Wahlwiederholung in Berlin: Die ungerechte Neuwahl
Die Pannen bei der Wahl 2021 waren weitreichend. Trotzdem bleibt die Frage nach der Verhältnismäßigkeit des Urteils der Verfassungsrichter*innen.
D ie Argumentation der Richter*innen am Berliner Verfasssungsgericht ist nachvollziehbar: Weil man nicht sicher sagen kann, wie hoch das Dunkelfeld der Pannen am Wahltag 2021 war, muss die ganze Abgeordnetenhauswahl wiederholt werden. Im Zweifel lieber gründlich, hat das Gericht am Mittwoch entschieden, so könnte man salopp formulieren.
Obwohl niemand in Abrede stellt, dass massive, sehr wahrscheinlich auch mandatsrelevante Fehler am Wahlabend passiert sind: Es lohnt sich kurz über das Wort Verhältnismäßigkeit nachzudenken. Und zwar gerade, weil das Kernargument der Richter*innen das Vertrauen in die demokratischen Strukturen ist, das sie bei den Berliner*innen verloren gegangen sehen, und das sie mit einer vollständigen Wiederholung der Wahl wiederherstellen wollen.
Auch die Berliner Verfassungsrichter*innen waren in ihrem Urteil am Mittwoch nicht eindeutig. Entschieden wurde mit 7 zu 2 Stimmen, es gab ein Sondervotum. Die Verfassungsrichterin Ulrike Lembke, Professorin für Öffentliches Recht an der Humboldt-Universität, wird damit zitiert, dass sie gerade bei den Erststimmen keine weitreichende Mandatsrelevanz sehe. Zumindest sei diese nicht in den Umfang gegeben, dass es eine komplette Wahlwiederholung in allen Stimmbezirken rechtfertigen würde. Damit stärke man nicht verloren gegangenes Vertrauen in Demokratie – sondern erreiche eher das Gegenteil.
Die Frage ist also: Wie bewertet man die möglicherweise hohe Dunkelziffer an Wahlpannen, die am 26. September 2021 passiert sind? 20.000 bis 30.000 Wähler*innen, schätzen die Richter*innen, wurden in ihrer Stimmabgabe beeinträchtigt. Sie legen dafür die Gesamtzahl der Minuten zugrunde, die Wahllokale wegen fehlender oder falscher Stimmzettel geschlossen waren, plus die Zeit, in denen noch nach 18 Uhr gewählt wurde – obwohl da die ersten Prognosen im Fernsehen und Internet veröffentlicht waren. Die Zeit wird ins Verhältnis gesetzt mit den insgesamt 1,8 Millionen abgegebenen Stimmen sowie einer angenommenen Zeit von drei beziehungsweise sechs Minuten, die jede*r in der Wahlkabine zum Kreuzen gebraucht hat.
1,1 Prozent von 1,8 Millionen
20.000 Menschen, die in ihrer Stimmabgabe behindert wurden, sind bei einer demokratischen Wahl zweifellos 20.000 zu viel. Wenn man die Frage nach der Verhältnismäßigkeit stellt, muss man aber auch sagen: Es sind nicht mehr als 1,1 Prozent von 1,8 Millionen.
Vieles ist nicht sauber dokumentiert worden am Wahlabend, auch das ist klar. Die Dunkelziffer der in ihrer Wahl behinderten oder beeinflussten Wähler*innen könnte also deutlich höher liegen als bei 20.000. Vielleicht aber auch nicht. Genaues weiß man eben nicht.
Die Frage ist jetzt: Was empfindet man als möglicherweise größeren Schaden für die Integrität einer demokatischen Wahl? Legt man die Messlatte nicht zu hoch, wenn man künftig argumentieren kann: Es könnten noch viel mehr Fehler passiert sein als nachweisbar sind, also wählen wir vorsichtshalber neu?
Eine Klage von gewählten Abgeordneten vor dem Bundesverfassungsgericht gegen das Berliner Urteil ist zwar möglich – die meisten Rechtswissenschaftler, die sich bisher öffentlich geäußert haben, halten sie aber für aussichtslos.
So oder so ist diese Wahlwiederholung eigentlich keine Wiederholung, sondern eine Neuwahl. Sie findet unter anderen Voraussetzungen statt, weil die politische Großwetterlage sich geändert hat: Die Inflation, der Krieg in der Ukraine, die Geflüchteten, die Klima-Aktivist*innen der Letzten Generation. Das waren alles keine Themen, die 2021 für die Menschen eine Rolle spielten. Womöglich wird auch die Wahlbeteiligung niedriger sein, weil sich bei einigen noch eine gewisse Verdrossenheit vorhanden ist angesichts der dilettantischen Wahlorganisation von 2021.
Man wiederholt also eine Wahl, die nicht zu wiederholen ist. Und die Frage bleibt, ob weniger Wiederholung nicht verhältnismäßiger gewesen wäre.
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