Corona und Verschwörungstheorie: Macht Bio wirr?
Klar, wir sind zwar alle nicht ganz dicht, aber manche knallen gerade total durch. Ist die vegane Bioszene besonders anfällig für Verschwörungsmythen?
Zu den heftigsten und zugleich hübschesten Zuschreibungen, zu denen meine Oma fähig war, gehörte die Einschätzung, jemand habe „eine Meise unterm Pony“. Die betreffende Person war demnach nicht ganz bei Sinnen, bei Trost, bei Verstand. Der Clou der Formulierung ist nicht die Meise, sondern der Pony – als Grund, warum man den Vogel oft nicht bemerkt.
Es ist das gute Recht der Bürgerinnen, gegen die virusbedingten Einschränkungen seitens der Bundesregierung zu protestieren. Nebenbei aber zeigt sich auf den „Hygienedemos“, wer noch Herr seiner Sinne ist – und wessen Privatquatsch gewissermaßen überläuft ins Öffentliche.
Auffällig sind hier nicht nur die rechten Trolle und deren „Follower“, Hooligans, AfD, ein laienhafter Journalistendarsteller, gemütskranke Schnulzensänger und andere, die gerne eine Welt brennen sehen wollen, in der sie keinen Platz haben. Auffällig sind auch Leute, von denen man das nicht erwartet.
Gemeint sind die „Guten“, wenn man so will. Unabhängige Geister. Ökos. Tierschützer und Anthroposophen. Kritiker von Globalisierung und Regierung. Jesus-Freaks, Anarchisten und ein paar Versprengte, die schon immer vor dem Mobilfunkstandard 5G gewarnt haben. Abonnentinnen der taz („Wo ist das kritische Hinterfragen? Wo ist die Aufklärung?“), enttäuscht von ihrem Blatt. Dissidenten. Veganer.
Der Glaube an Echsenmenschen und Globuli
Leute unterschiedlichster Herkunft und Geisteshaltung also, die sich selbst zugutehalten, als „Querdenker“ aufrecht durchs Leben geschritten zu sein – und sich nun aufgefordert fühlen, mal so richtig auf den Putz zu hauen. Was früher richtig war, kann jetzt nicht falsch sein, nur weil da drüben Ken Jebsen steht. Und die Meise unterm Pony darf ausfliegen und tirilieren.
Meistens machen wir uns von den gigantischen Abmessungen und der ubiquitären Verbreitung menschlicher Dummheit keine Vorstellung. Wir alle pflegen unsere kleinen oder größeren Irrtümer. Meistens aber bleiben die Spinnereien und Grillen sozusagen unter der eigenen Schädeldecke. In Latenz.
Der Glaube an die eigene Bestimmung zum Großen, an eine jüdische Weltverschwörung, an tödliche Strahlungen, an die heilsame Wirkung von Globuli, an Echsenmenschen aus der Unterwelt und an ähnlichen Unfug mag tragisch sein, schadet aber nur dem Gläubigen. Privatsache.
In diesen eigenartigen Zeiten aber zeigt sich, wer noch „ganz dicht“ ist. Und bei wem es gewissermaßen durchs Dach regnet, wo der bisher latente Blödsinn auf aggressive Weise manifest wird. In den digitalen Durchlauferhitzern des Irrsinns, aber auch auf dem Münchner Marienplatz, dem Cannstatter Wasen in Stuttgart oder am Maschsee in Hannover.
Da wäre Attila Hildmann, Koch und Autor des Buchs „Vegan for Fun“. Der Mann mag Tiere und pflanzliches Essen. Privatsache. Er verabscheut die „Pharmamafia“, Bill Gates und die Bilderberger, das hängt alles irgendwie zusammen. Privatsache. Bisher.
Latenter Sojabohnenquark
Nun bringen ihn die Umstände dazu, seinen latenten Sojabohnenquark öffentlich auszubreiten. Er schreibt: „Sind meine und Theorien anderer korrekt dann werden wir von den dunkelsten Mächten regiert und am 15.5 Mai nach dem INKRAFTTRETEN der Gesetzesnovelle werden SIE ALLE IHRE MASKE ABNEHMEN und ihr wahres Gesicht zeigen!“
Die Quarzsandhandschuhe angezogen hat auch Joseph Wilhelm, 66, Gründer und Geschäftsführer des Bioherstellers Rapunzel. Wilhelm hält Viren für „Bio“ und glaubt, Corona leiste einen „Beitrag zur Weiterentwicklung“ menschlicher „Anatomie und Psyche“. Geschenkt, dass das Unternehmen seinen Chef zurückpfeifen musste. Man verkauft schließlich das „Gute“, und zwar vornehmlich in Gewissensform. Braune Flecken stören das Geschäft.
Was passiert? In tänzerischer Überschreitung ihrer Kompetenzen überführen der Unternehmer und der Koch unbestrittene Einsichten in gesunde Nahrung und deren gesunde Zubereitung in intuitive bis esoterische Einsichten in das Große und Ganze. Hinzu kommt der habituelle Argwohn jedes Abweichlers, vom „System“ verschaukelt zu werden. Anstelle von Epidemiologen oder Virologen erklären uns auf einmal Landwirte und Gastronomen, was und wie es wirklich läuft – nämlich schief.
Let that sink in for a minute.
Gibt es wirklich keinen Zusammenhang? In der Welt wird bereits über einen klandestinen Konnex gemutmaßt: „Veganer und Verschwörungstheoretiker: zwei Welten, die zusammenpassen“. Ohne Fragezeichen.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Aufgeschreckt erkundigte sich die Informationsplattform der Szene (vegan.eu) bei den eigenen Mitgliedern. Die Ergebnisse: 84,7 Prozent der 3145 Befragten lehnen jede Verschwörungstheorie ab; 95,7 Prozent forderten obendrein eine „Distanzierung von rechtsgerichtetem Denken“, solches schade der „veganen Gemeinschaft“ (85,7 Prozent).
