Militärhistoriker über Kriegstüchtigkeit: „Wir brauchen als Republik einen demokratischen Krieger“
Die BRD ist wehrunfähig – und in Gefahr. Der Militärhistoriker Sönke Neitzel fordert einen Wehrdienst und weiß: Frieden gibt’s nicht zum Nulltarif.
taz: Herr Neitzel, Sie haben die SPD kürzlich „ein Sicherheitsrisiko für Deutschland“ genannt. Da wussten Sie noch nicht, dass mit Matthias Miersch ein Freund von Ex-Kanzler Gerhard Schröder SPD-Fraktionsvorsitzender im Bundestag geworden ist. Wie würden Sie die Aussage jetzt steigern?
Sönke Neitzel: Das mit dem „Sicherheitsrisiko“ bezog sich auf die Frage der Wehrpflicht. Es war für mich erstaunlich, dass im Koalitionsvertrag zwischen Union und SPD steht: „Wir schaffen einen neuen attraktiven Wehrdienst, der zunächst auf Freiwilligkeit basiert.“ Jeder weiß, dass das nicht funktioniert.
taz: Was sagen denn die Politiker, die Sie treffen, dazu?
Sönke Neitzel: Ein Argument, was dann immer kommt, ist: Wir haben erst mal genug Freiwillige.
taz: Was spricht dagegen?
Sönke Neitzel: Die Bundeswehr kommt schon jetzt nicht auf die Sollstärke. Außerdem: Von den aktuell 180.000 Soldaten müssten sie mindestens 20.000 abziehen, weil die gar nicht mehr voll einsatzfähig sind. Ein anderes Argument ist, dass es schädlich wäre für die Wirtschaft. Der eigentliche Grund bei der SPD ist natürlich, dass der linke Flügel das nicht will. Es gibt in einer liberalen Demokratie immer Widerstände. Nur erwarte ich von Politik, dass sie die Lage analysiert und dann handelt. Adenauer hat nicht gewartet, bis alle mit der Wiederbewaffnung einverstanden waren. Schmidt und Kohl haben beim Nato-Doppelbeschluss die Lage analysiert, öffentlich den klaren Sachverhalt benannt und dann entschieden.
taz: Hier reden drei ältere Männer über Dienstpflicht und Krieg. Wir werden aber nicht diejenigen sein, die die Hauptlast zu tragen haben.
Sönke Neitzel: Ich habe das 15 Monate gemacht, meine Wehrpflicht als Soldat erfüllt. Und ich wäre auch heute wieder bereit, einen Dienst an der Waffe zu leisten.
taz: Was sagen Sie jungen Menschen heute?
Sönke Neitzel: Bei allen Klagen ist Deutschland immer noch ein sehr attraktives Land. Es lohnt sich, für diese Gemeinschaft einzutreten. Wir brauchen jedes Jahr 30 bis 40.000 Männer und Frauen für die Verteidigung dieses Gemeinwesens. Wir sind 82 Millionen Menschen. Wenn wir sagen, wir kriegen das nicht hin, dann läuft etwas schief.
taz: Männer und Frauen würden Sie gleichbehandeln?
Sönke Neitzel: Für eine Wehrpflicht für Frauen müsste das Grundgesetz geändert werden, wofür es keine Mehrheiten gibt. Ich bin aber dafür: Männer und Frauen werden gleichbehandelt. Wir hatten Frauen, die in Afghanistan gekämpft haben, die Gruppen- und Zugführer waren. Wenn wir diese Gesellschaft erhalten wollen, dann würde ich die Frauen prinzipiell auch mit in die Pflicht nehmen. Es ist übrigens ein Trugschluss, dass ein Krieg nur die Jüngeren betrifft. In der Ukraine kämpfen viele ältere Männer. Der älteste Mann, den die Bundeswehr trainiert hat, war 71 Jahre alt. Und der saß nicht im Büro, der ging an die Front. Das ist nicht unbedingt zur Nachahmung zu empfehlen, aber ich meine, dass wir alle gefragt sind, unsere Republik zu verteidigen – auf die eine oder andere Weise.
taz: Im Vergleich zu den Jahren, als Sie in der Bundeswehr waren, ist die soziale und finanzielle Ungleichheit gewachsen, Rassismus wird klarer benannt, Schwarze Menschen werden von der Polizei erschossen. Wir haben nicht alle das Gleiche zu verteidigen.
