Deutsche Debattenkultur: Antimilitaristen im Abseits

Wer nicht konsenskonform denkt und trotzdem seine Meinung laut sagt, gerät rasch unter Beschuss. Eine offene Debattenkultur sieht anders aus.

DemonstrantInnen mit mit Fahnen auf einer Brücke.

Friedensdemonstration in Frankfurt/Main am 1. Oktober Foto: Frank Rumpenhorst/dpa

Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine ist es schwierig, abweichende Meinungen öffentlich zu vertreten. „Putintroll“ ist das gängige Schimpfwort, gemeint sind schlicht Leute, die sich für Frieden und Diplomatie einsetzen. Objekte des Zorns sind dabei weniger notorische Dissidentinnen wie die seit Jahren als mediale Watschenfrau fungierende Linke Sahra Wagenknecht.

Das Bashing von Personen, denen oft zugleich die fachliche Eignung abgesprochen wird, trifft vor allem Sozialdemokraten – weil sie das Erbe von Willy Brandt und Egon Bahr hochhalten. Die einstigen Architekten der Ostpolitik waren stets für eine Versöhnung mit dem von den Nationalsozialisten überfallenen Russland eingetreten, sie haben dabei viel erreicht und mittelbar auch zur deutschen Vereinigung beigetragen.

Schon während der Pandemie machte sich ein intolerantes Diskussionsklima in Deutschland breit, das in der Verunglimpfung der Unterzeichner von „allesdichtmachen“ einen Höhepunkt fand. So stieß der Schauspieler Jan-Josef Liefers auf massive Empörung, weil er wie rund 50 seiner Kol­le­g:in­nen die deutsche Coronapolitik ironisch kritisiert hatte.

Für die Onlinevideos musst er sich in inquisitorisch geführten Interviews rechtfertigen, in Talkshows gegen drei oder vier weitere Gäste antreten, die sich untereinander und mit der Moderation einig waren. Die mediale Front, die Zweifelnde weitgehend ausgrenzte, war erschreckend genug. Noch extremer war die Reaktion des SPD-Politikers und früheren nordrhein-westfälischen Wirtschaftsministers Garrelt Duin.

Liefers dürfte nicht länger beim „Tatort“ mitspielen, sein Engagement sei sofort zu beenden, verlangte Duin, der Mitglied im WDR-Rundfunkrat ist. Das ging selbst dem damaligen CDU-Ministerpräsidenten Armin Laschet zu weit. Der Künstler bekam seinen Vertrag verlängert, bis heute mimt er den skurrilen Münsteraner Rechtsmediziner Karl-Friedrich Börne.

Lange Liste von Abgekanzelten

Während die Affäre für Liefers noch glimpflich ausging, sind neben Politikern zurzeit auch Hochschullehrerinnen, Publizisten oder Kirchenfunktionäre heftigsten Vorwürfen ausgesetzt. Teils grenzen diese Kampagnen an Rufmord und gefährden berufliche Existenzen. Um ihren Job fürchten muss zum Beispiel Ulrike Guérot, die seit Herbst 2021 Europapolitik an der Universität Bonn lehrt. Früher CDU-Mitglied, stuft sich die Professorin heute als „linksliberal“ ein, eckt aber gerade in diesem Milieu am meisten an.

In einem umstrittenen, zum Teil tatsächlich verschwörungstheoretisch anmutenden Buch kritisiert sie die Corona­maßnahmen. In ihrer jüngsten Publikation „Endspiel Europa“ plädiert sie dafür, die Schuld für den Krieg nicht allein bei Russland zu suchen, bewertet die Nato-Erweiterung als Fehler und Provokation. In Leitmedien wie der Frankfurter Allgemeinen oder in Internetportalen wie t-online.de zweifeln Osteuropa-Experten Guérots wissenschaftliche Kompetenz an.

Auch die Leitung und der AStA der Bonner Uni haben sich unterdessen von ihr distanziert. Ähnlich unter Druck geraten ist Gabriele Krone-Schmalz, die lange für die ARD aus Moskau berichtet hat und in journalistischen Kreisen als fundierte Kennerin Russlands gilt. Ihr Vortrag an der Volkshochschule Reutlingen ging im Netz mit fast einer Million Aufrufen viral. Nicht nur die Referentin, auch der gastgebende VHS-Chef wurden heftig angegangen.

Die Entspannungsbemühungen der 1970er Jahre in der Rückschau positiv zu bewerten, auf russische Sicherheitsinteressen und Ängste hinzuweisen oder diese gar in Verbindung zu bringen mit den Naziverbrechen in der Sowjetunion: Das grenzt in einer aufgeheizten Stimmung, die bisweilen an den Beginn des Ersten Weltkriegs 1914 erinnert, für manche schon an Landesverrat.

Die Liste der öffentlich Abgekanzelten ist lang: Emma-Herausgeberin Alice Schwarzer, die Ende April einen offenen Brief initiierte, der Kanzler Olaf Scholz gegen den Vorwurf des „Zauderns“ bei Waffenlieferungen in Schutz nahm. Die Autoren Richard David Precht und Harald Welzer, die in ihrem Bestseller „Die vierte Gewalt“ die Rolle der Medien hinterfragen, nicht nur aus aktuellem Anlass.

Zweierlei Maß bei der Causa Schröder

Hamburgs Ex-Bürgermeister Klaus von Dohnanyi, der in einem noch vor dem Krieg abgeschlossenen Buch für die Verfolgung „nationaler Interessen“ und gegen eine zu starke Abhängigkeit von den USA Position bezieht. Und erst recht Altkanzler Gerhard Schröder, dem zu viel Nähe zum russischen Präsidenten und seine Tätigkeit als Lobbyist für Gaskonzerne angekreidet werden. Vor allem Letzteres ist in der Tat äußerst fragwürdig.

Schröder deshalb die früheren Amtsträgern zugesicherten Privilegien im Bundestag streichen zu wollen, diese aber bei anderen einst politisch Verantwortlichen wie Angela Merkel oder Christian Wulff nicht anzutasten, dürfte juristisch kaum haltbar sein. Denn hier wird mit zweierlei Maß gemessen. Unbequeme politische Stimmen sollen zum Schweigen gebracht werden.

Wesentlich beteiligt an dieser Cancel Culture in Kriegszeiten ist auch die ukrainische Propaganda, die sich nicht wesentlich von der russischen unterscheidet. Selbst gemäßigt auftretenden Politikern, wie SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich, macht man in Kiew den Vorwurf, Desinformationen zu verbreiten. Der Dauertwitterer und mittlerweile abgesetzte, weil untragbar gewordene Botschafter in Deutschland Andrij Melnyk überzog Andersdenkende mit polemischen Vorwürfen und verbalen Tiefschlägen.

Zuletzt, obwohl schon in die Heimat zurückbeordert, traf sein undiplomatischer Furor die Synode der Evangelischen Kirche, die er als „Diener von Judas“ bezeichnete. Die dort Versammelten hatten es gewagt, sich nicht klar vom christlichen Pazifismus abzuwenden. Sie regten einen Waffenstillstand an und forderten, „das Gespräch nicht zu verachten“. Das reicht offenbar, um sich den Vorwurf einzuhandeln, ein „Putintroll“ zu sein.

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ist promovierter Politikwissenschaftler und Autor für Radio und Printmedien in Köln.

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