Waffenexperte über Russlands Aggression: „Das wäre der völlige Wahnsinn“

Russische Atomstreitkräfte in Alarmbereitschaft? Friedensforscher Ulrich Kühn befürchtet eine nukleare Eskalation – und warnt vor Rufen nach der Nato.

Interkontinentalrakete auf Moskauer Straße

Interkontinentalrakete vom Typ RS-24 bei der Parade zum 75. Jahrestag des Kriegsendes in Moskau Foto: Sergei Ilnitsky/epa

taz: Herr Kühn, haben Sie als Experte für Atomwaffen in diesen Tagen Angst?

Ulrich Kühn: Selbstverständlich. Dieser Konflikt hat eine nuk­leare Dimension erreicht. Dabei hat mich überrascht, wie schnell Putin gewisse Signale gesendet hat. Man muss sich Sorgen machen, weil die involvierten Interessen in diesem Krieg höher sind als bei vergleichbaren Krisen während des Kalten Krieges.

Das müssen Sie erläutern.

Ich befürchte, dass wir in eine nukleare Krise vergleichbar zur Kuba-Krise hineinlaufen. Damals hatten die USA ein extrem hohes Interesse daran, dass die Nuklearwaffen aus Kuba direkt vor ihrer Haustür verschwinden, wohingegen Chruschtschow vor allem Druck auf die Amerikaner ausüben wollte. Das Kennedy-Team hat einen geschickten Ausweg gefunden, indem es einerseits hart geblieben ist und eine Seeblockade zog und andererseits den Sowjets still und heimlich signalisierte: Wenn ihr abzieht, werden wir unsere Nuk­learwaffen aus der Türkei abziehen. So wurde die Krise entspannt.

44, leitet den Forschungsbereich zu Rüstungskontrolle und Neuen Technologien am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik der Universität Hamburg. Er forscht zu nuklearen Eskalationsdynamiken, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung, internationalen Sicherheitsinstitutionen und transatlantischer Sicherheit.

Und heute?

In der aktuellen Krise geht es für den Westen um vergleichsweise weniger, denn die Ukraine ist nicht in der Nato. Russland hat diesmal dagegen das höhere Interesse. Putin will die komplette Entwaffnung der Ukraine erreichen und anders als die USA in der Kuba-Krise sendet er keine Signale, wie man aus dieser Krise wieder herauskommen könnte. Ich sehe somit eine Krise vergleichbaren Ausmaßes auf uns zukommen, aber ich sehe nicht, wo ein möglicher Ausweg aus der Eskalationsdynamik ist.

Weil kein Angebot denkbar ist, das für alle Seiten akzeptabel wäre?

Die Russen machen kein Angebot, von westlicher Seite kommt aber auch keins. Sprechen wir mal über die ­Sanktionen: Erfahrungsgemäß laufen Sanktionen oft ins Leere, wenn nicht das klare Ziel formuliert ist, wann sie wieder zurückgenommen werden. Man sollte der Gegenseite quasi eine Belohnung für eine Verhaltensänderung anbieten.

Von westlicher Seite wurde dahingehend bisher nichts an Russland kommuniziert. Man hat keine Strategie formuliert, welche Ergebnisse dieses Krieges noch akzeptabel wären und welche Ergebnisse man unbedingt verhindern möchte. Wir haben es bei Putin natürlich mit einem ex­trem schwierigen Kandidaten zu tun. Er möchte anscheinend gar keine Deeskalation. Das heißt aber im Umkehrschluss nicht, dass man nicht für sich eine Deeskalationsstrategie entwickeln sollte.

Falls es auch weiterhin nicht zur Deeskalation kommt: Wie sieht das Szenario einer nuklearen Eskalation aus, das Sie befürchten?

Wenn Russland militärisch weniger erfolgreich ist als vorher gedacht, wird der Druck auf Putin zunehmen, noch aggressiver gegen die Ukraine vorzugehen und seine Rhetorik gegen Länder weiter zu verschärfen, die die Ukraine militärisch unterstützen. Gleichzeitig wird auch im Westen der Druck zunehmen, je mehr Bilder von Gräueltaten in Kiew wir sehen werden. Bevölkerungen und Medien werden ihren Politikern sagen: „Macht doch irgendetwas.“ Und vor diesem „Irgendetwas“ habe ich als Konfliktforscher Angst.

Rufe nach einer Flugverbotszone sind zum Beispiel höchst gefährlich. Bisher wurden sie zum Glück auch auf höchster Ebene abgelehnt, weil das hieße, dass Nato-Truppen und russische Truppen in einen heißen konventionellen Krieg eintreten würden. Sobald der da ist, sind wir nur noch ein oder zwei Schritte vom Nuklearkrieg entfernt. Zum jetzigen Zeitpunkt ist die Chance eines Nuklearwaffeneinsatzes immer noch eher gering. Sie liegt aber nicht bei null.

