Boris Palmer soll die Grünen verlassen: Ein Klick zu viel
Es ist nicht das erste Mal, dass der Tübinger mit seltsamen Thesen auffällt. Aber geht es nach den Grünen, ist das Fass jetzt übergelaufen.
B oris Palmer wäre nicht Boris Palmer, wenn er zum Gegenschlag nicht das Rampenlicht suchen würde. Kaum ist die Aufregung über seinen bösen Satz auf Facebook abgeebbt, in dem das N-Wort in Verbindung mit dem männlichen Genital fiel, kaum hat der grüne Landesparteitag ein Parteiordnungsverfahren gegen ihn angestrengt und sein einstiger Förderer Ministerpräsident Winfried Kretschmann gesagt, das gehe „einfach nicht“, da veröffentlicht Tübingens Oberbürgermeister in der konservativen Zeitung Welt am Sonntag einen Gastbeitrag.
Gegen die um sich greifende Ideologie der Cancel Culture wehre er sich „mit jeder Faser meines politischen Daseins“, schreibt Palmer da. „Wer das verstehen will, muss wissen, dass ich als Kind meinen Vater in der JVA Stammheim besucht habe. Der engste Kontakt bestand darin, meine Hände auf eine Panzerglasscheibe zu legen. Er war 18 Monate im Gefängnis, unter anderem weil er Nazis Nazis nannte. Ich kann Ächtung und Existenzvernichtung wegen angeblich falscher Wortwahl niemals akzeptieren. Das beschädigt den Kern der liberalen Demokratie.“
So sieht Palmer das. In seiner eigenen Welt ist er ein Kämpfer für die liberale Demokratie, einer, der sich gegen selbst ernannte Sprachpolizisten und Twitter-Denunzianten wehrt. Darunter macht er es nicht.
Seit Samstag sind Palmer-Festspiele angesagt, wieder einmal. Der wohl prominenteste Kommunalpolitiker Deutschlands hat eine heftige Debatte über Rassismus ausgelöst – mit Äußerungen über den ehemaligen deutschen Fußball-Nationalspieler Dennis Aogo.
Um Palmer herum tobt ein Sturm. Twitter und Facebook explodieren am Wochenende förmlich, Linke empören sich über Palmers Entgleisung, Rechte jubeln. Die Grünen, diese selbst ernannte Antirassismuspartei, wollen ihn loswerden, jetzt endgültig. Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock sieht sich genötigt, am Samstagmorgen zu reagieren. „Die Äußerung von Boris Palmer ist rassistisch und abstoßend“, twittert sie. „Sich nachträglich auf Ironie zu berufen, macht es nicht ungeschehen. Das Ganze reiht sich ein in immer neue Provokationen, die Menschen ausgrenzen und verletzen.“
Annalena Baerbock, grüne Kanzlerkandidatin
Was ist passiert? Das Drama entzündet sich an einem Dialog in den Untiefen des Netzes, der in den Kommentaren unter einem Facebook-Post Palmers stattfindet. Facebook ist Palmers liebste Bühne, Zehntausende folgen ihm hier, seine Beiträge werden hundertfach geteilt und tausendfach kommentiert. Auf dem Profilbild lächelt er mit grünem Fahrradhelm. Oft postet er Wissenswertes aus Tübingen, News aus dem Gemeinderat, die Corona-Inzidenzzahlen – aber immer wieder auch Thesen zur aktuellen Politik.
Am Freitag schreibt er über die Wirkung eines verbalen Ausrutschers auf die Karrieren der beiden Ex-Nationalfußballer Jens Lehmann und Dennis Aogo. Eine Kettenreaktion, die vor wenigen Tagen damit begann, dass Lehmann in einer Whatsapp-Nachricht gefragt hatte, ob Aogo im TV-Sender Sky ein „Quoten-Schwarzer“ sei, und daraufhin bei Hertha BSC rausflog. Einen Tag später trat Aogo selbst den Rückzug an – er hatte bei Sky am Dienstagabend den Ausdruck „Trainieren bis zum Vergasen“ gebraucht und ließ daraufhin seine Expertentätigkeit beim Sender ruhen.
