Correctiv-Recherche: Rechte profitieren von Enthüllungen
Für die AfD und Rechtsextremist Martin Sellner ist es ein großer Erfolg, dass ihr „Geheimtreffen“ aufflog. Ihre Schlagworte sind jetzt in aller Munde.
Werden sie uns mit FlixBus deportieren?“, fragte die Publizistin Mely Kiyak mal. Nur wer das für eine überspitzte Polemik hielt, dürfte jetzt überrascht sein, dass Rechtsextremisten ganz offen und nüchtern über ihre rassistischen Deportations- und Vertreibungspläne sprechen. Jenen, von deren Deportation deutsche Rechtsextremisten träumen, war schon immer klar, das sie genau das meinen, was sie sagen. Auch wenn sie heute, statt „Ausländer raus“ zu grölen, vornehm „Remigration“ dazu sagen. Das klingt akademischer, meint aber das Gleiche.
Für die Rechtsextremisten in der AfD und um den „Identitären“ Martin Sellner ist es ein großer Erfolg, dass ganz Deutschland jetzt über ihren angeblichen „Masterplan“ spricht. Die Enthüllung des Recherche-Teams von Correctiv, dass sich eine illustre Schar aus Unternehmern, AfD-Funktionären und rechten CDU-Mitgliedern im November in einem Hotel in Potsdam traf, um den Ausführungen des Nazi-Hipsters und Aktivisten Martin Sellner zu lauschen, schlägt zu Recht hohe Wellen.
Sie wirft ein Schlaglicht auf rechte Netzwerke, die in Politik und Wirtschaft hineinreichen. Die breite Berichterstattung trägt aber unfreiwillig dazu bei, dass das Schlagwort „Remigration“ nun in aller Munde ist. Es ist das erklärte Ziel von Martin Sellner und Götz Kubitschek, diesen Begriff in die Debatte einzubringen und damit die Grenzen des Sagbaren zu verschieben, um ihn gesellschaftsfähig zu machen. Das ist ihnen gelungen.
Schwer auflösbares Dilemma
Es gibt eine Theorie, die ihr strategisches Vorgehen beschreibt: das „Overton“-Fenster, benannt nach dem amerikanischen Politologen Joseph Overton. Was bislang undenkbar schien, wird nun zwar als extreme Idee wahrgenommen, aber dadurch auch denkbar. Kritiker müssen das ernst nehmen und darauf reagieren, wodurch die Idee plötzlich diskutabel erscheint. Für Medien ist das ein schwer auflösbares Dilemma, denn sie können solche Treffen wie in Potsdam und das, was dort gesprochen wird, schlecht ignorieren. Rechtsextreme wissen das für sich zu nutzen.
In der AfD wird schon lange über „Remigration“ diskutiert. Die Rechtsextremisten machen keinen Hehl daraus, dass sie möglichst viele Menschen, die nach Deutschland geflohen oder eingewandert sind, aus Deutschland weghaben wollen. Martin Sellner erklärt zu den Enthüllungen denn auch, sein Plan sei gar nicht geheim, sondern werde „im patriotischen Lager breit und öffentlich diskutiert“ und er umfasse „nicht nur Abschiebungen, sondern auch „Leitkultur und Assimilationsdruck“.
Dass AfD-Politiker die „millionenhafte Remigration“ oder eine „komplette Abschiebung“ (Gottfried Curio) fordern, ist in der Tat nicht neu. Unklar blieb bisher nur, wen genau sie damit meinen. Sellner beschränkt seine Vertreibungsfantasien nicht nur auf Asylbewerber, sondern weitet sie explizit auf „nicht assimilierte Staatsbürger“ aus. Diese sollen aus Deutschland vergrault werden, indem man ihnen das Leben so schwer wie möglich macht. Wo die AfD politische Macht erhält, wird sie das tun. Schikanen sind ein Mittel zum Zweck. Menschen, die neben dem deutschen Pass noch den eines anderen Landes besitzen, sollen ihre deutsche Staatsbürgerschaft im Zweifel wieder verlieren können.
Zwischen Mainstream und Extrem
Riskant sind solche öffentlichen Gedankenspiele, weil sie den Forderungen, die AfD zu verbieten, neuen Auftrieb geben. Die etablierten Parteien wären aber glaubwürdiger, sich über den Rassismus der AfD zu empören, wenn sie manche Grundgedanken nicht schon selbst übernommen hätten. Als Olaf Scholz auf dem Spiegel-Cover drohte: „Wir müssen endlich im großen Stil abschieben“, war auf den ersten Blick nicht klar, wen er damit meinte – viele fühlten sich davon bedroht.
Die Union wiederum hielt es für eine gute Idee, ausgerechnet am 9. November zu fordern, deutschen Staatsbürgern mit Zweitpass die deutsche Staatsbürgerschaft im Zweifel zu entziehen, wenn sie aufgrund einer antisemitischen Straftat verurteilt wurden. Das mag gut gemeint sein, aber Ausbürgerungen stehen eher Diktaturen zu Gesicht. Das zeigt: Manche Forderung, die mal als extrem galt, ist längst im Mainstream angelangt. Das Fenster hat sich schon verschoben.
Links lesen, Rechts bekämpfen
Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Autoritäre Auswüchse beim BSW
Lenin lässt grüßen
Prozess zum Messerangriff in England
Schauriger Triumph für Rechte
BSW in Thüringen auf Koalitionskurs
Wagenknecht lässt ihre Getreuen auf Wolf los
Rückgabe von Kulturgütern
Nofretete will zurück nach Hause
Nahostkonflikt in der Literatur
Literarischer Israel-Boykott
Kamala Harris’ „Abschlussplädoyer“
Ihr bestes Argument