Deutsche Flaggen an Hausfassaden: Meine Angst und wo sie herkommt
Deutsche Flaggen an Wohnhäusern beängstigen mich. Das liegt an der AfD und dem Ergebnis der Europawahl. Aber es ist Zeit, die Angst los zu werden.
I ch habe das Glück, dass ich fast immer zu Fuß zur Arbeit laufen kann. Ich genieße es, diese halbe Stunde zu gehen, höre dabei Podcasts, bereite mich auf den Arbeitstag vor und beobachte meine Mit-Hamburger*innen. Letzte Woche sah ich auf meinem Weg in einem Fenster eine deutsche Flagge hängen. Eine große Flagge, Schwarz-Rot-Gold, dazu der Schriftzug „Deutschland“. Meine erste Reaktion: Angst. Ich fragte mich, ob da jemand wohnt, der politisch rechts ist? Und ob das ein Zeichen gegen uns Ausländer ist?
Ein paar Schritte weiter erinnerte ich mich daran, dass die Fußball-Europameisterschaft gerade begonnen hat und dass es auch sonst viele Gründe geben kann, warum sich jemand die deutsche Nationalflagge aufhängen möchte. Den Rest meines Weges musste ich mich also fragen, warum meine erste Reaktion diese Angst war.
Ich lebe seit mehr als acht Jahren in Deutschland und – inshallah – bekomme ich bald einen deutschen Pass und werde dann auch Deutscher sein. Ich habe eine deutsche Frau geheiratet, habe deutsche Freund*innen, Kolleg*innen und Bekannte, ich arbeite in Deutschland und zahle deutsche Steuern (als freiberuflicher Medienmacher sogar ziemlich viele). Warum also diese Angst vor der Identität „Deutschland“?
Die aktuellen Nachrichten machen natürlich auch mir Angst, von Remigrationsfantasien der AfD bis hin zu „Deutschland den Deutschen“-Gesängen. Das Gefühl, dass ich als muslimischer, als syrischer Araber nicht auch gleichzeitig deutscher Staatsbürger sein könnte, wird wieder stärker. Für mich, aber auch für viele andere Muslim*innen ist auch die Rolle Deutschlands und der innerdeutsche Diskurs zum Krieg in Palästina ein Faktor.
Die Ergebnisse der Europawahl zeigen, dass Deutschland weiter nach rechts gerückt ist. Auch Hamburg, obwohl ich das manchmal vergesse. Acht Prozent der Wählenden haben hier die AfD gewählt, das sind knapp 69.000 Hamburger*innen. Wenn ich das nächste Mal in der S-Bahn nach Bergedorf sitze, werde ich daran denken, dass die AfD im Stadtteil Neuallermöhe 20 Prozent geholt hat. Weitere knapp 2.300 Hamburger*innen haben für rechte und rechtsextreme Kleinstparteien gestimmt, zum Beispiel Heimat, „Aktion Bürger für Gerechtigkeit“ oder „Die Basis“.
Viele Leser*innen denken sich sicher: Aber die Mehrheit in Hamburg hat die Grünen gewählt! Das stimmt. Trotzdem sind diese Wahlergebnisse für mich als Fast-Deutscher und Hamburger wie ein Stoppschild, das mir signalisiert: „Ha, nicht so schnell! Mach es dir nicht zu gemütlich, wer weiß, was noch kommt.“
Irgendwie verbinden sich diese Gedanken mit der deutschen Flagge. Aber warum, weiß ich immer noch nicht genau. Mir wurde oft erzählt, dass viele Deutsche, auch jene ohne Migrationshintergrund, es peinlich, unangenehm oder auch zu rechts finden, die deutsche Flagge zu zeigen. Das hat für viele mit der deutschen Geschichte und dem Wissen zu tun, wo deutscher Nationalismus hinführen kann.
Ich finde das interessant, gerade weil es viele Menschen mit Migrationsgeschichte gibt (egal ob mit oder ohne deutsche Staatsbürgerschaft), die gerne und stolz die Nationalflaggen ihrer familiären oder ehemaligen Heimatländern zeigen, zum Beispiel aus der Türkei, Polen oder Indien. Ich sehe auch immer wieder Veranstaltungen mit Bezug auf den Krieg in der Ukraine, wo auch kleine Kinder die ukrainische Flagge tragen. Diese Länder haben ihre eigenen Geschichten und die Menschen, die jetzt in Deutschland leben, verbinden damit ihre persönlichen Perspektiven.
Am Wochenende war ich in einer Shisha-Bar, in der die deutsche Fahne hing. Vielleicht ist es für mich Zeit, die deutsche Nationalflagge in einem neuen Licht zu sehen. Dabei kann mir sogar die EM helfen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Geschasste UN-Sonderberaterin
Sie weigerte sich, Israel „Genozid“ vorzuwerfen
Prognose zu Zielen für Verkehrswende
2030 werden vier Millionen E-Autos fehlen
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Mord an UnitedHealthcare-CEO in New York
Mörder-Model Mangione
Partei stellt Wahlprogramm vor
Linke will Lebenshaltungskosten für viele senken
Vertrauensfrage von Scholz
Der AfD ist nicht zu trauen