Palmer findet solche Konsequenzen überzogen, er hält sie für Auswüchse der sogenannten Identitätspolitik. „Lehmann weg. Aogo weg. Ist die Welt jetzt besser? Eine private Nachricht und eine unbedachte Formulierung, schon verschwinden zwei Sportler von der Bildfläche“, schreibt Palmer auf Facebook. Der Furor, mit dem Stürme im Netz Existenzen vernichten könnten, werde immer schlimmer. „Cancel Culture macht uns zu hörigen Sprechautomaten, mit jedem Wort am Abgrund.“
Der Satz mit dem N-Wort
Ein User stichelt unter dem Post: „Na mal wieder Rassismus relativieren?“ Palmer antwortet trocken: „Der Aogo ist ein schlimmer Rassist. Hat Frauen seinen N****schwanz angeboten.“ Nicht nur, dass Palmer das N-Wort benutzt, eine früher in Deutschland genutzte rassistische Bezeichnung für Schwarze. Die ordinäre Anspielung auf Aogos Penis transportiert das rassistische Klischee, dass schwarze Männer sexuell besonders aktiv seien.
Palmer bezieht sich offensichtlich auf einen abfotografierten Kommentar eines anderen Facebook-Accounts, vorgeblich von einer Frau, auf Aogos Facebook-Seite, die dem Fußballer ohne Beleg vorwirft, ihrer Freundin auf Mallorca ein sexuelles Angebot gemacht und dabei das N-Wort verwendet zu haben.
Unklarheit herrscht über die Person, die hinter dem Profil steckt. Der Account mit einem Frauennamen, der beim sozialen Netzwerk Dutzende Male vertreten ist, ist in der Form nicht mehr auffindbar. Bei einer Rückwärtssuche nach dem Profilbild führt die Spur zu einer Beauty-Bloggerin aus Norwegen.
Der Bild-Zeitung sagt Palmer am Samstag, er habe selbst Zweifel an der Echtheit des angeblichen Aogo-Zitats gehabt, in dem das N-Wort ursprünglich verwendet wurde. „Mir war natürlich klar, dass es sich bei den Facebook-Vorwürfen gegen Aogo, auf die ich angespielt habe, sehr wahrscheinlich um ein Fake handelt.“
Boris Palmer wird 1972 in Waiblingen geboren. Sein Vater, der Obstbauer Helmut Palmer, gilt als „Remstal-Rebell“, der reihenweise bei Bürgermeisterwahlen in Baden-Württemberg antritt.
Nach dem Studium der Geschichte und Mathematik in Tübingen und Sydney arbeitet er zunächst für die grüne Bundestagsfraktion, er ist seit 1996 Mitglied der Partei.
2001 wird Palmer in den Stuttgarter Landtag gewählt, 2004 verfehlt er bei der Stuttgarter Oberbürgermeisterwahl eine Mehrheit. Seit 2007 ist Palmer Oberbürgermeister von Tübingen. 2014 erzielt er bei seiner Wiederwahl 61,7 Prozent. 2022 will Palmer erneut für das Amt antreten.
Als OB setzt sich Palmer für mehr Bürgerbeteiligung, Klimaschutz, sozialen Wohnungsbau und eine Wende in der Verkehrspolitik ein. Seinen Dienstwagen ersetzt er durch ein Elektrorad.
In der Bundespolitik gilt Palmer als Enfant terrible der Grünen. Mehrfach provoziert er mit seinen Positionen Kontroversen bei den Grünen, so bei der Flüchtlingspolitik. Wiederholt stoßen seine Äußerungen, etwa zum Lebensrecht in der Coronakrise oder zur Hautfarbe eines Radfahrers, auf Empörung. (taz)
Die Frage ist dann: Warum wiederholt er sie ohne Not? Egal, ob seine Bemerkung nun ironisch gemeint war, wie er beteuert, oder nicht: Palmer gibt eine unbelegte herabwürdigende und rassistische Behauptung wieder – samt einer diskriminierenden Vokabel, die viele Menschen verletzt. Ein Shitstorm nimmt am Freitagabend seinen Lauf: Aufmerksame MitleserInnen fertigen Screenshots, verbreiten sie über Twitter, Hunderte empören sich. Die Welle rollte.
