+1,5-Grad-Grenze bei der Erderhitzung: Wir haben an der Uhr gedreht
In den kommenden Jahren wird die +1,5-Grad-Grenze sehr wahrscheinlich überschritten. Gerade dann wird die Grenze noch gebraucht.
W ir haben die Zeit umgestellt. Auf taz.de zählt eine Uhr seit zwei Jahren die Zeit herunter, bis das weltweite CO2-Budget aufgebraucht ist, um das +1,5-Grad-Ziel bei der Erderhitzung einzuhalten. Nun hat eine neue Studie dieses Budget deutlich reduziert. Lief die Uhr vorher erst im Jahr 2029 aus, ist nun schon 2026 Schluss – falls die weltweiten Emissionen nicht deutlich sinken. Wir haben in den letzten drei Jahren drei Jahre für den Klimaschutz verloren.
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Es gibt viele Anzeichen dafür, dass das +1,5-Grad-Ziel nicht mehr zu halten ist. Viele Forscher*innen, Journalist*innen und Politiker*innen haben es deshalb aufgegeben und fordern von anderen, das auch zu tun. Doch gerade jetzt, wo es scheitern könnte, ist das Ziel wichtiger denn je. Es konkretisiert den Anspruch, den wir Menschen an uns selbst haben. Es buchstabiert die Folgen aus, wenn wir nicht schnell und konsequent genug handeln. Und – wenn es einmal gescheitert ist – es wird die Utopie sein, zu der wir versuchen sollten, zurückzukehren.
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So funktioniert die CO2-Uhr
Im Weltklimabericht werden die Budgets für mehrere internationale Grenzen für die Erderhitzung berechnet. Die Idee basiert auf der Erkenntnis, dass die kumulativen CO2-Emissionen fast linear mit dem Temperaturanstieg durch den Klimawandel zusammenhängen. Da es dennoch eine Unsicherheit gibt, wie viel Erderhitzung eine bestimmte Menge CO2 in der Atmosphäre auslösen wird, sind diese Budgets mit Wahrscheinlichkeiten versehen. Für die CO2-Uhr nutzen wir das Budget, das mit 66-prozentiger Wahrscheinlichkeit das +1,5-Grad-Ziel einhalten wird. Die CO2-Uhr nimmt an, dass weltweit jährlich 40 Milliarden Tonnen CO2 ausgestoßen werden und rechnet diese auf einen Sekundenwert herunter, nämlich 1267 Tonnen pro Sekunde. In der Berechnung werden sowohl im Budget als auch beim Ausstoß nur die CO2-Emissionen berechnet. Es wird angenommen, dass sich der Ausstoß der anderen Treibhausgase proportional gleich verändert. Das ursprüngliche Budget wurde im ersten Teil des aktuellen Weltklimaberichtes 2021 veröffentlicht und 2023 in einer neuen Studie deutlich reduziert. Lag es für Anfang 2020 noch bei 400 Milliarden Tonnen, sind es Anfang 2023 nur noch 150 Milliarden Tonnen. Der Wert für den jährlichen Ausstoß wurde im Global Carbon Budget 2022 neu berechnet. Dieser Wert war für das Jahr 2020 noch mit 42,2 Milliarden Tonnen angegeben, hat sich seitdem also leicht verringert.
Im Pariser Abkommen verpflichten sich fast alle Regierungen der Welt darauf, die Erderhitzung auf deutlich weniger als 2 Grad Celsius über dem vorindustriellen Durchschnitt zu begrenzen – und möglichst auf 1,5 Grad. Dieses anspruchsvollere Ziel war vor allem von Ländern im Globalen Süden, insbesondere von Inselstaaten, durchgesetzt worden, die Folgen wie Hitzeextreme und Meeresspiegelanstieg deutlich früher zu spüren bekommen.
Vom Weltklimarat heißt es: Um das +1,5-Grad-Ziel einzuhalten, müssen die Emissionen noch vor 2025 ihren Höchststand erreichen. Ein Blick in die Klimaszenarien des Gremiums zeigt aber: Die weltweiten Emissionen sind seit 2021 so hoch, dass sie nur noch zu Szenarien passen, in denen die +1,5-Grad-Grenze überschritten wird.
Auch die gemessenen Temperaturen bestätigen den Trend. Schon jetzt ist der langjährige Durchschnitt bei der Erderhitzung knapp unter +1,2 Grad. Die Weltwetterorganisation prognostiziert, dass es vor 2027 das erste Einzeljahr geben könnte, das 1,5 Grad heißer ist als die Welt vor dem Industriezeitalter. Der langjährige Durchschnitt wird wohl wenige Jahre später auch darüber steigen.
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Deadline gegen Klima-Prokastination
Menschen, die die Bedeutung des +1,5-Grad-Ziels abschwächen wollen, weisen oft darauf hin, dass +1,5 Grad klimatologisch nicht bedeutender sind als beispielsweise +1,4 Grad oder +1,6 Grad. Mit jedem Anstieg verschlimmern sich die Konsequenzen des Klimawandels. Deshalb sei dieses konkrete Ziel nicht so wichtig wie der baldige Stopp der Emissionen. Sei das +1,5-Grad-Ziel einmal überschritten, ändere sich nichts, auch dann müsse mindestens genauso stark um +1,6 oder +1,7 Grad gekämpft werden.
Nur um es noch einmal deutlich zu machen: Dass die +1,5-Grad-Grenze gerissen wird, ist keine physikalische Notwendigkeit. Wissenschaftler*innen gehen davon aus, dass sich die Erderhitzung stabilisiert, sobald Emissionen beendet werden und die Welt sich dann langfristig abkühlt. Würden heute alle Emissionen aufhören, würde die Erderhitzung bei +1,2 Grad stoppen. Das Problem ist ein menschengemachtes, und dass es nicht bald gelöst ist, hängt mit der Lethargie und Prokrastination der vergangenen Jahrzehnte zusammen.
