Diskussion um Boykott: Wie umgehen mit der Katar-WM?

Diese Frage hat auch die taz-Redaktion umgetrieben. Vier sehr unterschiedliche Einwürfe zum Turnierstart – auch das Schauen mit Gewissen ist dabei.

Der DFB-Bus durchquert die Wüste

Wie nah soll man das Turnier an sich herankommen lassen? Bus der DFB-Elf in Katar Foto: Federico Gambarini/dpa

Wegguckerin

Die WM sollte alleine wegen ihren katastrophalen Klimaauswirkungen eigentlich sofort abgeblasen werden. Ausgerechnet mit dem Ende der Weltklimakonferenz in Ägypten beginnt in Katar das Weltturnier. Angeblich ist es klimaneutral. Doch diese Behauptung ist absurd.

Sechs der acht Stadien wurden komplett neu gebaut – Klimaanlagen zur Kühlung von Spielfeldern und Zuschauerrängen inklusive. Und weil klar ist, dass diese danach nicht mehr gebraucht werden, hat Katar schon im Bewerbungsprozess 2010 versprochen, dass Baumodule recycelt werden, um daraus 22 Stadien für ärmere Länder errichten zu können. Zwölf Jahre später sind dafür immer noch keine konkreten Pläne bekannt. 1,2 Millionen eingeflogene Gäste werden erwartet. Und weil nicht alle in Katar untergebracht werden können, werden Fans während der Spiele täglich ein- und ausgeflogen.

Nach offiziellen Angaben der Fifa verursacht das Turnier 3,6 Megatonnen CO2-Äquivalente. Mehr als jede andere WM zuvor. Diese Emissionen will Katar kompensieren, darauf basiert die Behauptung klimaneutral zu sein. Die ohnehin umstrittene Idee von Klimakompensationen geht davon aus, dass Emissionen dort eingespart werden sollen, wo es am einfachsten ist. Was ist eigentlich überflüssiger als eine Fussball-WM in der Wüste? Für die Umsetzung der Ausgleichsmaßnahmen ist übrigens eine Organisation zuständig, die von Katar selbst gegründet worden ist. Unabhängige Kontrollen sind so unmöglich.

Katar ist auf Gas gebaut. Wörtlich. Der kleine Golfstaat ist der größte Flüssiggasexporteur der Welt. Und hat trotz seines enormen Potentials keine nennenswerte Produktion von Solarenergie. Die Klimakrise wird Katar hart treffen: Forscher gehen davon aus, dass das Land in 50 Jahre fast nicht mehr bewohnbar ist. Doch anstatt etwas gegen die Katastrophe zu unternehmen, versucht Katar sein Image mit einer angeblich klimaneutralen WM aufzupolieren – und macht damit alles noch viel schlimmer.

Angesichts dieses Verbrechens an unser aller Zukunft wirkt ein Boykott geradezu lächerlich nett. (Clara Vuillemin)

Hingucker

Ja, ich weiß: Katar ist politisch in beinahe jeder Hinsicht unter aller Kanone. Es hat seine Gastarbeiter tausendfach tödlich geschunden, um die kleine Staatsfläche mit vielen Fußballstadien zu bebauen. Medien werden es auch zur Fußball-WM nicht nur schwer haben, offen zu berichten, die Restriktionen sind skandalös.

Es gibt viele Gründe, dieses Turnier zu boykottieren. Es kaum zur Kenntnis zu nehmen. Aber das funktioniert bei mir nicht, bei Aber­mil­lio­nen Menschen nicht. Live­sport, Fußball und Olympische Spiele zumal, ist wie eine Droge: Der Globus kommt zusammen – und sportelt spitzenmäßig.

2008, als die Sommerspiele in Peking stattfanden, oder 2014 in Sotschi bei den Winterspielen: Zwei Tage dauerte mein Boykott, dann brauchte ich die Droge, an der ich seit Kindertagen hänge, wieder: Live dabei sein per Fernsehen. Schau- (und öfters Mitfieber-)Lust in reinster Form: Sehen und hören, was passiert. Jetzt!

