Migrationsrechtler über Asyldebatte: „Besser keine Reform als diese“
In der Asyldebatte werde vor allem über Verschärfungen diskutiert statt über Menschenrechte und pragmatische Lösungen, kritisiert Maximilian Pichl.
taz: Herr Pichl, am Wochenende haben 270 Wissenschaftler*innen aus Asyl- und Fluchtforschung, darunter auch Sie, „einen Menschenrechtspakt in der Flüchtlingspolitik“ gefordert. Seither hat sich die Asyldebatte weiter gedreht – in die von Ihnen erhoffte Richtung?
Maximilian Pichl: Nein, in keinster Weise. Wir und unsere inzwischen über 1.000 Unterstützer*innen sind nicht einverstanden mit einer Debatte, in der die Menschenrechte Geflüchteter keine Rolle mehr spielen. Es macht uns große Sorge, dass der Asylkompromiss der 1990er Jahre auf einmal als Vorbild herangezogen wird, sowohl von FDP-Chef Christian Lindner wie auch vom Bundespräsidenten. Damals wurden in den Rauchschwaden von Mölln, Rostock-Lichtenhagen und Solingen radikale Einschränkungen für Geflüchtete durchgesetzt, ohne, dass man damit die extreme Rechte eingeschränkt hätte. Im Gegenteil: Der NSU fing später an zu morden.
Die EU-Staaten haben sich nach langem Verhandeln auf die neue Krisenverordnung geeinigt, die greifen soll, wenn sehr viele Menschen auf einmal die EU erreichen. Ist es nicht ein gutes Zeichen, dass es Einigkeit gibt?
Es ist im Gegenteil ein ganz schlechtes Zeichen für die Menschenrechte in Europa. Diese Krisenverordnung zementiert, dass wir Migration immer als Gefahr und Überforderung diskutieren werden. Da bleibt kein Raum, zu überlegen, wie eine humane und menschenrechtsorientierte Aufnahme gelingen kann.
Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) argumentiert, Deutschland habe noch wichtige Verbesserungen in genau dem Bereich verhandelt.
Ja, die Hürden um die Krise auszurufen wurden angezogen. Trotzdem gibt man rechten Kräften in Europa die Möglichkeit, Druck auszuüben und die Standards immer wieder zu senken. Die EU sagt, sie will selbst bestimmen, wer einreist, und sich nicht erpressen lassen, wie etwa an der belarussisch-polnischen Grenze. Aber autoritäre Staaten sehen, dass Europa panisch reagiert und Flüchtende zur „hybriden Bedrohung“ erklärt. Die Krisenverordnung vertieft diese Erpressbarkeit. Statt da an minimalen Stellschrauben zu drehen, hätte Deutschland sich dem prinzipiell entgegenstellen sollen.
Aber dann wäre die gesamte Reform des europäischen Asylsystems gescheitert.
Wir haben das aktuelle europäische Asylsystem immer wieder kritisiert. Aber besser keine Reform als diese. Dadurch wird weder das Sterben im Mittelmeer aufhören, noch wird die kommunale Infrastruktur entlastet oder die Aufnahme gelingt besser. Stattdessen werden illegale Pushbacks zunehmen und Menschen, die Schutz suchen, werden entrechtet und unter Haft festgesetzt.
36 Jahre, ist Professor für Soziales Recht mit dem Schwerpunkt Asyl- und Migrationsrecht an der Hochschule RheinMain
Aber haben die Grünen nicht einen Punkt, wenn sie sagen, dass sich etwas ändern muss?
Der allererste Schritt wäre doch, darauf zu drängen, dass geltendes Recht und Menschenrechte eingehalten werden. Die seit Jahrzehnten stattfindenden Pushbacks verstoßen gegen geltende Gesetze und Konventionen. Sowohl für die EU-Kommission als auch für Deutschland hätte das eine rote Linie in den Verhandlungen sein müssen.
Nun geht auch die innenpolitische Asyldebatte weiter. Zum Beispiel mit der Forderung, Geflüchtete sollten Sach- statt Geldleistungen bekommen.
Das ist genau das Gegenteil der nötigen Entlastung der Kommunen. Sachleistung sind ein enormer Verwaltungsaufwand. Ich verstehe nicht, warum die Kommunen das nicht rundherum ablehnen. Auch Asylbewerber*innen steht außerdem laut Bundesverfassungsgericht das soziokulturelle Existenzminimum zu. Genau da wird bei solchen Sachleistungskonzepten aber in der Regel gespart.