Sönke Neitzel: Heute ist die Gesellschaft viel diverser. Und klar gibt es Leute, die hier leben und keinen Bezug zu diesem Staat haben. Aber wenn wir diesen Schritt nicht tun, wird der Krieg wahrscheinlicher: Weil wir nicht abschrecken, weil wir Signale der Schwäche senden. Mit dem Motto: Auf Kämpfen haben wir keinen Bock. das sollen die Amerikaner machen, kommen wir nicht mehr durch.
taz: Was heißt das für heute konkret?
Sönke Neitzel: Dass man das eigene Land verteidigen muss und vielleicht dabei sterben kann. Dass der Soldatenberuf etwas Besonderes ist, weil ein Soldat Leben schützt und Leben nehmen kann, das wurde in Deutschland lange bestritten. Inhalt des Diskurses war meist die Zivilisierung der Bundeswehr. Das hat funktioniert, weil die Streitkräfte in der öffentlichen Wahrnehmung zum bewaffneten Technischen Hilfswerk umfunktioniert wurden.
taz: Sie würden eher Tucholskys Zitat als Berufsbeschreibung sehen wollen?
Sönke Neitzel: Das mit den Mördern? Mörder würde ich natürlich nicht sagen, ein Mord ist etwas anderes. Aber die Aufgabe von Soldaten ist in letzter Konsequenz: kämpfen, töten, sterben. Und diese Realität haben wir von uns ferngehalten. Und jetzt ist es für viele ein Schock. Jetzt fragen wir uns, was machen wir denn, wenn Litauen angegriffen wird? Dann muss die deutsche Panzerbrigade 45, die dort stationiert ist, möglicherweise kämpfen. Und dann kommen nicht 59 Särge zurück wie aus Afghanistan, sondern vielleicht 2.000.
taz: Der letzte große Bundeswehreinsatz, in Afghanistan, endete mit einer totalen Niederlage. Es gab Bilder, die an Vietnam erinnern, damals haben sich Menschen, die aus dem Land fliehen wollten, an US-Hubschrauber geklammert …
Sönke Neitzel: … ganz so war es nicht …
taz: … dieses Mal hingen Menschen an Flugzeugen. Es sind deutsche Soldaten in diesem Einsatz gestorben, die hat die Politik hingeschickt. Ist Afghanistan genug aufgearbeitet worden für eine ehrliche Diskussion über das Militär und seine Rolle?
Sönke Neitzel: Nein, es wurde und wird nicht genug aufgearbeitet. Aber die Frage Wehrpflicht, und wie stehen wir zur Bundeswehr, und der Afghanistaneinsatz, sind zwei unterschiedliche Dinge.
taz: Inwiefern?
Sönke Neitzel: Nie in der Geschichte der Bundesrepublik wurde die Bundeswehr positiver betrachtet. Eine hohe oder sehr hohe Meinung zur Bundeswehr haben 85 Prozent der Bürgerinnen und Bürger. Obwohl Afghanistan schiefgegangen ist. Und natürlich hat die Bundeswehr versucht, diesem Scheitern eine positive Sinndeutung zu geben. Damit ist sie meines Erachtens wiederum gescheitert.
taz: Welche positive Deutung?
Sönke Neitzel: „Wir als Bundeswehr haben unseren Auftrag erfüllt. Es war die Politik, die versagt hat.“ Aber die Bundeswehr hat ihren Auftrag doch nicht erfüllt, weil sie ihn niemals hat erfüllen können. Sie ist – so meine ich – in eine „Mission Impossible“ geschickt worden, was dann immer auch die Verantwortung der militärischen Führung aufwirft. Letztlich ist Deutschland aber noch mit einem blauen Auge davongekommen, „Nur“ 59 sind am Hindukusch gefallen. Gott sei Dank viel weniger als bei den meisten anderen Bündnispartnern. Afghanistan ist für eine breite Öffentlichkeit abgehakt.
taz: Warum ist das bei der Wehrpflicht anders?
