Alkoholkonsum in Deutschland: Der billige Rausch
Die Ärztekammer fordert mehr Steuern auf Alkohol. Das ist richtig. Nur: Es braucht dringend auch ein gesellschaftliches Umdenken.
In Deutschland ist es selbstverständlich, Alkohol zu trinken. Wer nicht trinkt, wird sehr oft gefragt, warum das so ist: Schwanger? Religiös? Ach, du fährst heute vermutlich noch. Es ist so normalisiert, Alkohol zu trinken, dass wir dabei vergessen, dass es eine Droge ist. Eine Droge, von der circa 1,6 Millionen der 18- bis 64-Jährigen in Deutschland abhängig sind. 6,7 Millionen Menschen in dieser Altersklasse konsumieren sie in „gesundheitlich riskanter Form“.
Alkoholkrankheit kann zu weiteren Erkankungen wie Krebs, Bluthochdruck, Erkrankungen an der Bauchspeicheldrüse oder der Leber führen. Laut einer Studie der Uni Greifswald ist das Leben von Alkoholiker:innen durchschnittlich etwa 20 Jahre kürzer. Ebenso hat es Auswirkungen, die nicht nur die Person selbst betreffen: Kinder von Alkoholkranken leiden in vielen Fällen unter häuslicher Gewalt, Misshandlung und Vernachlässigung – und werden später oft selbst zu Alkoholiker:innen.
Dazu kommen gesellschaftliche Folgen wie Autounfälle, Diebstähle und Arbeitsunfähigkeit. Alkoholsucht ist also ein Problem, das direkt oder indirekt die ganze Gesellschaft betrifft. Wie also damit umgehen?
Der Suchtexperte und Ärztekammer-Vertreter Erik Bodendieck forderte in der Bild anlässlich des Ärztetags, „endlich wirksame Maßnahmen (zu) ergreifen, um den Alkoholkonsum zu senken“. Deutsche würden im Durchschnitt 10,2 Liter Reinalkohol jährlich trinken, beinahe doppelt so viel Menschen wie im Rest der Welt. Der Alkoholkonsum fordere Jahr für Jahr rund 74.000 Todesopfer. Als Maßnahme nennt Bodendieck höhere Steuern für Alkohol und das Verbot von Werbung und Sponsoring sowie eine zeitliche Verkaufsbeschränkung von Suchtmitteln.
Bier so günstig wie Limo
Es ist ein wichtiger erster Schritt, um beispielsweise Jugendlichen den Zugang zu Alkohol zu erschweren – und damit den Einstieg zum regelmäßigen und günstigen Rausch. Solange Bier im Späti genauso viel kostet wie Limo, ist der Griff zum Bier so selbstverständlich wie der zur Limo. Kein Zögern, kein Rechnen, ob das Geld im Portemonnaie noch reicht. Es gibt bereits die Regelung, dass das günstigste Getränk auf der Karte ein alkoholfreies sein muss. Der sogenannte „Apfelsaft-Paragraf“ führt dazu, dass das günstigste Getränk oft Wasser ist, danach kommt Bier, viel Alkoholfreies ist teurer.
Doch was ist mit all den Menschen, die schon süchtig sind? Was ist mit den Leuten, die sich denken: „Ist mir doch egal, ich trinke eh nur Wein, wenn er mehr als 60 Euro kostet“? Es ist eine Krankheit, die nicht dadurch verschwindet, dass die Zugänglichkeit erschwert wird und die Preise steigen.
Alkoholsucht und Stigma
Alkoholsucht ist in der Gesellschaft so weit verbreitet, dass man sich in Deutschland endlich damit auseinandersetzen muss – und zwar umfassend. Es braucht eine Enttabuisierung, wir müssen nicht nur wegkommen von den Storys, in denen es total cool und männlich ist, übelst viel Alkohol zu trinken und am nächsten Tag nicht zu wissen, wie der Abend verlaufen ist.
Wir müssen auch wegkommen vom Stigma, das Alkoholkranken oft entgegenschlägt. Ihnen wird oft die Schuld an ihrer Sucht gegeben. Als läge es an der schwachen Selbstkontrolle der Betroffenen. Dabei wird verkannt, dass Süchtige die Kontrolle über ihren Konsum längst abgegeben haben. Schambehaftet gestehen sich viele Süchtige deshalb ihre Alkoholkrankheit nicht ein und suchen keine professionelle Hilfe.
Alkoholkonsum darf nicht mehr selbstverständlich sein
Zu den Maßnahmen, die die Ärztekammer fordert, gehört eine „solide Finanzierung der ambulanten Suchthilfe durch Länder und Kommunen, um weiterhin einen kostenfreien und unkomplizierten Zugang sicherzustellen“. Auch sollen „praxisnahe Unterrichskonzepte im Medizinstudium für die Suchtmedizin entwickelt“ werden und Suchtmedizin als Querschnittsfach verankert werden.
Dass die Ärztekammer diese Maßnahmen fordert, ist richtig, nun sollte gesellschaftlich nachgezogen werden: Das Thema allein ist ja kein rein medizinisches. Dass die Gefahr von übermäßigem Alkoholkonsum etwas nicht Ernstzunehmendes ist, wovon man selbst nicht betroffen ist, gehört wie selbstverständlich zum Alltag in Deutschland. Bei Zigaretten und anderen Drogen ist das ganz anders. Man stelle sich vor, im Büro würde ganz offen über Bücher diskutiert, die nicht „Endlich Nichtraucher“, sondern „Endlich trocken!“ heißen. Es scheint unvorstellbar.
Das fängt schon damit an, dass Eltern bei Kindern wie selbstverständlich mal zum 12. Geburtstag ein Bier oder mit 14 zur Einschulung der kleinen Schwester erlauben mit Sekt anzustoßen. Und überhaupt: Wer etwas zu feiern hat, kann auch anders feiern als mit Champagner.
Kostenlose Alkohol-Werbung auf Instagram
Wer Feierabend hat, braucht nicht unbedingt ein Feierabendbier, auch Eis oder ein Kinobesuch lenken vom anstrengenden Arbeitstag ab. Restaurants und Lokale sollten öfter mal eine Bubbletea- oder Saftkarte haben als eine Weinkarte. Und das Foto vom Aperol Spritz vorm Sonnenuntergang muss auf Instagram aus mehreren Gründen echt niemand sehen – nicht zuletzt, weil es eine unangebrachte Romantik assoziiert.
Das Umdenken sollte damit anfangen, dass Alkohol nicht als naheliegende Lösung gesehen wird in einer Krise. Das dient oft als flacher Witz, ist aber für viele Realität. Das Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim (ZI) kam zu dem Ergebnis, dass der Alkoholkonsum zu Hause seit Beginn der Coronapandemie bei jeder dritten Person gestiegen ist.
Alkohol löst keine Krisen, er verstärkt sie eher noch. Eigentlich wissen wir das längst alle, warum fällt es uns so schwer, das offen zu kommunizieren?
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
Linke gegen AfD und BSW
Showdown in Lichtenberg
Stellenabbau bei Thyssenkrupp
Auf dem Rücken der Beschäftigten