Die Anfälligkeit für Hokuspokus und Zinnober scheint in der Szene also wesentlich weniger ausgeprägt als im Bundesdurchschnitt, wo sie bei etwa 30 Prozent liegt.
Die Awareness von Schrumpeläpfeln
Dennoch betritt, wer bei Denn’s einkauft, einen ganz anderen Raum als den bei Aldi oder Rewe. Die Waren sind weder verpackt noch geordnet wie in „normalen“ Supermärkten. Es riecht, wie es nur in Biosupermärkten riecht. Obst und Gemüse befinden sich bisweilen in einem so desolaten Zustand, dass sich der Hinweis „ohne Konservierungsstoffe“ erübrigt. Speziell der biovegane Einkauf ist eine fast alltagskultische Handlung, bei der wir einen geweihten Bezirk betreten.
Einen utopischen safe space des guten Gewissens, gegen den „das Normale“ wie eine dystopische Verirrung wirkt. Es ist, als strahlten der Schrumpelapfel und das sanfte Spülmittel von innen eine awareness aus und auf die Kundschaft ab.
Würde man die Frage aber mit einem vorsichtigen Fragezeichen versehen („Veganer und Verschwörungstheoretiker: zwei Welten, die zusammenpassen?“), ergäbe sie schon mehr Sinn als etwa: „Motorradmechanikerinnen und Verschwörungstheoretiker: zwei Welten, die zusammenpassen?“ oder: „Bäckereifachverkäufer und Verschwörungstheoretikerinnen: zwei Welten, die zusammenpassen?“.
Es gibt, genealogisch gesprochen, hier durchaus eine Aszendenz, eine Verwandtschaft in aufsteigender Linie.
Kontext ist zwar heutzutage démodé. Ideengeschichtlich ist aber nicht zu leugnen, dass alles „Alternative“, das Faschistoide wie das Ökologische, der gleichen Ursuppe entstiegen ist. Nudisten, Naturschützer, Wandervögel, Vegetarier und andere Lebensreformer wandten sich vom autoritären Kaiserreich ab, strebten mit reinen und schlanken Körpern „ins Freie, ins Licht“ und damit einer Moderne entgegen, der das Reaktionäre („Zurück zur Natur!“) in Teilen so tief eingeschrieben war, dass es von den Nationalsozialisten wie Rahm abgeschöpft werden konnte.
Der Naturheiler heilt im Einklang mit der Natur, die er durch sein Handeln gleichfalls heilt. Dergleichen Ganzheitlichkeit erzeugt Gegenwind – seitens der Wissenschaft, der Schulmedizin, den „Autoritäten“.
Damals wie heute bezieht das „Alternative“ seine radikale Dringlichkeit aus einer Weltuntergangsrhetorik, die heute nicht weniger triftig erscheint als 1918.
Nun ist die Alternative nichts anderes als eine Wahl. Wenn uns aber „alternativlose“ Politik oktroyiert wird, reizt das die Rebellin in uns zur forcierten Suchbewegung. Das ist menschlich und kennzeichnet die intelligente und mündige Bürgerin. Diese Suchbewegung ist fruchtbar, solange sie in Bewegung bleibt.
Blindes Huhn backt Vollkornbrot
Gefährlich und grotesk wird es, wenn das blinde Huhn beim Stochern drei Körner findet und daraus ein Vollkornbrot backen will. Tragisch und plemplem, sobald die Suchenden überzeugt sind, auf eine Wahrheit „hinter der Wahrheit“ gestoßen zu sein, ein benennbares Sternbild im glitzernden Mahlstrom am Firmament, ein Muster im Chaos der Welt.
Prompt verflüchtigt sich die narzisstische Kränkung, „es“ schlicht nicht zu wissen. Es muss sehr guttun, die offene See der Unwägbarkeit verlassen und in den sicheren Hafen einer Ideologie einlaufen zu können. Dann geht es nicht mehr um „kritisches Hinterfragen“, sondern darum, publizistische Geltung zu erzwingen für die bereits in Beton gegossenen „Antworten“.
Dann wisse man beispielsweise einfach, auch wenn „der größte Teil unserer Gelehrten“ das nicht begreifen wolle, dass, „wenn man einmal auf die Natur selbst“ horche, auch schlimme Krankheiten sich mühelos durch Rohkost und „vegetarische Nahrung“ besiegen ließen – wie ein berühmter Tierfreund und Vegetarier am 25. April 1942 bei einem seiner Tischgespräche in der Reichskanzlei ausführte.
Der glühende Glaube an den eigenen Durchblick, was die richtige Ernährung, die richtige Erzählung, die richtige Medizin, den richtigen Gott betrifft, hat etwas Religiöses – und kippt dann ins rhetorisch Fanatische und handgreiflich Aggressive, wenn ich meine „blinden“ Mitmenschen überzeugen möchte und will, dass die dunklen Mächte ALLE IHRE MASKEN ABNEHMEN.
Es ist okay, dass wir alle unsere Meise unterm Pony haben. Wie hegen sie und pflegen sie und lassen sie in der beängstigenden Dunkelheit nach Körnern picken. Wir sind für diese Meise verantwortlich.
Und deshalb sollte man sie nie so fett und übermütig werden lassen, dass sie ausfliegen und den Leuten auf die Schultern scheißen will. Oder gleich die Augen aushacken.
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