Sönke Neitzel: Da kann man eben nicht mehr sagen, das trifft nur ein paar Fallschirmjäger aus Niedersachsen. Jetzt geht es potenziell um alle Deutschen im wehrfähigen Alter und vor allem um einen ganz anderen Krieg. Und denken die Deutschen über Krieg nach, denken sie an den Zweiten Weltkrieg. Krieg ist für die Deutschen Genozid und Massenmord. Zu dieser emotionalen Diskussion kommt die Erinnerung an die Gefahr des nuklearen Krieges, Stichwort Kalter Krieg, hinzu. Die Angst vor einem globalen Armageddon ist angesichts der deutsch-deutschen Erfahrungen verständlich, aber ein wenig einfach gedacht.
taz: Verglichen mit den Debatten über Militär und Krieg in der Ukraine sind die Diskussionen in Deutschland altbacken. Als würde Lothar Matthäus über Fußball reden. Hier raunt es von alten Tugenden und Opferbereitschaft. In der Ukraine wird oft diskutiert, wie eigene Opfer vermieden werden können, mit dem Einsatz von Drohnen zum Beispiel.
Sönke Neitzel: Dreht sich die Debatte hier um Opferbereitschaft? Ich nehme das anders wahr.
„Mein Vater kommt mit dem Panzer“ lautete der Titel eines Gesprächs von Daniel Schulz (Autor des Reportagebuchs „Ich höre keine Sirenen mehr. Krieg und Alltag in der Ukraine“) und Ambros Waibel im März 2021 in der taz über das Aufwachsen in vom Militär geprägten Familien: Schulz' Vater war Offizier bei der NVA, Waibels Vater Jurist bei der Bundeswehr. Angeregt war das Gespräch von Neitzels Buch „Deutsche Krieger. Vom Kaiserreich zur Berliner Republik – eine Militärgeschichte“, 2020 im Propyläen Verlag erschienen.
taz: Es gibt doch in der deutschen Gesellschaft Qualitäten, sich zu organisieren, Menschen in Not zu helfen. Im Ahrtal. Im Mittelmeer. Da bauen Menschen gewaltige logistische Ketten auf. Das widerspricht doch der auch von Ihnen implizit geäußerten Annahme, den Menschen hier wäre Solidarität, auch internationale, nicht so wichtig, dass sie dafür Leib und Leben riskieren würden.
Sönke Neitzel: Wir reden über Werte, aber nicht über Opferbreitschaft und über das Opfer als Begriff. Null. Das Opfer spielt als Begriff im Nationalsozialismus eine große Rolle, und darüber reden wir natürlich nicht.
taz: Sie beklagen doch ebenfalls eine Art Gratismentalität in Deutschland dem Leben in Freiheit und Wohlstand gegenüber. Zugleich gehen in der Ukraine viele Männer nicht zur Armee und am Wochenende in die Disco. Und die Gesellschaft dort streitet pluralistisch und heftig, ob das so sein darf. Im Gegensatz dazu scheint uns diese deutsche Debatte nicht zeitgemäß.
Sönke Neitzel: Ich bin mir nicht sicher, ob die deutsche und die ukrainische Debatte prinzipiell wirklich so unterschiedlich sind. Was wir allerdings wirklich von der Ukraine lernen können, ist die enge Verbindung von einer jungen Start-up- und IT-Szene mit dem Militär. Durch das schnelle Tempo in der Innovation schaffen sie es, Russland zumindest zeitweise überlegen zu sein. Hier haben wir noch viel aufzuholen und wir haben in den letzten Jahren viele Innovationen verschlafen. Meines Erachtens sind unsere Strukturen viel zu schwerfällig und altbacken, um zum notwendigen Innovationstempo zu kommen. Die Folgen sind dramatisch: Wenn die Bundeswehr morgen in den Krieg ziehen würde, könnte sie wohl nur beweisen, dass sie mit Anstand zu sterben versteht. Wenn sich jetzt nichts grundlegend ändert, wird es noch weitere zehn Jahre dauern, bis die Bundeswehr auf der Höhe der Zeit ist. Leider lernen Armeen oft nur im Notfall.
taz: Was gilt denn als Notfall? Wenn Russland in der Ukraine siegen sollte?
Sönke Neitzel: Der Notfall wäre dann, wenn eine deutsche Brigade in den Kampf zieht.
taz: Zum Beispiel die Panzerbrigade 45 in Litauen.
Sönke Neitzel: Wo auch immer Deutschland eine große Einheit hinschickt und sagt: So, die müssen jetzt die Nato verteidigen. Wenn die nicht richtig ausgerüstet sind, sind die sehr schnell tot. Dann haben wir diesen Notfall.
taz: Glauben Sie, man sollte die Bundeswehr aufrüsten ohne AfD-Verbot?
