Militärexperte über Terror in Nahost: „Hamas ist eine Ideologie“

Israel will die Hamas zerstören, doch das sei schwierig, sagt der Militär- und Hamas-Experte Assaf Moghadam. Denn sie ist mehr als nur eine Organisation.

Panzer an einem Grenzzaun

Ein Foto der israelischen Streitkräfte zeigt israelische Militärfahrzeuge an der Grenze zu Gaza Foto: reuters

taz: Herr Moghadam, Israel spricht davon, die Hamas auszulöschen. Was bedeutet das konkret?

Assaf Moghadam: Einen Angriff wie den am 7. Oktober hat Israel seit 50 Jahren nicht gesehen. Und er begann fast am gleichen Tag wie 1973 der Jom-Kippur-Krieg. Israel ist im Schockzustand, die Selbstzuschreibung als sicherer Hafen für Juden hat einen Riss. Für viele Israelis ist daher klar, dass die Hamas ausgelöscht werden muss. Die Hamas ist aber mehr als eine Organisation, sie ist eine Ideologie. Man kann ihre Infrastruktur zerstören, ihre Kämpfer töten, aber wie zerstört man eine Idee?

Was macht es noch schwierig, die Hamas zu bekämpfen?

Israel kämpft nicht gegen einen anderen Staat, sondern gegen eine aufständische militante Organisation. Die Kämpfer tragen keine Uniformen. Sie sind kaum von Zivilisten zu unterscheiden, die sie bewusst als menschliche Schutzschilde verwenden. Sie hindern die Menschen daran, in den sicheren Süden Gazas zu fliehen und verminen Wohnungen. Jede Mili­tär­ope­ra­tion in Gaza wird unweigerlich zu zivilen Opfern führen. Für die Hamas ist jeder tote Palästinenser gute Publicity gegen Israel.

Assaf Moghadam ist Professor an der Lauder School of Government, Diplomacy and Strategy am Inter­disciplinary Center Herzliya in Israel. Er hat unter anderem an der Columbia University und der University of Massachusetts gelehrt.

Welche weiteren Schwierigkeiten gibt es?

Das Tunnelnetzwerk der Hamas. Es sind Hunderte Kilometer. Eine der freigelassenen Geiseln hat berichtet, wie sie stundenlang durch ein Netz von Tunneln laufen musste. Diese werden nicht nur für Attacken auf israelischem Boden genutzt, sondern auch als Bunker. Man kann dort Wochen, vielleicht sogar Monate überdauern. Dort werden auch die Geiseln gehalten. Das letzte Mal, als Israel versucht hatte, die Tunnel zu zerstören, kamen etwa 70 israelische Soldaten ums Leben.

Welche anderen Taktiken will Israel nutzen?

Israel hat die Samthandschuhe ausgezogen. Durch die Blockaden Israels wird in Gaza das Benzin knapper, gleichzeitig hat die Hamas offenbar Benzin von Zivilisten gestohlen. Die Hamas führt auch einen psychologischen Krieg, sie nutzt die Macht der Bilder. Israel will in dem Bereich nun auch aktiver werden, deswegen wurden beispielsweise Journalisten eingeladen, sich Hamas-Videos mit deren Gräueltaten anzusehen. Aber das Problem ist: Die Unterstützung für die Palästinenser ist weltweit überwältigend. Ich bin mir unsicher, wie gut wir dagegen ankommen können.

Viele Menschen in Gaza unterstützen die Hamas. Wo zieht Israel die Grenze zwischen Militanten und Zivilisten?

Für Israel sind jetzt alle ein legitimes Ziel, die Teil der Organisation Hamas sind, militärisch oder politisch. Israel wird nicht die Hamas-Politführung in Katar oder der Türkei ausschalten können. Aber die, die sich in Gaza aufhalten, sind Freiwild. Die Angriffe auf Israel gehen seit der Attacke übrigens immer weiter.

Weltweit waren viele überrascht ob der Brutalität der Hamas.

Israel hat 2005 alle Siedlungen in Gaza geschlossen und den Landstreifen verlassen. 2007 hat die Hamas Gaza auf brutale Weise von der Palästinensischen Autonomiebehörde übernommen. Sie hat damals viele Angehörige der Fatah getötet. Wer die Gruppe schon länger beobachtet hat, wusste, wozu sie fähig ist.

Gibt es neue Erkenntnisse, wie die Hamas es geschafft hat, die Attacken vom 7. Oktober zu planen?

