Krieg im Gazastreifen: Mission impossible

Der Wille, die Hamas zu zerstören, ist nach dem 7. Oktober verständlich. Aber ist das überhaupt ein realistisches Kriegsziel? Und was passiert danach?

Menschen flüchten mit Gepäck auf einer Straße in Gaza City, die mit Schutt übersät ist

Bomben auf Gaza, Bewohner verlassen ihre Wohnungen am 30.10.2023 Foto: Abed Khaled/ap

Nach dem Horror des 7. Oktober, nach 1.400 brutal getöteten und über 230 verschleppten Israelis, ist der Ruf verständlich groß, die Täter, die Hamas, zu zerstören. Erreicht werden soll das durch ein massives, nun schon seit Wochen andauerndes Bombardement von Gaza und mit einer Bodenoffensive, ohne die eine Kontrolle des Küstenstreifens unmöglich ist. Aber ist die Vernichtung der Hamas überhaupt ein realistisches Kriegsziel? Und wie soll es mit dem Gazastreifen langfristig weitergehen?

Israel könnte es schaffen, die Führung der Hamas und einen Großteil ihrer Kämpfer zu eliminieren. Der israelischen Armee könnte es auch gelingen, die Tunnel- und Waffensysteme und Strukturen der Hamas zu zerstören. Doch selbst dann bliebe die Hamas bestehen.

Sie ist mehr als eine Organisation, sie ist eine Ideologie der Militanz gegen Israel. Die Hamas ist die radikalste und brutalste Form der Palästinenser, sich gegen ihre Lebensbedingungen, gegen­ die israelische Besatzung und gegen die Belagerung des Gazastreifens zu wenden – auch mit Terror.

Das Grundproblem ist: Selbst wenn es tatsächlich gelingen sollte, den physischen Teil der Hamas auszuschalten, wird die Idee des gewalttätigen Widerstands mit jeder Bombe, die auf Gaza fällt, mit jedem Menschen, der dort aus den Trümmern geholt wird, weiter gestärkt. „Die Hamas hat uns eine Falle gestellt“, sagt der ehemalige französische Premier Dominique de Villepin, „eine Falle des maximalen Schreckens, der maximalen Grausamkeit. Und so besteht die Gefahr einer Eskalation des Militarismus, von mehr militärischen Interventionen, als ob wir mit Armeen ein so ernstes Problem wie die palästinensische Frage lösen könnten.“

Erinnerungen an die US-Besetzung im Irak

Die Folge wird nicht weniger, sondern mehr Radikalisierung sein – und das nicht nur im Gazastreifen. Auch unter den Palästinensern im Westjordanland und mit israelischer Staatsbürgerschaft würde die Wut steigen. Genauso in der weiteren arabischen Welt, in der die Palästinenserfrage zuletzt kaum mehr auf der Tagesordnung stand. In diesem Sinne ist der derzeitige Krieg in Gaza kein Hamas-Bekämpfungsprogramm, im Gegenteil: Er stärkt sie.

Es stellt sich auch die Frage nach dem Tag danach. Was passiert, wenn die israelische Armee tatsächlich zumindest einen Teil des Gazastreifens kontrolliert? Kehren wir zurück zu den Zeiten direkter israelischer Besatzung, die sich schon in der Vergangenheit für beide Seiten als Albtraum erwiesen hat? Eine von der israelischen Armee durchgeführte „Ent-Hamasifizierung“ hätte wohl ähnliche Folgen wie die einstige amerikanische De-Baathifizierung, den Maßnahmen gegen die Baathpartei Saddam Husseins im Irak in den 1990ern, die den Widerstand gegen die US-Besatzung erst so richtig angeheizt haben.

Oder soll jemand anderes den Gazastreifen verwalten und ruhig halten: eine Art von Israel diktierte palästinensische Selbstverwaltung? Es ist schwer vorstellbar, dass irgendeine Organisation, beispielsweise die Fatah des Palästinenserpräsidenten Mahmud Abbas, quasi auf der Luke israelischer Panzer in den Gazastreifen einzieht und dann unter den 2,3 Millionen Einwohnern noch einen Funken Legitimität besäße. Der Premierminister der Palästinensischen Selbstverwaltungsbehörde (PA) im Westjordanland, Mohammad Shtayyeh, hat bereits eine Rückkehr der PA in den Gazastreifen kategorisch ausgeschlossen, solange es kein umfassendes Abkommen für einen palästinensischen Staat gibt, das das Westjordanland und den Gazastreifen einschließt.