Sönke Neitzel: Was ist die Verbindung zwischen beidem?
taz: Würden Sie eine aufgerüstete Armee einer Regierung mit einer rechtsextremen Partei in die Hand geben, die auch noch Putin-freundlich ist?
Sönke Neitzel: Das sind zwei verschiedene Dinge. Ich bin nach Lage der Dinge durchaus für ein Verbotsfahren gegen die AfD. Die Partei ist offenbar rechtsextremistisch, sie ist eine Gefahr für die Demokratie. Solche Verfahren dauern jedoch lange, und man weiß nicht, was dabei herauskommt. Was ist, wenn das Gericht Nein zum Verbot sagt?
taz: Dieses Risiko würden Sie eingehen?
Sönke Neitzel: Wir müssen jetzt handeln. Vielleicht ist es der letzte Sommer in Frieden.
taz: Meinen Sie das ernst?
Sönke Neitzel: Ja. Die große Gefahr ist – und das sagen in den Militärkreisen die Leute ganz offen –, dass Putin innerhalb der nächsten zwei, drei Jahre die Nato herausfordert, etwa mit einem regional begrenzten Angriff im Baltikum. Weil er glauben könnte, dass Trump die Nato nicht unterstützt und Putin die Europäer als schwach einschätzt.
taz: Dann wäre dieser Sommer noch immer nicht der letzte in Frieden.
Sönke Neitzel: Wir können es aber auch nicht ausschließen, dass Putin schon sehr bald eine ihm günstig erscheinende Gelegenheit ausnutzt. Was passiert, wenn die Merz-Koalition nicht durchhält? Was ist, wenn wir eine schwierige innenpolitische Situation in Frankreich haben? Putin wird immer pragmatisch und opportunistisch unsere Schwäche ausnutzen und dabei auch militärische Mittel einsetzen. Er hat den Rubikon überschritten und wir kriegen ihn nicht wieder hinter diese Linie zurück. Wir sollten auch nicht den Fehler begehen zu glauben, dass Putin dieses oder jenes schon nicht tun wird, weil uns das als irrational erscheint. Nach so einer Logik hätte Hitler nie Krieg führen dürfen.
taz: Denken Sie darüber nach, dass es den Westen so vielleicht auf Dauer gar nicht mehr gibt?
Sönke Neitzel: Natürlich. Die Architektur und die Planungen der Nato sind eng mit den USA verbunden. Und jetzt müssen wir darüber nachdenken, wie eine Nato ohne die USA aussehen könnte. Und der noch schlimmere Fall ist: Die USA blockieren die Nato.
taz: Wie würde das aussehen?
Sönke Neitzel: Trump wird den nächsten Alliierten Oberkommandierenden in Europa ernennen – der derzeitige Amtsinhaber geht im Sommer. Was ist, wenn der Trumpist sagt: Ich verlege keine Truppen in einer Gefahrensituation ins Baltikum. Dann haben wir ein Problem.
taz: Also ein Durchmarsch nach Berlin, wie ihn Propagandisten im russischen Staatsfernsehen immer wieder fordern?
Sönke Neitzel: Ich kenne keine Militärexperten, die das ernsthaft sagen. Es droht ein begrenzter Konflikt. Es geht Russland und anderen Autokraten darum, den Westen innenpolitisch so zu destabilisieren, dass dort der Wille zum Kampf fehlt. Und dann einen Testschritt zu machen, mit dem das Gebilde zusammenbricht. Aber es geht nicht um einen Marsch auf Berlin oder Warschau.
taz: Russland schafft doch schon die Ukraine nicht. Wie sollen die sich dann mit der Nato anlegen?
Sönke Neitzel: In öffentlichen Vorträgen stoße ich oft auf eine Art kulturelles Überlegenheitsgefühl, so von wegen: Der Russe kann das nicht. Aber in Sicherheitskreisen sagen viele: Unterschätzt die russischen Streitkräfte nicht. Ja, die haben Probleme, gerade beim Gefecht mit verbundenen Waffen und bei der Führung. Aber die Ukraine kann diesen Krieg verlieren und zurzeit sieht es nicht gut aus für sie. Und sollte es einen Waffenstillstand geben, dann ohne Sicherheitsgarantien. Es wird keine westlichen Truppen in der Ukraine geben. Damit hätte Putin freie Hand. Er kann ins Baltikum marschieren, er kann aber auch von Weißrussland aus eine neue Front in der Ukraine aufmachen.
taz: Dafür hätte Russland die Ressourcen?