Die Hamas war selbst überrascht vom Erfolg ihrer Operation. Sie hatte Karten der Umgebung und der Kibbuzim, die sie angegriffen hat. Sie kannte sogar die Namen der Bewohner, wusste, in welchen Räumen Waffen lagerten und wo die Sicherheitskräfte sitzen. In manchen Kibbuzim wollten sich die Bewohner verteidigen, liefen zu den Waffendepots – nur dass dort schon Hamas-Mitglieder auf sie warteten. Die offene Frage ist: Woher hatten sie diese Informationen? Gab es Verräter innerhalb Israels? Ich glaube ja.

Einige zeigen nun auf die etwa 1,2 Millionen Palästinenser mit israelischem Pass, die im Land leben.

Misstrauen gegen die arabisch-israelische Community gab es immer. Aber Proteste aus der Community gab es selten, und es gibt absolut keine Belege, dass sie in die Attacken der Hamas involviert wäre. Aber wie reagiert die Community, wenn die Zahl der Opfer in Israels Kampagne gegen Gaza weiter ansteigt? Wenn Israel den Gaza­streifen besetzt? Die Spannungen werden zunehmen. Wie sehr, hängt davon ab, wie viele zivile Opfer es in Gaza gibt und wie lange der Konflikt anhält. Wichtig ist: Die arabischen Israelis sind ein Teil des Staats, sie sind genauso schockiert über die Taten der Hamas. Palästinenser oder auch arabische Israelis sind nicht mit der Hamas gleichzusetzen.

Welche Fehler – außer dem Versagen der Geheimdienste – hat Israel begangen, die die Attacke der Hamas ermöglichten?

Erstens: Wir haben uns zu sehr auf die Überwachungstechnik an der Grenze zu Gaza verlassen. Zweitens: Etwa die Hälfte der Bataillone der israelischen Armee war im Westjordanland stationiert, um dort die verschiedenen Siedlungen zu schützen. An der Grenze zu Gaza war einfach zu wenig Militär stationiert. In Israel gab es die Überzeugung, dass die Hamas gerade kein Interesse an einer Eskalation habe – das war falsch. Ich gehe davon aus, dass bald einige Posten geräumt werden müssen, in der Politik und beim Militär.

Wäre sogar eine Wende in der Siedlungspolitik möglich? Einfach, weil die derzeitige Situation sicherheitstechnisch nicht haltbar ist?

Das bleibt eine politische Frage. Benjamin Netanjahu und seine Regierung – vor allem die extreme Rechte setzt sich für den Siedlungsbau ein – sind so unbeliebt wie nie. Aus dieser Krise werden die zentristischen Parteien als Gewinner hervorgehen.

Noch immer sind viele ­Soldaten im Westjordanland, auch an der Nordgrenze wird hochgerüstet. Wie beeinflusst das die geplante Bodenoffensive?

Es wird massiv mobilisiert. Allein an meiner Universität wurde etwa die Hälfte der Studenten eingezogen. Israel hat kein Interesse an einem Zweifrontenkrieg. Nun kommt es darauf an, ob die Hisbollah vom Libanon aus – die mit der Hamas in der „Achse des Widerstandes“ verbunden ist – einen Krieg anfängt, wenn sich abzeichnet, dass die Hamas wirklich droht, ausgelöscht zu werden. Einige israelische Stimmen fordern sogar, zuerst anzugreifen, um ihnen die Möglichkeit einer Überraschungsattacke zu nehmen. Die Hisbollah ist sehr viel besser bewaffnet als die Hamas, sie verfügt über 150.000 Raketen mit schweren Sprengladungen. Wenn die Hamas über 1.400 Menschen töten und mehr als 220 Israelis entführen konnte – wozu ist dann die Hisbollah fähig?

Für die gesamte „Achse des Widerstands“ entscheidet Iran. Ich glaube nicht, dass der die Hisbollah als sein erfolgreichstes Projekt jetzt verschwenden will. Er wartet auf den richtigen Moment.

Also hängt der weitere Verlauf des Kriegs auch an Iran?

Das Regime dort weiß, dass ihm Legitimität fehlt. Eine Regierung, die nicht in ihre eigene Bevölkerung investiert, dafür Millionen Dollar pro Jahr in die Finanzierung militanter Organisationen weltweit, ist keine beliebte Regierung. Iran braucht Israel als Feindbild – wenn es das Land nicht gäbe, müssten sie es erfinden.

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