Angriffskrieg der Hamas gegen Israel: Überrascht in den langen Krieg
Mit massiven Angriffen terrorisiert die Hamas Israel. Ministerpräsident Netanjahu schwört das Land auf einen langen militärischen Konflikt ein.
Israels Armee kämpfte am Sonntag noch an mehreren Orten in der Nähe des Gazastreifens gegen bewaffnete Angreifer. Währenddessen füllten sich die sozialen Medien mit Vermisstenanzeigen, in denen verzweifelte Israelis nach ihren Angehörigen und Freunden suchten. Mindestens 600 Israelis, darunter 44 Soldaten, wurden bei dem beispiellosen Angriff nach israelischen Medienberichten getötet und mehr als 2000 verwundet. Die Zahlen könnten weiter steigen. Die Armee meldete, hunderte Angreifer getötet und dutzende gefangen genommen zu haben. Mehrere israelische Ortschaften rund um den Gazastreifen wurden evakuiert.
„Wir sind mit zehntausenden Soldaten in der Region“, sagte Armeesprecher Daniel Hagari. Kampfflugzeuge und Drohnen griffen seit Samstag zahlreiche Ziele im Gazastreifen aus der Luft an. Laut dem palästinensischen Gesundheitsministerium in dem Küstenstreifen wurden dabei bisher mehr als 370 Menschen getötet, darunter etliche Kinder, und rund 2.200 verletzt.
Am frühen Samstagmorgen hatte die Hamas einen massiven Raketenbeschuss auf Israel gestartet, während gleichzeitig zahlreiche bewaffnete Angreifer auf dem Landweg, durch die Luft und übers Meer nach Israel eindrangen. Mohammed Deif, der militärische Anführer der Organisation, die die USA, die EU und Israel als Terrororganisation einstufen, sprach von der Operation „Al Aksa-Flut“. Nach israelischen Angaben durchbrachen die Angreifer den Sperrzaun nach Israel an 29 Stellen. Diese seien mittlerweile unter Kontrolle gebracht worden.
Erinnerungen an den Jom-Kippur-Krieg
Für die israelischen Sicherheitsbehörden ist es eine katastrophale Niederlage: Die Armee wurde von dem Angriff offenbar vollkommen überrascht. Die Hamas-Kämpfer drangen weitgehend ungehindert in Militärbasen und zivile Ortschaften ein, darunter etwa die 30.000-Einwohnerstadt Sderot. Sie entführten Menschen und Ausrüstung nach Gaza. Viele in Israel erinnert das an den Beginn des Jom-Kippur-Kriegs vor rund 50 Jahren, als Ägypten und Syrien Israel überraschend angriffen und weit auf israelisches Gebiet vorstoßen konnten.
Unklar ist noch immer, wie viele Menschen genau von den Hamas-Angreifern als Geiseln verschleppt worden sind. Die Regierung sprach am Sonntag von mehr als einhundert. Unter den Geiseln soll auch eine deutsche Staatsangehörige sein.
Für viele in Israel und den palästinensischen Gebieten wird die Tragweite dessen, was geschehen ist, erst langsam klar. „An den Beschuss haben wir uns gewöhnt“, sagt Sigal Ariely aus Aschkelon, der sein 2021 von einer Rakete aus Gaza zerstörtes Haus erst seit kurzem wieder bezogen hat. „Aber ich kann das Gefühl der Angst gar nicht beschreiben, dass jetzt gerade Menschen durch unsere Ortschaften laufen und erschießen, wen sie treffen.“
Auch in Gaza lässt der massive Angriff viele überrascht und verunsichert zurück: „Wir haben mit so etwas nicht gerechnet“, sagt Wesam Amer aus Chan Yunis im Süden von Gaza. Der Dekan der Fakultät für Kommunikationswissenschaften an der Universiät Gaza hat sich mit seiner Familie zuhause verschanzt. „Letzte Nacht wurde eine Moschee neben meinem Haus bei einem Luftangriff zerstört. Es gibt in Gaza aktuell keinen sicheren Ort.“ In dem Küstengebiet haben Tausende Menschen Schutz in Schulen gesucht. Schon am Samstag hatten sich 20.000 Menschen in Schulen des UN-Palästinenserhilfswerks UNRWA geflüchtet.
Lage an mehren Fronten angespannt
Am Samstag rief Israel die Verteidigungsoperation „Iron Swords“ aus und berief zahlreiche Reservisten ein. Außerdem schwor Ministerpräsident Benjamin Netanjahu das Land auf einen langen Konflikt ein: „Wir beginnen einen langen und schwierigen Krieg, der uns durch einen mörderischen Angriff der Hamas aufgezwungen wurde“, sagte er. Israel werde „alle Orte, an denen die Hamas organisiert ist und sich versteckt, in Trümmerinseln verwandeln“. Die Armee verlegte zusätzliche Verbände an den Gazastreifen.
Zugleich ist die Lage auch im Westjordanland, an der Grenze zum Libanon sowie in arabisch-jüdischen Ortschaften in Israel angespannt. Die Hamas kündigte an, den Kampf auch auf das Westjordanland und Jerusalem ausdehnen zu wollen und rief andere wie die libanesische Schiitenmiliz Hisbollah auf, sich an den Angriffen zu beteiligen. Im Westjordanland wurden bei Zusammenstößen zwischen Palästinensern und der israelischen Armee am Samstag an mehreren Orten insgesamt sechs Palästinenser getötet, darunter ein 13 Jahre alter Junge, wie das Gesundheitsministerium in Ramallah mitteilte.
An Israels Nordgrenze meldete die Armee am Sonntag Raketenangriffe auf israelisches Gebiet und einen Gegenangriff mit Artilleriebeschuss. Die Hisbollah bekannte sich zu dem Angriff. Viele israelische Anwohner der Grenze zum Libanon haben nach einem entsprechenden Hinweis der Armee ihre Häuser Richtung Süden verlassen. Im ägyptischen Alexandria wurden zwei israelische Touristen und ihr ägyptischer Begleiter laut Medienberichten von einem Polizisten erschossen.
Die seit Monaten schwelende innenpolitische Krise in Israel über die umstrittene Justizreform der rechtsreligiösen Regierung dürfte fürs Erste vom Tisch sein. Protestorganisationen haben ihre Kundgebungen am Wochenende abgesagt. Reservisten, die aus Protest nicht mehr in der Armee dienen wollten, haben ihren Dienst wieder aufgenommen. Im Hintergrund laufen Gespräche zwischen Netanjahu und den Oppostionsführern Jair Lapid und Benny Gantz über die Bildung einer Notstandsregierung. Das teilte ein Sprecher der regierenden Likud-Partei mit. Das katastrophale Versagen des israelischen Sicherheitsapparats, für den angeschlagenen Ministerpräsident Netanjahu könnte es das Ende seiner Karriere sein, oder seine politische Rettung.
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