Sönke Neitzel: Russland arbeitet viel auf Halde und die Frage ist: Was machen die mit den Reserven, die sie sammeln? Ein Panzer geht an die Front, ein Panzer geht ins Depot. Masse ist auch eine Qualität. Putin hat rund 700.000 Soldaten in der Ukraine stehen. Wenn der 100.000 Mann rauszieht, und woanders hinschickt, was dann? Wen haben wir denn in Estland? Es gibt ein Bataillon Nato-Truppen von 1.000 Mann. Und wie groß ist die estnische Armee? Knapp 8.000 Mann. Über die Brücke in Narwa werden die Russen schon noch kommen. Zumal wenn die Amerikaner uns nicht unterstützen.
taz: Was würde das bedeuten?
Sönke Neitzel: Wenn die Russen angreifen, würde die Nato sicherlich erst mal versuchen, die Luftüberlegenheit zu gewinnen. Einen Luftkrieg kann sie im Baltikum aber nur führen, wenn sie in Kaliningrad die russischen S-400-Stellungen ausschaltet, die Flugabwehr. Das ist nicht einfach, das dauert. Und es geht nur mit den Amerikanern. Alle Luftkriege, die die Nato geführt hat, waren letztlich amerikanische Operationen. Im Kosovo flogen sie 75 Prozent der Einsätze, die Deutschen haben 4 Prozent geflogen, die Briten 6 Prozent.
taz: Sie zeichnen ein anderes Bild als das der weithin überlegenen Nato.
Sönke Neitzel: Russland sollten wir einfach nicht unterschätzen und unsere Fähigkeiten nicht kleinreden, aber gerade derzeit auch nicht überbewerten. Und natürlich gibt es immer wieder Leute, für die von Russland keine Gefahr ausgeht. Dabei fordert Putin Europa schon mit Cyberangriffen heraus. Eigentlich hätten wir schon den Spannungsfall erklären müssen.
taz: Warum tut die deutsche Regierung das nicht?
Sönke Neitzel: Wenn wir das machen, müssten wir anerkennen, dass wir umfassendere Gegenmaßnahmen ergreifen müssen. Und das wollen Teile der deutschen Politik nicht. Sie wollen daran glauben: Wir sind im Frieden, obwohl die Nato in ihrem Strategischen Konzept von 2022 – beschlossen auf dem Gipfel in Madrid – festgestellt hat: The Euro-Atlantic area is not at peace. Scholz hat das mitgetragen. Ein Problem ist, dass wir öffentlich noch immer nicht deutlich genug auf die Gefahrenlage hinweisen. Die, die viel wissen, sagen wenig, und die, die wenig wissen, sagen viel.
taz: Wer sagt zu wenig?
Sönke Neitzel: Die Cyberleute müssten viel stärker öffentlich deutlich machen, was eigentlich passiert. Ich höre in der Szene immer wieder: Wir sind bedroht! Aber was geschieht konkret? In meiner Realität als normaler Apple-User fühle ich mich nicht von Russland angegriffen. Ich verstehe, wenn viele Menschen nicht an eine Bedrohung glauben.
taz: Kennen Sie denn Fälle, über die Sie öffentlich reden können?
Sönke Neitzel: Ich kenne Fälle, aber über die kann ich Ihnen nur off the record etwas sagen. Darüber zu sprechen, ist Aufgabe der Sicherheitsbehörden, die das noch nicht in ausreichendem Maße tun. Letztlich ist es natürlich eine politische Entscheidung, das zu ändern.
taz: Glauben Sie, dass die Bundeswehr im Fall eines Krieges die Fähigkeit hat, autoritären und faschistischen Tendenzen zu widerstehen?
