Der Fall Graichen: War da was, liebe Union?
Die Aufregung um Graichen ist aufgeblasen und unangemessen. Wenn Postenvergaben künftig aber kritischer beleuchtet werden, wäre etwas gewonnen.
I st der Fall Graichen eine Affäre? Aber ja. Der inzwischen zurückgetretene Staatssekretär Patrick Graichen hat sich falsch verhalten, und seine Partei hat ringsherum Fehler gemacht. Natürlich war es falsch und unprofessionell von den Grünen, dass sie nicht daran gedacht haben, was es in Regierungsfunktionen für Folgen hat, wenn Graichen bei Posten- und Auftragsvergabe auf seine Familie trifft.
Aber die Affäre Graichen wird eben auch gnadenlos aufgeblasen. Das Spektakel, das Opposition (die FDP als Opposition innerhalb der Koalition kann inzwischen dazugerechnet werden) und andere darüber veranstalten, dass Graichen Berufliches und Privates nicht hinreichend getrennt hat, steht in keinem angemessenen Verhältnis zur sonstigen bundesrepublikanischen Realität.
Oder glaubt etwa jemand, all die Töchter und Schwiegersöhne von Unions-Granden seien ohne – auch verdeckten – väterlichen Einfluss auf ihre ersten Posten gekommen? Doch aktuell wirkt es, als sei Compliance etwas, das nur von Grünen verlangt werden könne, während dies etwa bei CDU und CSU den Ruch des Quatschig-Unrealistischen hätte – als wollte man die britische Thronfolge diskutieren. Für Graichens Nachfolge müsse jetzt jenseits der Kreise von Agora Energiewende und Öko-Institut gesucht werden, verlangen manche ernsthaft. Ob die Union schon mal die Forderung gehört hat, sie müsse ihre Drähte zum Mittelstandsverband endlich kappen?
Nun heißt es, die Grünen müssten sich aber an ihren eigenen Maßstäben messen lassen, und die lägen ja auch höher als etwa die der Union. Interessanterweise sagen das auch Grüne selbst. Sie scheinen entweder nicht zu merken, dass sie damit den Vorwurf nur bestärken, sie pflegten eine arrogant-akademische Wohlstandsmoral – oder sie nehmen das bewusst in Kauf. Schön blöd von den Grünen, wenn sie auf diese Weise das Geschäft ihrer Gegner betreiben.
Die Heuchelei der anderen
Es ist schließlich ein Unterschied, ob ich laut verkünde, keinen Bissen Wurst mehr essen zu wollen, um mich dann frohlockend am Industriefleisch-Grill einzufinden – oder ob ich Anstandsregeln breche, die grundsätzlich für alle gelten müssen. Rechts der politischen Mitte jedoch gibt es für moralisches Fehlverhalten eher noch Wohlwollendes: „A Hund is er scho.“
Sollte die Affäre Graichen zur Folge haben, dass ab sofort die Postenvergabe in allen Parteien gleichermaßen kritisch verhandelt wird, so wäre das doch etwas wert. Den Parteien, die sich selbst gern bürgerlich nennen, ihre Augenzwinkergeschäfte durchgehen zu lassen, während sich die komplette Republik gemeinsam über Verfehlungen der Grünen echauffiert – das ist genau die Heuchelei, die aktuell nur den Grünen vorgeworfen wird.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Waffen für die Ukraine
Bidens Taktik, Scholz’ Chance
Unterwanderung der Bauernproteste
Alles, was rechts ist