Antisemitismus-Debatte in Deutschland: Ausweitung der Tabuzone
Die deutsche Definition von „Antisemitismus“ schadet einer offenen Debatte – und grenzt ausländische und jüdische Künstler und Intellektuelle aus.
Das Ghetto wird liquidiert“, schrieb Masha Gessen mit Blick auf Israels Kriegsführung in Gaza. Hierzulande sorgte dieser Satz in einem Essay, der im Magazin New Yorker erschien, für einen Eklat. Denn in Deutschland hat man sehr weitreichende Vorstellungen davon, was man in Bezug auf Israel alles nicht sagen darf.
Der Meinungskorridor wird deshalb immer enger – und es könnte noch schlimmer kommen, wenn Kulturstaatsministerin Claudia Roth vor dem Druck einknickt, der nach der Berlinale wieder zugenommen hat. Dass der israelische Botschafter Ron Prosor sie und die Kulturminister jetzt dafür lobte, dass sie die Kunstförderung unter „Antisemitismus“-Vorbehalt stellen wollen, ist ein schlechtes Zeichen.
Seit 2017 stützt sich Deutschland auf eine Antisemitismus-Definition, die von der israelischen Regierung propagiert wird. Sie wurde 2016 von der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) beschlossen. Kritiker monieren, dass sie berechtigte Kritik an Israel als antisemitisch abstempelt, und fürchten, dass sie der Willkür von Behörden Tür und Tor öffnet. Misstrauisch stimmen sollte, dass Donald Trump und Viktor Orbán die IHRA-Definition freudig übernommen haben.
Wer, wie Gessen, Israels Vorgehen mit NS-Verbrechen vergleicht, der handelt laut IHRA-Definition antisemitisch, Punkt. Gessen stammt aus einer jüdischen Familie von Holocaust-Überlebenden und wollte nicht deutsche Nazi-Verbrechen verharmlosen, sondern israelische Kriegsverbrechen skandalisieren. Doch über solche Unterschiede geht die IHRA-Definition plump hinweg. Überwiegend jüdische Autoren und Experten verfassten deshalb 2021 als Gegenentwurf die „Jerusalemer Erklärung“ – eine Definition, die Kritik an Israel und Antisemitismus strikt unterscheidet.
NS-Vergleiche sind nicht per se tabu
In Deutschland hat die IHRA-Definition inzwischen quasi amtlichen Status erlangt. Die Bundesregierung empfiehlt, sie in der Schul- und Erwachsenenbildung, in Justiz, Verwaltung und Polizei einzusetzen, die Hochschulrektorenkonferenz übernahm sie vor fünf Jahren. Auf Grundlage der IHRA-Definition verabschiedete der Bundestag 2019 seine umstrittene BDS-Resolution. Boykott-Aufrufe gegen Israel erinnerten an „die schrecklichste Phase der deutschen Geschichte“, hieß es damals – ein NS-Vergleich, der bemerkenswerterweise kaum auf Kritik stieß.
Denn NS-Vergleiche sind in Deutschland nicht per se tabu. Werden Putin oder Erdoğan mit Hitler verglichen, sind wenige empört. Wenn Israels Premier Netanjahu die Hamas mit Nazis gleichsetzt, sich Israels UN-Botschafter einen Judenstern anheftet oder der israelische Armeesprecher das Hamas-Massaker als „Mini-Holocaust“ bezeichnet, finden sie hierzulande sogar Fürsprecher.
Diese Doppelstandards haben zugenommen. Bundesinnenministerin Nancy Faeser ließ den palästinensischen Slogan „From the River to the Sea“ verbieten, Grünen-Chef Robert Habeck nannte ihn gar eine „Auslöschungsfantasie“. Die Zahl der registrierten antisemitischen Straftaten ist auch deshalb stark angestiegen, weil die Behörden angehalten sind, solche Slogans strikt zu verfolgen. Aber was ist dann die fast gleich lautende Formulierung im Gründungsprogramm von Netanjahus Likud-Partei, in der diese seit 1977 den Anspruch auf ein Großisrael vom Mittelmeer bis zum Jordan erhebt?
Welche Worte sind noch gestattet?
Die deutsche Dauerempörung über politisch angeblich inkorrekte Kritik an Israel führt dazu, dass die Tabuzone immer größer wird. Ruft jemand auf einer Demonstration „Kindermörder Israel“, holen manche gleich die Polizei. Aber welche Worte sind angemessen, um Israels Vorgehen im Gazastreifen anzuprangern, das mehr Kinder das Leben gekostet hat als alle anderen Kriege der letzten vier Jahre zusammen? Die Zerstörung von Gaza ist beispiellos. Aber wehe, jemand nennt das einen „Vernichtungskrieg“!
Neuerdings behaupten manche sogar, rote Handflächen – ein universelles Symbol dafür, dass jemand „Blut an den Händen“ hat – bedeuteten in Israel etwas ganz anderes als im Rest der Welt. Dieser Unsinn wird selbst von seriösen Feuilletonisten verbreitet.
Kulturell-intellektuelle Provinzialisierung
Die Deutschen haben den Ruf, ein Volk der Oberlehrer und Gesinnungspolizisten zu sein. Eifernde „Antisemitismus“-Jäger wie Volker Beck bestätigen dieses Klischee. In der Kulturszene hat das zu einem Klima der Angst und (Selbst-)Zensur geführt. Sie trifft vor allem ausländische – und sehr oft jüdische – Künstler und Intellektuelle.
Das Saarlandmuseum sagte eine für 2024 geplante Ausstellung der jüdischen Künstlerin Candice Breitz aus Südafrika ab. Eine Vortragstour der 88-jährigen Holocaust-Überlebenden Marione Ingram in ihrer Geburtsstadt Hamburg wurde abgesagt. Die Liste ließe sich beliebig verlängern. Elon Musk dagegen kann auf X so viele antisemitische Verschwörungstheorien teilen, wie er will – wenn er nach Berlin kommt, steht der Bürgermeister für ein Selfie stramm.
Intellektuelle von Weltrang wie Achile Mbembe, Judith Butler und Naomi Klein dagegen machen längst einen Bogen um Deutschland. Die US-Künstlerin Laurie Anderson zog sich von einer Folkwang-Gastprofessur in Essen zurück. Die diesjährige Biennale für aktuelle Fotografie wurde abgesagt. Die Zukunft der documenta ist ungewiss. Und wer möchte noch zur Berlinale kommen, wenn er befürchten muss, hinterher als „Antisemit“ beschimpft zu werden? Dem deutschen Feuilleton scheint das egal: Es heizt die von Bild-Zeitung und rechten Blogs angefeuerte moralische Panik noch an.
Laut einer Allensbach-Umfrage aus dem vergangenen Jahr glauben nur noch 40 Prozent der Deutschen, ihre Meinung frei äußern zu können, und gaben an, sich deshalb zurückzuhalten. Eine Ausnahme bildeten nur Anhänger der Grünen und Akademiker. Möglicherweise gibt es einen Zusammenhang zu den toxischen Antisemitismus-Debatten in diesem Land. Sie schüchtern viele Menschen ein.
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