Sönke Neitzel: Große Kriege haben die Tendenz, dem Liberalismus massiv zu schaden, weil sie mit Zwang und Kontrolle einhergehen. Es geht darum, Informationen zu kontrollieren, Bevölkerungen zu kontrollieren, die Wirtschaft zu kontrollieren. Also sollten wir Kriege tunlichst verhindern. Und wie sich dann die Soldaten politisch entwickeln? Ich bin überzeugt, dass die Bundeswehr demokratisch gefestigt ist.
taz: Der Bundeswehr und dem Militärischen Abschirmdienst MAD, der Informationen über verfassungsfeindliche Bestrebungen, Spionage- und Sabotageaktivitäten analysiert, fällt es doch schon im Frieden schwer, Rechtsextreme zu erkennen und fernzuhalten oder sie so zur Verantwortung zu ziehen, dass das Eindruck macht.
Sönke Neitzel: Natürlich haben wir Rechtsextreme und Rechtsradikale auch in der Bundeswehr, das wird sich leider nie ganz verhindern lassen. Jetzt gibt es eine neue Studie vom Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr. Laut der sind das eigentliche Problem nicht die Leute, die sich in der Bundeswehr radikalisieren. Das Problem sind die, die schon mit solchen Einstellungen in die Bundeswehr kommen. Und die muss man rausfiltern. Den Möglichkeiten des Rechtsstaats sind dabei aber auch Grenzen gesetzt. Der MAD kann in seinen Sicherheitsüberprüfungen natürlich nur mit rechtsstaatlichen Methoden vorgehen und die sind dann eben auch limitiert.
taz: Im Krieg kommt der Einfluss der Kämpfe, der Gewalt dazu.
Sönke Neitzel: Ja. Wir müssen erkennen, was Kriege mit Menschen machen. Das sind Welten, die mit unserer Zivilwelt nur noch bedingt etwas zu tun haben. Soldatenkulturen sind gewissermaßen Tribal Cultures. Wir haben die Funktionsweise dieser Kulturen in der Forschung zigfach beschrieben: Welche Identifikationen gibt es? Welche Lieder singen Soldaten, welche Symbole haben die, welche Abzeichen? Das alles ist wichtig für Soldaten, die in existenziellen Situationen sind. Daraus folgt: Man sollte die Bedeutung dieser Kulturen ernst nehmen und aktiv beeinflussen. Wenn wir aber sagen: Ach, lass die doch machen, wir haben schließlich den Verfassungspatriotismus und so einen Diskurs über den Wolken, dann können Dinge auch mal schiefgehen. Mein Petitum an die Bundeswehr ist immer: Kümmert euch darum.
taz: Wie kümmert man sich denn konkret darum?
Sönke Neitzel: Das System der Wehrmacht war relativ schlau.
taz: Ist das das Beispiel, das Sie wählen wollen?
Sönke Neitzel: Wir wollen ja nicht die Wehrmacht kopieren. Aber die Wehrmacht hat sich als Institution intensiv mit Soldatenkulturen befasst und verstanden: Ich muss Soldaten Identität, Kohäsion und Motivation vermitteln. Wie mache ich das? Mit Liedern, mit Uniformen, mit Auszeichnungen, mit Abzeichen, die für Soldaten funktionieren, die in einem solchen Kampf sind.
taz: Aber es ist doch niederschmetternd, dass Ihnen als Positivbeispiel als Erstes die Wehrmacht einfällt.
Es geht ja nicht darum, die Inhalte der Wehrmacht zu kopieren, sondern darum, zu erkennen, wie wichtig Soldatenkulturen für die Kohäsion von Truppe und Staat sind. Es geht darum, dass auch eine Republik die Funktionsweise von Tribal Cultures verstehen sollte, um sie bestmöglich für sich zu nutzen. Um es konkret zu machen: Warum kennt jeder Panzermuckel immer noch das Panzerlied aus dem Jahr 1935? Weil es ein Lied ist, das für die soziale Realität Panzertruppe funktioniert. Warum hat die Bundeswehr kein einziges Lied aus Afghanistan? Was ist mit der Brigade in Litauen? Auch hier sage ich immer: Kümmert euch um die Identität dieser Brigade. Wenn ihr Leute dahin haben wollt, muss diese Aufgabe mit viel kulturellem Kapital verbunden sein. Überlegt, was für die Soldaten Sinn stiftet und vergesst nicht so vermeintlich altmodische Dinge wie Lieder, Fahnen und Abzeichen. Denkt darüber nach, welche Vorbilder könnte es für Menschen geben, die 2000 geboren sind oder 2002? Ich weiß nicht recht, ob man die Bedeutung dieses Bereiches wirklich erkannt hat.
taz: Woran liegt das?