Wobei die Grade meiner Rückfälle unterschiedliche Qualität haben konnten: Peking 2008 war mit der Illusion verbunden, das Land werde sich politisch zum Besseren ändern. Diese Idee hatte ich vor acht Jahren in Sotschi keine Sekunde: Das Regime würde lügen und betrügen, und das erwies sich als allzu wahr. 1978, Fußball-WM in Argentinien: war schlimmer als fantasiert. Seoul 1988 hingegen waren Sommerspiele noch im zerbröselnden Modus der Militärdiktatur, inzwischen ist das Land eine Musterdemokratie.

Und die Weltmeisterschaft in Katar? Millionen in der nichtwohlhabenden Welt sind stolz, dass dieses Fußballturnier nicht bei den üblichen Verdächtigen stattfindet. Und stimmt es nicht wenigstens ein bisschen, dass sich in Katar politische Dinge geändert haben? Und weiter ändern könnten? So oder so: Ich weiß um meine Droge, Abstinenz wäre trist. Und sinnlos. (Jan Feddersen)

Schauen mit Gewissen

„Also ich guck das auf keinen Fall!“, posaunen seit Wochen viele. Meist folgt auf das Bekenntnis die unsichere und irgendwie hoffnungsvolle Frage „Und du?“. So als suche man noch einen Ausweg aus der Boykottfalle.

Klar: Nichts spricht für diese WM. Eine frauen- und schwulenfeindliche Ausbeuter-Diktatur als Gastgeber, das Ereignis vergeben durch die Mafifa. Jede Tribüne könnte man, Sitz für Sitz, mit Gedenktafeln für die Todesopfer unter den Bauarbeitern füllen.

Doch je näher die Weltmeisterschaft gerückt ist, desto zögerlicher wurden die Boykott-Gelöbnisse. Rechtfertigungen ploppen auf: Ist es politisch überhaupt sinnvoll, das Erlebnis WM von einer Diktatur vermiesen zu lassen? Wertet man das Regime so nicht eher auf? Und überhaupt: Wer kriegt denn mit, dass ich nicht gucke? Was bewirkt das überhaupt?

Dieses Mal machen wir es anders. Wir gucken! Und zahlen 5 Euro „Eintritt“ pro Spiel an Amnesty International. Jugendliche bis 18 die Hälfte; man kann das gern auch sozial weiter staffeln, auch nach oben: also FDP-Wähler*innen und andere Gut­ver­die­ne­r*in­nen zahlen 10 Euro oder mehr – freiwillig. Ersatzweise gibt es eine Flatrate für die vollends Fußballsüchtigen: Ganze WM 150 Euro, Thema abgehakt. Da jubelt das betäubte Gewissen? Ja, aber Amnesty eben auch.

Also: Mitmachen! Nachmachen! Und weitererzählen: im Kegelklub, in der eigenen Fußballmannschaft, der Schulklasse, im Freundes*innenkreis! Bildet Banden zum Abkassieren! Lasst Twitter und Facebook glühen von der Idee.

Wir sind uns da ganz sicher: Das bringt im Ergebnis mehr als bockiges Nicht-Gucken. Zudem: Amnesty ist gerade in Sachen Katar keine schlechte Spendenadresse. Und man verpasst den Sensationssieg von Costa Rica gegen Spanien nicht.

Das Finale sei übrigens zahlungsfrei, als Verbeugung vor der eigenen Fußballsucht, als Eigendank und weil ein Endspiel allgemein historische Bedeutung hat. Zudem hilft die Ausnahme auch aus organisatorischen Gründen: So kann bitte jede Gruppe, jedeR Ein­zel­spen­de­r*in uns bis Samstagabend vor dem Endspiel die gesammelte Summe mitteilen – an eintritt@taz.de. Gern mit selbstlöblerischen, kritischen und wohlfeilen Hinweisen. Wir addieren und geben das stattliche Ergebnis samt klügsten Kommentaren nach dem Finale bekannt. (Oliver Domzalski/Bernd Müllender)

Nicht eine Zeile!