Für die Grünen ein Vorfall zur Unzeit
Bei den Grünen laufen intern die Drähte heiß. Was tun? Erstmals in ihrer Geschichte sieht sich die Partei im Rennen ums Kanzleramt, sie zielt auf die ganze Gesellschaft – ein Rassismusskandal in den eigenen Reihen ist das Letzte, was Kanzlerkandidatin Baerbock gebrauchen kann. Außerdem ist es ja nicht das erste Mal, dass Palmer die Partei vor den Kopf stößt. Mit ihrem Statement am Samstagmorgen übt Baerbock Schadensbegrenzung. Sie geht auf maximale Distanz zu dem Tübinger – und droht mit Folgen. „Nach dem erneuten Vorfall beraten unsere Landes- und Bundesgremien über die entsprechenden Konsequenzen, inklusive Ausschlussverfahren.“
Wie diese aussehen, ist am Samstag zu besichtigen. Die Grünen in Baden-Württemberg halten einen digitalen Parteitag ab, eigentlich sollte es eine ungetrübte Feierstunde der Partei werden. Vor Kurzem sind sich die Grünen und die CDU einig über den Koalitionsvertrag unter Grün-Schwarz geworden. Der „grünste Koalitionsvertrag aller Zeiten“ (Winfried Kretschmann) sollte im Mittelpunkt stehen und mit ihm der einzige grüne Ministerpräsident, vielleicht noch ein paar Bundestagskandidaten dazu.
Palmers Entgleisung zieht die Aufmerksamkeit ab vom grünen Erfolg. Wie der schwierige Onkel, der die Familienfeier nach ein paar Schnäpsen mit Pöbeleien stört, zwingt er den Grünen eine ganz andere Debatte auf. Was in normalen Jahren nervt, kann im Wahljahr über Sieg oder Niederlage entscheiden.
Die Anklage
Wegen Palmer verzögert sich der Beginn des Parteitags um eine Dreiviertelstunde. Dann wird kurz über das Prozedere abgestimmt: Erst der Koalitionsvertrag, dann der nervige Parteifreund. Als der Tagesordnungspunkt „Abstimmung über ein Parteiordnungsverfahren gegen Boris Palmer“ aufgerufen wird, ist es schon Nachmittag. Der Landesvorsitzende Oliver Hildenbrand, in seiner stets verbindlichen Art das komplette Gegenteil von Boris Palmer, tritt vor das Mikrofon.
Erinnert daran, dass man ziemlich genau vor einem Jahr schon einmal über ein Parteiordnungsverfahren gegen den Tübinger Oberbürgermeister beraten habe. Damals ging es um seine Äußerung zu den Coronamaßnahmen. „Ich sag’s Ihnen mal ganz brutal: Wir retten in Deutschland möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären – aufgrund ihres Alters und ihrer Vorerkrankungen“, hatte Palmer damals im Fernsehen gesagt.
Danach beließ es die Partei beim Entzug der politischen Unterstützung und einer Aufforderung, die Grünen doch bitte zu verlassen. Vor einem Ausschluss waren die Grünen zurückgescheut, auch weil allen klar ist, wie zäh ein solches Verfahren ist.
Hildenbrand zählt weitere Entgleisungen Palmers auf. Wie er 2018 bei Facebook von rüpelhaftem Verhalten eines Radfahrers und seiner Hautfarbe darauf geschlossen hat, dass dieser ein Asylbewerber sein muss. Wie er es mit seiner Wortprägung vom „Menschenrechtsfundamentalismus“ auf die Liste der Unworte des Jahres gebracht hat. Er erwähnt Palmers Unmutsäußerungen über eine Werbekampagne der Bahn, an der der schwarze Koch Nelson Müller und die türkischstämmige Moderatorin Nazan Eckes beteiligt war. „Welche Gesellschaft soll das abbilden?“, fragte Palmer damals via Facebook.
Hildenbrands Liste von Palmers Ausfällen ist unvollständig, denn auch seine Redezeit ist beschränkt. Er erwähnt nicht, dass Palmer eine Liste mit auffälligen Flüchtlingen in seiner Stadt führen wollte und nach einem Vergewaltigungsfall vorgeschlagen hatte, Geflüchteten das Recht zu entziehen, einen DNA-Test zu verweigern. Nicht seine Forderung von 2016, gewalttätige Flüchtlinge in den syrischen Bürgerkrieg abzuschieben. Die Zahl der Fehltritte macht deutlich: Dieser irre Aogo-Palmer-Fall ist für sich genommen nicht das Anstößigste, was Palmer abgeliefert hat. Aber es bringt im Wahljahr das grüne Fass zum überlaufen.