Sönke Neitzel: Die Bundeswehr ist dafür bekannt, die Traditionsarbeit als einen eher lästigen Bereich zu vernachlässigen. Wollen wir das alles der AfD überlassen? Das kann ja wohl die Lösung nicht sein. Dann müssen wir aber auch ein Stück weit die Logik jener Männer und Frauen verstehen, die für uns kämpfen sollen. Die Bundeswehr hat kein Liederbuch. Die Träger des Ehrenkreuzes für Tapferkeit – des höchsten Ordens der Bundeswehr – stehen nicht auf der Website des Verteidigungsministeriums. Warum nicht? Schämen wir uns ihrer?
taz: Das klingt alles sehr nach Erschöpfung, nach Defätismus.
Sönke Neitzel: Wir tun uns als Gesellschaft schwer, den Kern des Soldatenberufs zu akzeptieren. Das sollten wir aber tun, wenn wir wollen, dass Männer und Frauen im Ernstfall für diese Republik kämpfen sollen. Wir können diese Identität nicht beschränken auf Elbehochwasser und Verfassungsdiskurs. Wir brauchen als Republik einen demokratischen Krieger.
taz: Kann man Soldaten Ambivalenz vermitteln? Kann man sagen: Ihr begebt euch in tödliche Gefahr, aber das verträgt sich mit der Demokratie nicht ganz so gut?
Sönke Neitzel: Ich glaube nicht, dass sich das ausschließt, kein Franzose und kein Brite würde das bezweifeln. Ich bleibe deswegen optimistisch. Wir sind nicht völlig erschöpft. Demokratien haben in Zeiten der Bedrohung gezeigt, dass sie willens sind zu kämpfen und trotzdem Demokratien bleiben. Bei diesen ganzen Militärthemen ist die Gesellschaft meines Erachtens viel weiter als die Politik. Wenn die taz schon anfängt darüber zu diskutieren …
taz: In der Ukraine haben viele junge Männer Angst vor der eigenen Armee: vor Kommandanten, die sich nicht um ihr Leben scheren. Ist das in der Bundeswehr anders?
Sönke Neitzel: In der Ukraine existieren viele Militärkulturen nebeneinander. Da gibt es eine höhere Führung, die zum Teil noch sowjetisch geprägt ist. Sie haben eine jüngere Führung, die von der Nato geprägt ist, aber in unterschiedlichen Ländern ausgebildet wurde. Manch sowjetisch beeinflusster General gibt Befehle, dass wir hier die Hände über den Kopf zusammenschlagen. In anderen Dingen sind die Ukrainer aber sehr modern und den Deutschen weit überlegen. Das Offizierskorps der Bundeswehr ist handwerklich zweifellos sehr gut ausgebildet. Aber im Drohnenbereich können wir noch viel von der Ukraine lernen.
taz: Sie reden viel vom Handwerk. Aber schätzen Offiziere der Bundeswehr das Leben Ihrer eigenen Soldaten höher, als es Offiziere in der Ukraine zu oft tun?
Sönke Neitzel: Ich würde bezweifeln, ob diese Einschätzung ukrainischer Offiziere wirklich zutrifft. Auf Russland trifft das sicher zu. Wir haben eine Forschungsgruppe zu militärischen Gewaltkulturen an der Universität Potsdam. Und da sehen wir ein deutliches Delta zwischen den westlichen Staaten und Russland. Die Gleichgültigkeit gegenüber eigenen Verlusten ist einer der offensichtlichsten Unterschiede. Kein Bundeswehrgeneral würde so Krieg führen.
taz: Das ist kein rassistisches Klischee?
Sönke Neitzel: Nein, wobei man sich natürlich vor einem essentialistischen Verständnis von Kultur hüten muss. Die Unterschiede können wir aber recht gut erklären, etwa mit der mangelnden Verrechtlichung der sowjetischen und russischen Streitkräfte. Es gab zwar immer wieder Phasen der Verrechtlichung unter Chruschtschow oder Gorbatschow, die aber nie wirklich durchdrangen. Es gibt zweifellos einen Footprint der russischen Armee, eine spezifische Gewaltkultur in Russland. Da geht es mir nicht um Gut oder Böse, es sind schlicht Ergebnisse kulturgeschichtlicher Forschung.
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