ist die Nutzung des Missoirs sogar kontaktlos. Dazu Mülleimer, Desinfektionsspender, an der Wand Kleiderhaken und ein Spiegel, an dem ein Sticker klebt: „Du bist schön“.

Lena Olvedi kommt in die Kabine und überprüft, ob alles sauber ist. In ihrem leuchtenden grün-schwarzen Anzug mit Umhang sieht sie aus wie eine Superheldin. Die 41-Jährige ist die Erfinderin des Missoirs. Sie erzählt den Nutzer*innen, wie es funktioniert, lächelt alle an, fragt, wie es war. Die älteste der Frauen, die ein „Omas gegen Rechts“-Shirt trägt, antwortet: „Das ging vor allem ganz schnell. Wie früher als Kind: einfach Rock hoch, Unterhose runter und fertig.“ Ihre Enkelin nickt zustimmend.

Das Missoir-Kapitel begann für Lena Olvedi 2017 in einem Berliner Club, als sie mal wieder in einer viel zu langen Schlange vor der Frauentoilette stand. Sie fand es unfair, dass Frauen so lange aushalten müssen und Männer gleich zwei Möglichkeiten haben, sich zu erleichtern – Toiletten und Pissoirs.

Olvedi begann sich Gedanken darüber zu machen, wie es besser gehen könnte. Zu diesem Zeitpunkt arbeitete die Berlinerin seit 15 Jahren als Requisiteurin und Locationscout fürs Fernsehen. Sie ahnte noch nicht, dass sich die Schnapsidee, wie sie sie nennt, zu ihrem Lebensprojekt auswachsen würde.

Dass es bei Frauen länger auf dem Klo dauert als bei Männern, sei Teil eines strukturellen Problems, erklärt Olvedi. Denn bisher ist die Welt so gebaut, dass Männer beim schnellen Urinieren Vorteile haben: Sie können sich an lange Pissrinnen oder Pissoirs stellen. Hose auf, pinkeln, fertig. Nicht mal berühren müssen sie die sanitären Anlagen dafür. Für Frauen hingegen gibt es nur Einzelkabinen, die mehr Platz brauchen und bei denen es zu längeren Wartezeiten kommt.

Tampons und Bonbons

In den Kabinen sind Kloschüsseln, auf die sich viele aus hygienischen Gründen nicht setzen möchten, ohne diese beispielsweise mit Klopapier zu belegen oder sie sauberzumachen. Die Alternative ist, sich festzuhalten und in komplizierteste Stellungen zu begeben, um nichts zu berühren. All das braucht Zeit.

Zunächst hat Lena Olvedi jede freie Minute und ihren Jahresurlaub auf die Recherche verwendet. „Von Materialkunde bis zu den Sanitärfachverbänden, alles war mir neu. Aber ich hatte Feuer gefangen“, erzählt sie, während sie zusammen mit den Pipilottas – wie sie ihr Team nennt – Tampons und Bonbons an ihrem Stand neben den mobilen Kabinen verteilt.

2018 probierte Olvedi die ersten Missoirs auf einem von Freun­d*in­nen organisierten Festival aus – mit positivem Feedback. Der erste Prototyp stand 2019. Kurz danach kündigte sie ihre Festanstellung, und 2020 war via Crowdfunding genug Geld zusammengekommen, um das erste mobile Missoir zu bauen. Doch nun brach die Coronapandemie aus, fast alle Events wurden abgesagt.

Das war nicht die einzige Schwierigkeit, die Olvedi meistern musste. Die größte Herausforderung war es für sie, sich in einer männerdominierten Branche zu behaupten. Als sie anfangs dezidiert nach Investorinnen, Installateurinnen oder Herstellerinnen suchte, wurde sie oft ausgelacht. Sie hatte auch selbst das Gefühl, als Frau im Business belächelt zu werden, bei Anfragen ließ sie deshalb schließlich ihren Vornamen weg.

Überhaupt, ihr Vorname: Eigentlich heißt sie Ilona Habibi Laila Maria Olvedi, doch weil sie von den vier Namen, den ihre ungarisch-deutschen Eltern ihr gaben, nicht überzeugt war, gab sie sich selbst einen fünften: Lena. Aufgewachsen ist sie auf La Palma, mit ihrer Familie lebte sie dort, bis sie 21 war.

Schon als Schulkind sah sie es nicht ein, warum für sie anderes gelten sollte als für die Jungs – und pinkelte neben den Schulweg. Aufgrund dieser Kindheitsgewohnheit sei es für sie „kein Thema“, in der Öffentlichkeit zu pinkeln.