Die Alternative wäre, dass Israel den gesamten Norden des Gazastreifens, wo es die Palästinenser seit Wochen dazu aufruft, in Richtung Süden zu fliehen, zu einer gigantischen menschenleeren Pufferzone erklärt. Das hieße, dass 2,3 Millio­nen Palästinenser dauerhaft im Süden des Gazastreifens zusammengepfercht würden, um vom Rest der Welt „humanitär“ versorgt zu werden. In einem Gebiet, welches schon heute als eines der dichtestbesiedelten der Welt gilt. Damit hätte man einen Dampfkochtopf geschaffen, der noch mehr unter Druck steht als der bisherige gesamte Gazastreifen.

Ägypten spielt nicht mit

Das letzte mögliche Szenario wäre eins, das die Palästinenser aus ihrer Geschichte nur zu gut kennen: ihre Vertreibung, der palästinensische Exodus aus dem Gazastreifen nach Ägypten in den Nordsinai. Wenn immer Palästinenser in ihrer Geschichte in ein anderes Land geflüchtet sind, konnten sie nicht wieder zurückkehren. Auf der anderen Seite, im Westjordanland, träumt die rechte Siedlerbewegung schon seit Jahrzehnten davon, die Palästinenser in Richtung Jordanien schicken zu können. Es ist möglich, dass Israels Rechte glaubt, mit dem gegenwärtigen Rückenwind aus den USA und Europa, ein solches Szenario tatsächlich durchsetzen zu können. Zumal sich damit die „Idee“ Hamas etwas weiter wegschieben ließe.

Der ägyptische Präsident Abdel Fattah al-Sisi weigert sich allerdings bisher strikt, Teil eines Szenarios der Palästinenservertreibung zu werden. Selbst wenn seinem hochverschuldeten Land, hypothetisch gedacht, von den USA oder Europa finanzielle Anreize geboten würden, wäre es für al-Sisi innenpolitisch gegen die öffentliche Meinung in Ägypten kaum durchsetzbar. Zudem würden sich die USA und Europa in einem solchen Fall zu Komplizen einer ethnischen Säuberung des Gazastreifens machen. Damit könnten sich die USA und Europa in weiten Teilen der Welt von der Vorstellung verabschieden, irgendeine moralische Vorreiterrolle zu spielen.

Ohnehin würde die „Idee“ Hamas so im Nordsinai weiterleben. Ägypten wäre fortan Teil des Konflikts zwischen den Palästinensern und Israel und anfällig für allerlei militante Aktionen in Richtung Israel von ägyptischem Boden aus, vielleicht sogar mit Unterstützung aus Teilen der ägyptischen Bevölkerung. Ähnlich dem Libanon mit der Hisbollah würde Ägypten zur Geisel von Gruppierungen, die militant gegen Israel vor­gehen. Das wäre ein sicheres Rezept zur Destabilisierung des bevölkerungsreichsten arabischen Landes mit seinen 105 Millionen Einwohnern.

Es müssten echte Alternativen für die Palästinenser geschaffen werden, eine Perspektive ohne Militanz

Keines der obigen Szenarien wird die Situation im Nahen Osten verbessern. Militärisch lässt sich der Ideologie der Hamas nicht beikommen, auch wenn der Ruf danach in Folge des 7. Oktober verständlicherweise laut ist. Die einzige wirksame Methode ist, der Hamas politisch das Wasser abzugraben. Dazu müssten aber echte Alternativen für die Palästinenser geschaffen werden, eine Perspektive ohne Militanz. Das bedarf eines völligen Umdenkens auch in der israelischen Gesellschaft. Die Prämisse müsste lauten: Ohne Einbezug der Rechte der Palästinenser wird es für Israel keine Sicherheit geben. Erst wenn dieser Punkt erreicht ist, wird die „Idee Hamas“ im Mülleimer der Geschichte landen.

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Karim El-Gawhary arbeitet seit über drei Jahrzehnten als Nahost-Korrespondent der taz mit Sitz in Kairo und bereist von dort regelmäßig die gesamte Arabische Welt. Daneben leitet er seit 2004 das ORF-Fernseh- und Radiostudio in Kairo. 2011 erhielt er den Concordia-Journalistenpreis für seine Berichterstattung über die Revolutionen in Tunesien und Ägypten, 2013 wurde er von den österreichischen Chefredakteuren zum Journalisten des Jahres gewählt. 2018 erhielt er den österreichischen Axel-Corti-Preis für Erwachensenenbildung: Er hat fünf Bücher beim Verlag Kremayr&Scheriau veröffentlicht. Alltag auf Arabisch (Wien 2008) Tagebuch der Arabischen Revolution (Wien 2011) Frauenpower auf Arabisch (Wien 2013) Auf der Flucht (Wien 2015) Repression und Rebellion (Wien 2020)

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