Sinnhaftigkeit des 9-Euro-Tickets: Nur billig ist auch keine Lösung
Die Verkehrswende braucht einen funktionierenden Nahverkehr. Der sollte zwar günstiger sein als das Auto, muss aber seinen Preis haben.
W elch bizarre Geschichte. Da deuten Politiker und Umweltaktivisten die hohe Anzahl verkaufter 9-Euro-Tickets tatsächlich als Beleg für die politische Sinnhaftigkeit dieser Discount-Aktion. Seien wir lieber ehrlich: Schnäppchen kommen immer gut an. Deswegen sagt die Nachfrage nach einer hochsubventionierten Dienstleistung gar nichts über deren gesellschaftlichen Nutzen aus. Wer einen mit Milliardenkosten angeheizten Nachfrageboom zu einer Erfolgsgeschichte hochstilisiert, weil er ins eigene Weltbild der Verkehrswende passt, argumentiert, nun ja, billig.
Will man das auslaufende Sparangebot umweltpolitisch seriös evaluieren, gibt es nur einen einzigen Maßstab: die Entwicklung des Autoverkehrs. Allein dessen spürbarer Rückgang könnte ein verbilligtes Ticket auch für die Zukunft rechtfertigen. Doch allzu viel hat man dazu bisher nicht gehört.
Zahlen zu einem anderen Phänomen liegen unterdessen schon vor – und die entlarven das Billigticket als expliziten Flop: Die Pünktlichkeit der Bahn lag im Juni und Juli auf dem tiefsten Stand des ganzen Jahres, deutlich schlechter auch als im gesamten Vorjahr. Dass die Augustzahlen besser ausfallen werden, darf man, wenn man die letzten Wochen öfter im Regionalverkehr unterwegs war, bezweifeln.
So bleibt nach drei Monaten Bahnchaos die nicht gänzlich überraschende Erkenntnis, dass volle Züge verkehrspolitisch gesehen kein Wert an sich sind. Zumal auch der öffentliche Nahverkehr Energie und Ressourcen verbraucht. Umweltpolitisch kann es daher nicht sinnvoll sein, durch Billigangebote zusätzlichen Verkehr zu generieren – selbst wenn es öffentlicher Verkehr ist.
Kluge Verkehrspolitik drängt primär das Auto zurück. Nicht zielführend ist es daher, die Bahnen vorsätzlich so sehr zu überlasten, dass Fahrgäste wegen Überfüllung der Waggons am Bahnsteig zurückbleiben müssen – was durchaus vorkam in den letzten Wochen. Ebenso ist es nicht hilfreich, wenn der Fahrplan durch den Ansturm mehr denn je zur unverbindlichen Zahlenkolonne wird. Um Menschen vom Auto in die „Öffis“ zu bringen, müssen Bus und Bahn verlässliche Verkehrsmittel sein.
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Nun wird an dieser Stelle der Einwand kommen, man müsse dann eben das Bahnangebot ausweiten. Das stimmt, absolut. Doch anzunehmen, Zusatzkapazitäten ließen sich auch nur ansatzweise in einem ähnlichen Tempo aufbauen, wie die Politik das 9-Euro-Ticket aus dem Hut zauberte, wäre reichlich naiv.
Ein Nahverkehrssystem, das in der Lage wäre, das hohe Fahrgastaufkommen der letzten Monate zu verkraften, bräuchte Jahre Vorlauf. Mindestens. Eher Jahrzehnte. Beispielhaft zeigt das die Rheintalstrecke. Sie ist die Hauptverkehrsachse zwischen der Schweiz und der Nordsee. Sie hat heute streckenweise nur zwei Gleise, eines für jede Richtung. Darauf muss sie ICEs, den Regionalverkehr und den Güterverkehr abwickeln. Damit ist der Fahrplan dicht. Schon heute zieht jede Verspätung eines ICE viele weitere Verspätungen nach sich. An zusätzliche Züge ist deswegen beim besten Willen nicht zu denken. Und an längere Züge übrigens auch nicht, weil mitunter der Bahnsteig zu kurz ist.