Frau hält ein Schild mit der Aufschrift "Ich habe keinen Penis und keine 50 Cent"

Für vereinfachtes Pinkeln: Aktion zum Frauentag in Berlin Foto: Stefanie Loos

Dabei ist Scham für viele ein Thema beim Urinieren. „Das Missoir ist super“, sagt eine 40-Jährige, die die Pinkelvorrichtung zum ersten Mal probiert, „aber bei mir dauert es lange, bis etwas rauskommt. Ich bin es nicht gewohnt, neben Fremden zu pinkeln.“ Aus diesem Grund gibt es auch Missoirs mit Trennwänden, doch Olvedi mag es lieber ohne: „Männer unterhalten sich, während sie pinkeln, für uns ist es unangenehm.“

Auf Festivals habe sie jedoch die Erfahrung gemacht, dass das Missoir zum Treffpunkt wurde. „Wenn wir dann doch anfangen zu quatschen, hören wir nie auf“, sagt Olvedi und lacht. Im Einsatz war das Missoir schon auf dem Berliner Christopher Street Day, dem Hamburger Reeperbahnfestival oder auf Technofestivals wie der Nation of Gondwana in Brandenburg. Beim Festival der Selbstgebauten Musik in Berlin präsentierte Olvedi eine Installation namens „Die singende Pinkelrinne“.

Wird Marine Le Pen die nächste französische Präsidentin? In der taz am wochenende vom 23./24. April 2022 schauen wir auf Frankreich vor der Stichwahl, auf die Wäh­le­r:in­nen von Le Pen und auf die, die ihren Wahlsieg am meisten fürchten. Außerdem: Die Linkspartei in der Krise. Und: Wie das „Missoir“ für Geschlechtergerechtigkeit beim Pinkeln sorgt. Ab Samstag am Kiosk, im eKiosk, im praktischen Wochenendabo und rund um die Uhr bei Facebook und Twitter.

Das Missoir ist eine weitere Alternative zu den auf Festivals schon länger populären Urinellas – einer Art Trichter aus Materialien wie Silikon, Kunststoff oder Pappe, der anatomisch zum Frauenkörper passt, und es ihnen ermöglicht im Stehen zu urinieren. Doch nicht für alle Flinta* sind Urinellas eine Option. „Mit meinem Bauch kann ich keine Urinella benutzen“, sagt eine Schwangere, die neben den Kabinen steht. Eine andere Frau meint: „Es kann danebenlaufen, und außerdem möchte ich mir keinen künstlichen Penis ansetzen – warum?“

Auch wenn Lena Olvedi anfangs keine feministischen Ansätze hatte („Ich wollte nur schneller pullern können“), wurde ihr bald bewusst, dass sie etwas zur Gleichberechtigung in Bezug auf ein Grundbedürfnis beitragen könnte. Seitdem engagierte sie sich für Geschlechtergerechtigkeit in öffentlichen Toiletten. „Das Problem fängt aber schon bei der Erziehung an: Jungen wird vermittelt, es sei okay, gegen den Baum zu pinkeln, während Mädels sich verstecken müssen.

Und so machen sie es auch als Erwachsene, zwischen zwei Autos, zum Beispiel“, so Olvedi. Dass Frauen in Cafés fragen oder in öffentlichen Toiletten 50 Cent bezahlen müssen, während öffentliche Pissoirs für Männer kostenlos sind, findet sie im Jahr 2022 in Deutschland unmöglich.

Das Berliner Buschfunk Bündnis, das auf der Kundgebung Unterschriften für seine Petition „Pee for Free“ sammelt, sieht es genauso. Es fordert die zuständige Berliner Senatsverwaltung dazu auf, die bestehende Benutzungsgebühr der öffentlichen Toiletten abzuschaffen und mehr für Flinta* und Se­nio­r*in­nen nutzbare Toiletten in Parks und an öffentlichen Plätzen zu schaffen.

In der Hasenheide, einem Park in Berlin-Neukölln, war von Juli 2021 bis zum Januar 2022 ein Missoir als feste Toilette installiert. Doch nach Auslaufen des Mietvertrags musste es abgebaut werden. „Im aktuellen Haushaltsjahr sind keine Mittel zur Verfügung“, heißt es beim Bezirksamt auf Nachfrage der taz.

Dass schon 1906 in München ein öffentliches Frauenurinal existierte, sich aber – wie alle weiteren Prototypen bis heute – nicht dauerhaft durchsetzte, überrascht Olvedi nicht. „Die Entscheidungsträger sind männlich und halten es für unnötig“, sagt sie. Dabei spart das Missoir sogar Wasser, denn gespült werden muss nicht.

„Das Thema Pinkeln begrenzt sogar mein politisches Engagement“, erklärt eine Frau auf der Kundgebung am 8. März. Oft gehe sie deshalb nicht demonstrieren, weil es sie nervt „um eine Toilette kämpfen zu müssen“. Dass sie am Frauenkampftag mit den Missoirs dabei sein darf, nennt Olvedi „eine große Ehre“. Doch damit sei es nicht getan. Das Ziel sei, wieder einmal, Gleichberechtigung – „für alle und überall“.

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