Zwei Jahre russischer Angriffskrieg: Was, wenn Putin gewinnt?

Wenn Russland seine Kriegsziele erreicht, wäre die Ukraine Geschichte und Freiheit nur noch ein Wort. Das zu verhindern ist im Interesse des Westens.

Ein Bild von Putins Kopf auf einer Großleinwand, davor drei Männer

Existenzielle Bedrohung durch den vielleicht gefährlichsten Diktator der Gegenwart: Wladimir Putin, hier beim Russland-Afrika Gipfel in St. Petersburg, Juli 2023 Foto: Itar-Tass/imago

Haben Sie sich jemals gefragt, wie unser Leben aussehen würde, wenn Putin den Krieg gegen die Ukraine gewinnt? Nicht das Leben der Ukrainer*innen, sondern das aller anderen? Im Fall der Ukrai­ne­r*in­nen wäre alles klar: Sie werden einfach aufhören zu existieren und diejenigen, die überleben, wird das russische Regime – ganz gleich, ob Putin selbst oder jemand anderes regiert – zu neuen richtigen Rus­sen*­in­nen machen.

Zuvor aber würde Blut in Strömen über die ukrainische Schwarzerde fließen und in Parks und Wäldern würden Massengräber entstehen, in denen viele Ukrai­ne­r*in­nen verscharrt wären, die bis zum letzten Atemzug Widerstand gegen die Besatzer geleistet haben. Wie aber würde die Realität derer aussehen, die dies zugelassen haben, weil sie naiv glaubten, dass sie die Folgen dieser Katastrophe nicht treffen würden?

Auch ihr Leben würde sich stark verändern – nicht zum Besseren. Es würde wahrscheinlich kein Massengrab im Berliner Tiergarten geben, doch Morde wie der an Selimchan Changoschwili wären wohl Routine. Wenn das heutige Russland seine Vorherrschaft in Europa durchsetzte, würden die Freiheitsrechte, die für die Eu­ro­päe­r*in­nen seit Langem selbstverständlich sind, nur noch eine nostalgische Erinnerung sein.

Denn ein vorgestriges Patriarchat, traditionelle Familienwerte, Zensur von Sprache und Gedanken sowie Polizeigewalt würden die neue Realität darstellen. Doch eine derartige Entwicklung erscheint den meisten Menschen immer noch aberwitzig.

Die Realität zu spät erkannt

Viele Jahre lang haben auch die meisten Ukrai­ne­r*in­nen naiv geglaubt, dass ein Land wie Russland sie niemals angreifen würde, weil sie so viele Gemeinsamkeiten hätten. Doch die barbarischen Verbrechen der Russen – Butscha ist nur eines der Beispiele – zeigen, dass das Unmögliche möglich ist.

Jahrzehntelang haben sich die Ukrai­ne­r*in­nen immer stärker in eine wirtschaftliche Abhängigkeit zu Russland begeben. Sie haben zugelassen, dass antiukrainische Gruppen im Land immer lauter wurden, ihr Informationsraum unter dem Deckmantel der Meinungsfreiheit manipuliert wurde und korrupte Politiker die eigene Armee ruinierten.

Die Ukraine als Blaupause

All das hat dazu geführt, dass Russland glaubte, die Ukraine sei geschwächt genug, um sie in drei Tagen zu erobern. Aber ist es nicht genau das, was das russische Regime heute in westlichen Ländern tut? Populist*innen, linke und rechte Ex­tre­mis­t*in­nen unterstützen, Gesellschaften von innen heraus polarisieren, Propaganda und Desinformation verbreiten und wirtschaftliche Abhängigkeit von billigen Energielieferungen schaffen?

„Das ist nicht unser Krieg“, ist an Hauswänden in Berlin zu lesen. Genau das ist das Ziel des autoritären russischen Regimes: Chaos und Misstrauen säen und die Illusion erzeugen, dass die westlichen Gesellschaften sich nicht einmischen und die Ukraine nicht finanziell unterstützen sollen. Denn das schade nur ihrem Wohlstand, und sie selbst hätten nichts davon.

Die Realität ist jedoch, dass jede Investition in die Ukraine jetzt vor allem eine Investition in das eigene Wohlergehen ist. Die Ukrai­ne­r*in­nen verteidigen nicht nur sich selbst und die Demokratie, sondern auch diejenigen, die deren wahren Wert noch nicht erkannt oder bereits wieder vergessen haben.

Dabei braucht die Ukraine dringend Hilfe. In diesem Krieg geht es um alle, die Freiheit schätzen, unabhängig von ihrer Herkunft und der Farbe ihres Passes. In einer Welt, die kurz davor steht, ins finsterste Mittelalter zurückzufallen, bleibt nur wenig Zeit, um im Paradigma „Unser – nicht unser“ zu denken.

Demokratische Welt in Gefahr

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 schien die Zeit der Diktaturen vorbei und die der Demokratien angebrochen. Mehr als dreißig Jahre später sieht sich die demokratische Welt einer existenziellen Bedrohung durch den vielleicht gefährlichsten Diktator der Gegenwart gegenüber – Russlands Präsidenten Wladimir Putin.

Nach zwei Jahren brutaler Invasion in der Ukraine ist das autoritäre Russland so stark wie eh und je, während die liberalen Demokratien schwächer werden. Die Geschwindigkeit, mit der alles auf einen Abgrund zusteuert, müsste selbst die Tapfersten erschrecken. Obwohl inzwischen Dutzende ukrainische Städte durch russische Bomben zerstört und Tausende Menschen in ihren Häusern getötet wurden, haben viele immer noch nicht verstanden, wie real die russische Bedrohung ist.

