Wahl in Frankreich: Sensationeller Sieg der Linken
Die Nouveau Front Populaire hat die zweite Runde der Parlamentswahl gewonnen. Nicht die extreme Rechte, sondern die Linke wird stärkste Kraft.
Doch es kam anders: Laut den ersten Hochrechnungen des Fernsehsenders TF1 hat die linke Volksfront (Sozialisten, Grüne, Kommunisten und La France insoumise) völlig überraschend bei der zweiten Runde der Parlamentswahl gewonnen. Sie erobert zwischen 180 und 215 Sitze und wird damit die stärkste Partei im neuen Parlament, hinzu kommen noch zehn weitere, diverse Linke. Auf Platz 2 landete Ensemble!, die Koalition der Macronisten, mit 150 bis 180 Sitzen – noch vor dem rechten Rassemblement National, dem nur 120 bis 150 prognostiziert werden. Die Konservativen kommen auf 60 bis 65, alle übrigen auf 5 bis 10 Sitze. Dieses Ergebnis widerspricht allen Voraussagen.
Bei der ersten Wahlrunde vor einer Woche war der Rassemblement National noch stärkste Partei geworden. Ziel der Linksparteien war daher vor allem, einen allzu großen Sieg der extremen Rechten zu verhindern. Sie hatten kaum zu hoffen gewagt, als stärkste Kraft aus dem Urnengang hervorzugehen.
Der Rassemblement National (RN) hatte nach den Ergebnissen des ersten Wahlsonntags am 30. Juni reelle Chancen, eine absolute oder wenigstens relative Mehrheit in der Nationalversammlung zu erringen. Dass die Partei von Marine Le Pen nun womöglich sogar nur drittstärkste Fraktion wird, stellt eine herbe Niederlage für sie dar.
Es war eine historische Wahl, denn zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg hatte die extreme Rechte die Aussicht, in Frankreich mit einer parlamentarischen Mehrheit an die Macht zu kommen.
In mehr als 300 Wahlkreisen konnten RN-Kandidaten für Stichwahlen mit großen Erfolgsaussichten antreten. Die republikanische Abwehrfront der Linken und der bisherigen macronistischen Regierungsparteien hat jedoch innerhalb einer Woche die Kräfteverhältnisse verändert.
Die Mehrheit hält die extreme Rechte für eine Gefahr
In mehr als 200 Wahlkreisen hatten sich mehrheitlich linke Kandidaten, die zwar für die Stichwahl qualifiziert waren, aber kaum gewinnen konnten, zurückgezogen, um so einen Sieg von RN-Kandidaten zu verhindern. Das hat über Erwarten gut funktioniert. Das beweist auch, dass eine Mehrheit in Frankreich die extreme Rechte als Gefahr für die Demokratie und das Zusammenleben in der Republik betrachtet.
Die Macronisten, die bisher mit einer relativen Mehrheit von bloß 205 von 577 Sitzen regieren mussten, konnten ihre absehbare Niederlage ebenfalls dank dieser Anti-RN-Front begrenzen. Nicht nur der bisherige Premierminister Gabriel Attal, sondern auch die meisten seiner Regierungsmitglieder, die wie beispielsweise Innenminister Gérald Darmanin im nordfranzösischen Tourcoing kandidiert hatten, wurden gewählt.
Nach dem ersten Durchgang waren den Kandidaten der Einheit Ensemble! lediglich 50 bis 80 Sitze in Aussicht gestellt worden. Ob sie deswegen ihrem Präsidenten, Emmanuel Macron, für die Entscheidung danken, die Nationalversammlung nach der Wahlschlappe bei der Wahl der EU-Abgeordneten am 9. Juni aufzulösen und die parlamentarischen Neuwahlen anzuordnen, ist eine andere Frage.
Mélenchon fordert Regierung der Linken
Keine Fraktion verfügt heute über eine absolute Mehrheit. Auch zeichnete sich vorerst keine Koalition ab, die zusammen mehr als 289 von 577 Sitzen hätte. Dennoch forderte der Ex-Präsidentschaftskandidat Jean-Luc Mélenchon von der linken France insoumise (LFI) den Staatschef auf, die linke Volksfront mit der Regierungsbildung zu beauftragen. Ob er selber den Posten des Premierministers beanspruchen würde, sagte er nicht. Laut den vorliegenden Resultaten bleibt LFI die stärkste der Komponenten der Volksfront.
Unter den Namen der frisch Gewählten fiel der frühere sozialistische Staatspräsident François Hollande in der ländlichen Corrèze auf.
Wenn alle Resultate vorliegen, wird man die Kräfteverhältnisse zwischen den verschiedenen Komponenten unter die Lupe nehmen.
Nicht auszuschließen ist aufgrund der Sitzverteilung die Bildung einer rechten Minderheitsregierung von Macronisten und den konservativen Abgeordneten der Partei Les Républicains (LR). Innenminister Darmanin wollen ihnen am Sonntagabend dazu die Hand reichen, um eine linke Regierung zu vermeiden.
Macron will abwarten, Attal bietet Rücktritt an
Es ist an Staatspräsident Macron, nun aufgrund der Resultate dieser von ihm gewollten Wahlen einen Premierminister seiner Wahl zu ernennen und mit der Bildung eines Ministerkabinetts zu beauftragen. Mit drei großen Blöcken, die jeweils nicht über eine ausreichende parlamentarische Mehrheit verfügen, um wirklich zu regieren, und sich gegenseitig bekämpfen, eröffnet sich für Frankreich eine Periode der politischen Instabilität.
Der bisherige Premierminister Gabriel Attal, der als Abgeordneter in einem westlichen Vorort von Paris gewählt wurde, hat erklärt, er werde am Montagmorgen dem Präsidenten seinen Rücktritt anbieten. Macron kann ihn freilich vorerst, und um Zeit zu gewinnen, bis auf Weiteres im Amt belassen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
BGH-Urteil gegen Querdenken-Richter
Richter hat sein Amt für Maskenverbot missbraucht
Umweltfolgen des Kriegs in Gaza
Eine Toilettenspülung Wasser pro Tag und Person
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Biden genehmigt Lieferung von Antipersonenminen
BSW stimmt in Sachsen für AfD-Antrag
Es wächst zusammen, was zusammengehört
Absagen vor Kunstsymposium
Logiken der Vermeidung