Nun kann man zwar über durchaus reichlich feststellbare Versäumnisse der Vergangenheit reden, etwa darüber, dass der Bau von zwei weiteren Gleisen dieser Strecke seit 30 Jahren in Planung ist, aber das hilft aktuell natürlich nicht weiter. So bleibt nur die Erkenntnis, dass die gerne verbreitete Weisheit, die Bahn müsse halt ihre Kapazitäten ausweiten, zumindest mancherorts und auf mittlere Sicht einer Traumwelt entstammt.
Zumal es ähnliche Sachzwänge zuhauf gibt. Auf Nebenstrecken sind zusätzliche Zugverbindungen mitunter nicht möglich, weil die Gleise einspurig sind und nur bestimmte Bahnhöfe Zugbegegnungen zulassen. Auf Mittelgebirgsstrecken kann es unterdessen die Zugkraft der Lok sein, die die Zuglänge limitiert. Mal ganz abgesehen davon, dass zusätzliche Waggons nicht in einem halben Jahr zu organisieren sind, vom nötigen Zugpersonal ganz zu schweigen.
Verramschung öffentlicher Mobilität
Das alles zeigt, wie komplex das Bahnsystem ist. Daher werden Transportkapazitäten im öffentlichen Verkehr zumindest regional auf lange Sicht ein knappes Gut bleiben. Werden knappe Güter aber unter Preis verhökert, kommt es zu Mangellagen – eben überfüllten Zügen, in die keiner mehr einsteigen kann. Deswegen muss man auch Zugkapazitäten mit Bedacht bewirtschaften; darf sie nicht verscherbeln. Es ist befremdlich, wie hartnäckig diese physischen Limitierungen von jenen ignoriert werden, die sich verrannt haben in die Idee vom Billigticket. Manche träumen gar von der Kostenlosvariante. Möglich wäre die zweifellos auf dem Land, wo Busse heute reichlich heiße Luft durch die Gegend fahren. Aber auch nur dort.
So kommt man – immerhin das – zum Verdienst des 9-Euro-Tickets: Es hat offenbart, wie schlecht es um den Nahverkehr in Deutschland steht. Wer politisch für eine Verkehrswende eintritt, sollte deswegen jetzt dafür kämpfen, dass Bus und Bahn wieder mehr Wertschätzung zuteil wird. Das muss sich vor allem in mehr Geld niederschlagen und ein Teil davon sollte auch durch eine finanzielle Belastung des fahrenden und ruhenden Autoverkehrs aufgebracht werden, denn den will man ja zurückdrängen. Damit brächte man die Verkehrswende besser voran als durch eine Pseudolösung, deren Kern die Verramschung öffentlicher Mobilität ist.
Von Albert Einstein soll der Satz stammen: „Was nichts kostet, ist nichts wert.“ Und das gilt eben auch im Verkehr. Sozialpolitisch müsste man dann gegebenenfalls im Steuer- und Sozialsystem nachhelfen, um diese Mobilität allen Teilen der Bevölkerung erschwinglich zu machen. Aber das ist eine andere Baustelle und hat mit Verkehrspolitik nicht zu tun.
Nur einen Aspekt des 9-Euro-Tickets könnte man als Modell für die Zukunft in Erwägung ziehen: das Einheitsticket für den bundesweiten Nahverkehr. Wer ein Monatsticket für seinen Verkehrsverbund besitzt, sollte dieses weiterhin bundesweit im Nahverkehr nutzen können, denn das Zonendenken ist gerade für Pendler im Grenzbereich der Verbünde lästig und mitunter auch teuer. Für die Verkehrsunternehmen wäre eine solche Lösung vermutlich verkraftbar. Vielleicht brächte sie sogar Zusatzeinnahmen, weil Monatskarten noch attraktiver würden.
So ist die Prämisse guter Verkehrspolitik schnell erzählt: Die Fahrt mit der Bahn sollte immer billiger sein als die Fahrt mit dem Auto. In diesem Rahmen darf die Bahn dann aber gerne gutes Geld kosten. Wenn die Einnahmen dann dazu dienen, die Qualität der Reise zu verbessern, ist damit allen mehr gedient als mit einem Angebot, das eine Umsonstmentalität bedient, aber in der Praxis kollabiert. Kollabieren muss.
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