Hildenbrand seziert Palmers Masche. Der erziele seine Aufmerksamkeit regelmäßig auf Kosten der Partei und folge dabei immer demselben Muster: Auf die Provokation folge eine Entschuldigung, aber auch der Hinweis, falsch verstanden worden zu sein. Dann kommt bald die teilweise Rücknahme der Entschuldigung, und dass man doch recht gehabt habe. Später setze Palmer mit neuen Provokationen nach. Das sei „die Kommunikationsweise der Populisten“, sagt Hildenbrand, „Palmer geht eindeutig zu weit, immer wieder zu weit. Das Maß ist voll.“
Da ist etwas dran: Palmer wird deshalb so gerne in Talkshows eingeladen, weil er als Grüner provokante Thesen vertritt. Ein CDU-Bürgermeister, der gewalttätige Flüchtlinge nach Syrien abschieben will, wäre nicht einmal halb so interessant. Aber Palmer ist eben auch ein fähiger und in der Bevölkerung beliebter Kommunalpolitiker. Tübingen prosperiert, die klimapolitische Bilanz ist gut. Auch Palmers Corona-Modellprojekt bekam gute Presse, weil es alternative Wege in der Pandemiebekämpfung wies.
Die Gegenrede
Der Grünen-Parteitag hat nur eine Gegenrede vor der Abstimmung zugelassen. Boris Palmer, und das passt ins Bild, hält sie selbst. Aus Tübingen zugeschaltet, in seinem Arbeitszimmer mit Dreitagebart und weißem Hemd sitzend, verliest er seine Stellungnahme. Er erklärt noch einmal, den zitierten Post als Satire verstanden zu haben. Seine Absicht sei es gewesen, den öffentlichen Groll gegen Aogo ins Groteske zu steigern. Er verweist wieder auf seinen Vater Helmut, der als renitenter Remstal-Rebell einmal wegen eines Hakenkreuzes, mit dem er gegen Nazis in Führungspositionen protestiert hat, vor Gericht kam. Auch da sei das ironische Mittel einfach ignoriert worden.
Boris Palmer, Oberbürgermeister von Tübingen
Der Rest der Rede ist Trotz und Palmer’sche Selbstüberschätzung. Er sei mehr denn je davon überzeugt, dass die Partei ihn brauche, sagt er. Wie vorher Dennis Aogo werde er zum Opfer der Cancel Culture. Der Antrag heute verfolge im Kern das Ziel, eine abweichende Meinung zum Verstummen zu bringen, glaubt Palmer. „Gutmeinende Freunde raten mir, ich solle mich jetzt entschuldigen. Das ist das, was die Cancel Culture mindestens verlangt. Abbitte und Unterwerfung.“
Weil er dazu nicht bereit ist, rät Palmer den Delegierten, für das Parteiordnungsverfahren zu stimmen. Er wolle die „vollkommen haltlosen Vorwürfe ein für allemal aus der Welt schaffen“. Und diesmal folgen die Parteifreunde Palmer. Eine solide Zweidrittelmehrheit der Delegierten stimmt für das Verfahren, an dessen Ende Palmers Parteiausschluss stehen könnte.
Das Prozedere wird sich allerdings in die Länge ziehen. Zwischen drei und sechs Monaten könnte es dauern, heißt es bei den baden-württembergischen Grünen. Zuständig dürfte die Kreisschiedskommission in Tübingen sein. Sollte sie Palmer ausschließen, könnte er binnen 30 Tagen nach Bekanntgabe des schriftlichen Beschlusses das Landesschiedsgericht anrufen. Danach wäre noch eine Berufung vor dem Bundesschiedsgericht möglich. Den Grünen droht also ein öffentlichkeitswirksamer Dauerstreit im Bundestagswahlkampf.
Boris Palmer wäre nicht Boris Palmer, wenn er klein beigeben würde.
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