Gegen das Prokrastinieren hilft oft, sich konkrete Deadlines zu geben – egal wie beliebig sie ausfallen. Das +1,5-Grad-Ziel ist eine solche Deadline.
Was gibt es zu gewinnen, wenn das +1,5-Grad-Ziel eingehalten wird? Ein Bericht des Weltklimarates und zahlreiche Studien haben das ausformuliert: Unter +1,5 Grad Erderhitzung ist die Wahrscheinlichkeit, dass geologische Kipppunkte wie das Abschmelzen des Grönland-Eisschildes ausgelöst werden, deutlich geringer. Zahlreiche Tier- und Pflanzenspezies können in viel größeren Gebieten überleben. Hunderten Millionen Menschen wird erspart, dass sie unter unmenschlichen Temperaturen von mehr als 29 Grad im Jahresdurchschnitt leben müssen.
Der kälteste Sommer des Rest ihres Lebens
Bereits in diesem Jahr gab es den heißesten Mai und den heißesten Juni seit Beginn der Aufzeichnungen, im Juli wurde erstmals eine weltweite Durchschnittstemperatur von mehr als 17 Grad gemessen und das an mehreren Tagen in Folge. Weltweit gibt es beispiellose Hitzewellen und Waldbrände. Das Jahr 2023 könnte das bislang heißeste Jahr 2016 ablösen. Und trotzdem wird dieses Jahr insgesamt wohl knapp unter +1,5 Grad liegen.
Wird das +1,5-Grad-Ziel nicht eingehalten, wird dieser Sommer voller Hitzerekorde für viele Kinder einer der kältesten ihres Lebens werden. In einer +1,5-Grad-Welt wird jedes zweite Jahr heißer sein, in einer +2-Grad-Welt wird mit wenigen Ausnahmen jedes einzelne Jahr heißer sein.
Jetzt, wo die Grenzüberschreitung in die Nähe rückt, ist es wichtig, zunächst drei Ereignisse voneinander zu unterscheiden: Viele glauben, dass die Grenze bereits überschritten ist, wenn in einem einzigen Jahr die +1,5 Grad gemessen werden. Überschritten ist die +1,5-Grad-Grenze aber erst, wenn das so oft passiert, dass auch der Durchschnitt von zwanzig Jahren darüber liegt. Endgültig an dem Ziel scheitern wird die Menschheit erst, wenn die Erderhitzung auch 2100 über +1,5 Grad liegt.
Keine politischen Zusagen aufgeben
Die Berichte des Weltklimarates sind das Ergebnis langer Verhandlungen zwischen fast 200 Regierungen der Welt. Schon jetzt wird an vielen Stellen deutlich, wie Regierungen ihre Zusagen nachträglich abschwächen – die reichen Länder zahlen beispielsweise schon seit Jahren nur einen Bruchteil der versprochenen Gelder für Klimaschutz und Klimaanpassung im Globalen Süden.
Unter diesen Umständen wäre es fatal, eine so deutliche politische Zusage wie das +1,5-Grad-Ziel aufzugeben: Sie ist der konkrete Anspruch dieser Regierungen, an dem sie auch gemessen werden können.
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Der aktuellste Weltklimabericht geht davon aus, dass das +1,5-Grad-Ziel nur noch erreicht werden kann, wenn die Erderhitzung für einige Jahrzehnte über +1,5 Grad steigt und dann wieder sinkt. Die Regierungen der Welt gehen also implizit davon aus, dass noch nicht praxisfähige und extrem teure Technologien, wie CO2 aus der Luft zu entnehmen, verwendet werden. Jede heute vermiedene Tonne CO2 wäre billiger, und wenn es einmal so weit ist, werden die Regierungen sicher versuchen, sich vor den viel höheren Kosten des nachträglichen Klimaschutzes zu drücken. Dann müssen sie an ihre Verpflichtung auf das +1,5-Grad-Ziel erinnert werden. Dorthin muss der Weg zurückführen.
Wir haben noch Zeit
Noch sind die +1,5 Grad aber nicht überschritten. Das Ziel aufzugeben, würde bedeuten, all jene zu verraten, für die der Slogan „One point five to survive“ Realität ist, also jene, für die die +1,5-Grad-Grenze Überleben bedeutet. Und auch für jene, für die eine deutlich niedrigere Grenze überlebenswichtig gewesen wäre, denn schon jetzt leiden zahlreiche Länder unter Wassermangel, Landverlust, Nahrungsmittelunsicherheit, Extremwetter und Hitzewellen mit unmenschlichen Temperaturen.
Solange die Grenze noch nicht überschritten ist, lohnt es sich, für ihre Einhaltung zu kämpfen – und für jedes Zehntelgrad darunter. Es gibt auch gute Gründe, möglichst schnell zu handeln: Noch emittieren wir viel pro Jahr, in Zukunft werden wir weit weniger emittieren. Jede Tonne CO2, die jetzt eingespart wird, schont Jahr für Jahr das Gesamtbudget und gibt der Menschheit in Zukunft Wochen, Monate oder gar Jahre für weiteres Handeln.
Sinken die Emissionen signifikant, wird unsere CO2-Uhr wieder mehr Zeit bekommen. Ihr Ticken kann bedeuten: Unsere Zeit läuft aus. Sie bedeutet aber auch: Wir haben noch Zeit. Was ist in drei Jahren möglich?
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