Die zivilisierte Welt kann nicht gegen einen Diktator verlieren – dieses Axiom sollte allen Zweiflern klar sein. Die Ukraine zahlt jetzt den höchsten Preis für ihre Freiheit, sie zahlt mit dem Leben ihrer Kinder, Frauen und Männer. Denn die Ukrai­ne­r*in­nen haben begriffen, was passiert, wenn man jemanden wie Putin gewinnen lässt. Die russische Besatzung bedeutet für sie Massenverhaftungen, verschleppte und russifizierte Kinder, das Verbot der ukrainischen Sprache und Kultur. Das Ergebnis ist die Vernichtung der Ukraine als Land und der Ukrai­ne­r*in­nen als Nation.

Exempel für Autokraten

Wenn Russland in der Ukraine gewinnt, wird sich die Spirale der Gewalt in der ganzen Welt weiterdrehen. Putin wird mit seinem Sieg ein Exempel für andere Autokraten statuieren. Die liberalen Demokratien werden endgültig diskreditiert und die Maxime „Wer die meiste Macht hat, hat das Recht“ wird zur neuen Norm.

Auf dem Schlachtfeld in der Ukraine werden neue Regeln für die Weltordnung aufgestellt, die alten haben am Morgen des 24. Februar 2022 aufgehört zu funktionieren. Dies geschah zum Teil, weil man es zuließ. Aber es bleibt noch etwas Zeit, um die totale Katastrophe zu verhindern.

Die Unterstützung der Ukraine ist heute keine Frage der Wohltätigkeit. Es geht nicht darum, die Gewalt durch Waffenlieferungen zu verstärken, sondern sie so schnell wie möglich zu beenden. Denn paradoxerweise können Waffen Leben retten.

Russlands Militärkraft schwächen

Unzählige Menschenleben wurden bereits durch deutsche Gepard-Panzer oder amerikanische Patriots gerettet, die russische Drohnen und Raketen vom ukrainischen Himmel geholt haben. Bei den Taurus-Raketen und den F-16-Kampfflugzeugen geht es nicht um Eskalation, sondern um die Reduzierung der militärischen Fähigkeiten Russlands. Wer diese Hilfe verzögert oder infrage stellt, erhöht die Zahl der täglich getöteten Ukrai­ne­r*in­nen und rückt den Krieg näher an die eigenen Grenzen.

Putin zu stoppen ist im Interesse aller, es ist eine Investition in das Leben künftiger Generationen. Denn andere Autokratien nehmen sich ein Beispiel an Putin und spotten über die Unentschlossenheit des Westens. Autokratien sind nicht nur stärker geworden, sie lernen auch schnell voneinander und bilden Allianzen, die manchmal viel effektiver sind als demokratische Koalitionen. Die freie Welt darf weder an ihren Werten zweifeln noch ihre Zukunft aufs Spiel setzen. Eine Welt, die von Autokratien beherrscht wird, wäre für alle, außer den Autokraten selbst, unerträglich.

Wladimir Putin überwinden

Jetzt ist der entscheidende Moment, in dem wir aufhören müssen, Angst zu haben. Der einzige Weg, Putin zu stoppen, ist, ihn zu überwinden. Und das können wir nur gemeinsam. Alle anderen Kompromisse verschaffen nur eine Atempause vor einem neuen Angriff.

Wenn der Westen beschließt, die Ukraine an Putin auszuliefern, weil er glaubt, damit eine globale Katastrophe verhindern zu können, dann ist das eine Illusion. Die Beschwichtigung des Aggressors ist nur vorübergehend. Wenn er verdaut hat, was er bekam, und wieder zu Kräften gekommen ist, wird er wieder zuschnappen, mit größerer Kraft und größerem Appetit.

Das ist die Geschichte, die die Eu­ro­päe­r*in­nen zu vergessen beginnen – eine nur allzu gefährliche Tendenz. Diejenigen, die heute von Verhandlungen mit dem Tyrannen sprechen, werden morgen ihre Söhne an die Front schicken.

Die Autorin war Stipendiatin der taz Panter Stiftung

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Anastasia Magazova ist 1989 auf der Krim (Ukraine) geboren. Studium der ukrainischen Philologie sowie Journalismus in Simferopol (Ukraine). Seit 2013 Autorin der taz und seit 2015 Korrespondentin für die Deutsche Welle (DW). Absolventin des Ostkurses 2014 und des Ostkurses plus 2018 des ifp in München. Als Marion-Gräfin-Dönhoff-Stipendiatin 2016 Praktikum beim Flensburger Tageblatt. Stipendiatin des Europäischen Journalisten-Fellowships der FU Berlin (2019-2020) in Berlin. Als Journalistin interessiert sie sich besonders für die Politik in Osteuropa sowie die deutsch-ukrainischen Beziehungen.

Wir würden Ihnen hier gerne einen externen Inhalt zeigen. Sie entscheiden, ob sie dieses Element auch sehen wollen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.

Wir alle wollen angesichts dessen, was mit der Ukraine derzeit geschieht, nicht tatenlos zusehen. Doch wie soll mensch von Deutschland aus helfen? Unsere Ukraine-Soli-Liste bietet Ihnen einige Ansätze fürs eigene Aktivwerden.

▶ Die Liste finden Sie unter taz.de/ukrainesoli

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.