Die FDP schlägt eine Bezahlkarte vor. Wäre das weniger aufwendig, als Lebensmittel zu verteilen?
Sie wissen doch selber, dass Deutschland nicht gerade mit seiner Digitalisierung glänzt. Wie soll denn ein solches Bezahlsystem in allen Kommunen bundesweit installiert werden? Zum freien Leben gehört außerdem dazu, dass ich frei entscheiden kann, wo ich einkaufe und nicht nur den einen Supermarkt zur Auswahl habe, der vielleicht nicht verkauft, was meinen Essgewohnheiten entspricht.
Die FDP argumentiert, dass die Menschen mit dem Geld Schlepperschulden zahlen oder es in ihre Heimatländer überweisen.
Man bekommt in der Debatte den Eindruck, Asylbewerber*innen bekämen unglaublich viel Geld. Das Gegenteil ist der Fall, gerade in Zeiten der Inflation. Rücküberweisungen haben darüber hinaus in Ländern des Globalen Südens ein wesentlichen Anteil an der Armutsbekämpfung. Das zu unterbinden, ohne gleichzeitig globale Armut anders zu bekämpfen, würde die Lebensbedingungen für viele Menschen enorm verschlechtern.
Andererseits wollen alle Ampelparteien Arbeitsverbote für Geflüchtete aufheben oder lockern. Es soll also nicht nur verschärft werden.
Das ist definitiv ein richtiger Schritt. Leider werden im gleichen Atemzug neue Arbeitsverbote geschaffen: Die Ampel will mehr sichere Herkunftsstaaten – und Menschen aus solchen Ländern unterliegen einem unbefristeten Arbeitsverbot. Das ist widersprüchlich. Die Ampel hat einen Paradigmenwechsel in der Migrationspolitik versprochen. Stattdessen macht sie eine Verschärfung nach der anderen mit. Die im Koalitionsvertrag versprochenen Erleichterungen beim Familiennachzug hat Innenministerin Nancy Faeser gerade einkassiert, unter großem Protest der Kinderrechtsverbände. Vieles, was an progressiven Ideen im Koalitionsvertrag steht, wird aufgeweicht oder gar nicht mehr verfolgt.
Aber würde es den Grünen nicht um die Ohren fliegen, aktuell solche Erleichterungen zu fordern?
Das Recht auf Familie ist ein Menschenrecht. Wenn eine Gesellschaft sich diesen verpflichtet, muss sie auch dafür kämpfen – selbst, wenn der Wind rauer wird. Es gibt viele Partner, die einen anderen Kurs mittragen würden, in der Zivilgesellschaft, in der Wissenschaft, bei Menschenrechtsorganisationen. Diese werden im politischen Berlin aktuell aber nicht repräsentiert. Ich erlebe gerade nur wenige politische Akteur*innen, die offensiv Menschenrechte verteidigen.
Nun ist die Belastung in vielen Kommunen tatsächlich hoch. Wenn alles Genannte nicht hilft – was dann?
Statt eines Sparhaushalts bräuchte es jetzt große Investitionen in kommunale und soziale Infrastruktur. Das käme allen im Land zugute. Wir haben es geschafft, eine Million Ukrainer*innen aufzunehmen. Wenn ein Syrer Freunde in Hamburg hat, warum darf er dann anders als ein Ukrainer nicht dorthin, sondern muss 500 Kilometer weiter in eine teure Unterkunft und darf mindestens drei Monate nicht arbeiten? Wir sehen doch, dass Pragmatismus uns weiter bringt als Verschärfungen. Zumal Abschottung und absolute Kontrolle nicht mal extrem rechten Regierungen wie in Italien gelingen. Das wider besseres Wissen zu versprechen und nicht einhalten zu können, führt nur zu noch mehr Vertrauensverlust.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Grundsatzpapier des Finanzministers
Lindner setzt die Säge an die Ampel und an die Klimapolitik
Höfliche Anrede
Siez mich nicht so an
Bundestag reagiert spät auf Hamas-Terror
Durchbruch bei Verhandlungen zu Antisemitismusresolution
US-Präsidentschaftswahl
50 Gründe, die USA zu lieben
Kritik an Antisemitismus-Resolution
So kann man Antisemitismus nicht bekämpfen
Klimaziele der EU in weiter Ferne
Neue Klimaklage gegen Bundesregierung