Es muss gute Gründe geben, wenn Journalisten von sich aus entscheiden, nicht über etwas Relevantes berichten zu wollen. Schließlich ist das unsere ureigenste Aufgabe. Noch vorsichtiger sollten wir mit Boykottforderungen umgehen. Im Fall der Fußballweltmeisterschaft der Männer in Katar aber ist ein Boykott der Berichterstattung der richtige und einzige Weg. Ich will – und ich werde – keine Zeile über ein Spiel in der taz – oder anderswo – lesen. Aus Überzeugung, als politische Haltung und Handlung.

Katar ist ein kleines Land: eine absolute Monarchie mit gerade mal 2,7 Millionen Einwohnern, die ganz große Mehrheit davon Ar­beits­mi­gran­t*in­nen ohne Pass und weitgehend ohne Rechte. Sie haben, unter oft unmenschlichen Bedingungen, die Stadien und weitere Infrastruktur für dieses Turnier in die Wüste gesetzt. Viele haben dafür mit ihrem Leben bezahlt.

Das Regime ist mit seiner repressiven, reaktionären, homophoben, frauenfeindlichen Politik und den verschwenderischen Umgang mit fossilen Ressourcen – um nur einige Beispiele zu nennen – das Paradebeispiel für einen politischen Bad Guy. Will die Menschheit das 21. Jahrhundert überleben, will sie den moralischen Ansprüchen an die Gattung Mensch erfüllen, muss sie in allen Bereichen so ziemlich genau das Gegenteil von Katar tun.

Muss man also mehr über ein Land mit 300.000 Staats­bür­ge­r*in­nen wissen? Nein.

Die Fußball-WM in Katar ist nicht zu vergleichen mit Sportgroßereignissen etwa in Peking oder Sotschi. China und Russland sind zentrale weltpolitische Akteure, die Einfluss haben in vielen Bereichen. Katar – auch wenn sich Deutschland erniedrigt hat, sich von dort Gas liefern zu lassen – ist nur ein Land, dass sich Aufmerksamkeit erkaufen will, wenn es sein muss, auch mit Bestechung. Wir sollten ihm diese Aufmerksamkeit nicht zugestehen, wir sollten nicht selbst käuflich werden. Ganz nebenbei trifft ein Boykott der Spielberichterstattung auch die korrupte Fifa und damit längst nicht die falschen.

Die Boykottbewegung ist groß geworden: Viele Fans, Eckkneipen, Ak­ti­vis­t*in­nen, Institutionen teilen inzwischen diese Haltung. Die taz als linke, ja einst radikale Zeitung darf dabei nicht fehlen. Sie muss sich dem Spagat verweigern, der es bedeutet, um der Sportberichterstattung willen zum Transporteur der Botschaften von Fifa und dem Herrscherhaus von Katar zu werden. Letztere dürfen von keinem Cent aus dem stets zu kleinen taz-Budget profitieren.

Im besten Sinne – so die Hoffnung – führen diese Spiele zu einem globalen Umdenken, dass (sportliche) Großereignisse künftig ohne (allzu sichtbare) Korruption vergeben werden und dass sie dann auch ökologische Standards erfüllen müssen. Dafür muss aber klar sein und jeden Spieltag klar werden: Die politische Bedeutung der WM ist um ein Vielfaches größer als die sportliche. (Bert Schulz)

PS: Ein Katar-Boykott wäre übrigens nichts völlig Neues in der taz: Die Redaktion der Leibesübungen berichtet aus Prinzip nicht über Motorsport.

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