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Bleiben wir bei der russischen Seite: Halten Sie einen nuklearen Angriff auf die Ukraine für denkbar, falls Putin seine Ziele durch den konventionellen Krieg nicht erreicht?

Unter Umständen. Seit Jahren wird eine mögliche russische nukleare Doktrin diskutiert, die sich „Eskalieren, um zu deeskalieren“ nennt. Die Vermutung: Wenn Russland in einem bis dahin konventionellen Krieg ins Hintertreffen gerät und die Existenz des eigenen Staates bedroht ist, könnte es ein oder zwei nukleare Sprengköpfe einsetzen, um der Gegenseite zu signalisieren: Wir überqueren jetzt die nukleare Schwelle und wenn ihr militärisch weitermacht, sind wir in einem Nuklearkrieg. Das ist in der Theorie erst mal ein defensives Konzept, das auf Abschreckung setzt.

Man vermutet aber gleichzeitig seit ein paar Jahren, dass Russland dieses Konzept auch in einem offensiven Sinne verwenden könnte. Der Krieg in der Ukraine könnte das unter Umständen bestätigen. Irgendwann könnte es zu dem Punkt kommen, an dem Putin nicht mehr weiterkommt oder sich eine dritte Macht von außen einmischt. Ob Russland dann zur nuklearen Schwelle eskalieren würde und einen oder zwei taktische nukleare Gefechtsköpfe zündet, ist eine der Fragen, die ich mir momentan stelle.

Moment, was sind taktische Nuklearwaffen?

Das sind vergleichsweise kleinere Sprengköpfe und die sind auf Raketen oder Flugzeugen mit geringerer Reichweite stationiert. Wir reden hier also nicht von den großen Interkontinentalraketen, die bis in die USA fliegen.

Und wie groß wäre die Zerstörungskraft?

Das hängt ein bisschen davon ab, wo man sie zündet und in welcher Höhe. Über einer Stadt hätte es eine ganz andere Auswirkung als über einem unbewohnten Wald oder waghalsig über der Ostsee. Aber so oder so hätte auch der Einsatz von taktischen Gefechtsköpfen unglaubliche Auswirkungen. Es gäbe einen Feuerball, einen nuk­learen Fallout und so weiter. Davon mal abgesehen stünden wir wirklich an der Schwelle zu einem Nuklearkrieg. Das wäre alles der völlige Wahnsinn. Wir müssen wirklich dringend darüber nachdenken, wie wir diesen Gesamtkonflikt deeskalieren können.

In der Nacht auf Freitag gab es Kämpfe um das Atomkraftwerk Saporischschja. Halten Sie es für denkbar, dass Russland Atomkraftwerke beschädigen wird, um sie quasi als indirekte nukleare Waffe zu nutzen?

Ich hoffe nicht. Das wäre ein mindestens genauso großer Wahnsinn. Das AKW, um das es sich hier handelt, ist das größte in Europa. Das hat ungefähr die vierfache Größe von Tschernobyl. Wenn es dort zu einer Kernschmelze kommt, dann wären die Auswirkungen schrecklich – auch für Russland. Ich glaube nicht, dass Russland so etwas mit Absicht macht. Aber man muss auch sagen: AKW und offene Kriegshandlungen vertragen sich nicht. Das ist doch klar.

Dem Konzept der nuklearen Abschreckung zufolge müsste Russland doch eigentlich vor dem Einsatz von Atomwaffen zurückschrecken, weil es einen nuklearen Gegenschlag der Nato zu befürchten hätte. Warum bezweifeln Sie, dass die Abschreckung funktionieren würde?

Glauben Sie noch, dass Putin völlig rational agiert? Über Jahrzehnte haben wir gehört, dass wir es mit unangenehmen, aber doch rationalen Akteuren zu tun haben, die im Zweifel wissen, wo die Grenzen sind. Aber haben Sie am Montag vergangener Woche Putins Rede an die Nation gesehen? Das machte auf mich nicht den Eindruck eines rationalen Führers. Das machte den Eindruck eines emotional sehr bewegten, sehr aggressiven Anführers, der diesen Krieg in der Ukraine mit seinem persönlichen Schicksal verknüpft. Ist dieser Mann wirklich noch daran interessiert, dass Russland als Staat und als Volk weiterhin überlebt? Ich bin mir nicht mehr sicher.

Wo befinden sich die russischen Atomwaffen eigentlich?

Die taktischen Nuklearwaffen mit kleinerer Sprengkraft und Reichweite werden in mehreren Lagerstätten über das ganze Land verteilt gelagert. Die Standorte kennen wir sehr genau, einer befindet sich an der Grenze zur Ukraine. Wenn man durch Spione oder Satellitenbilder sieht, dass sich dort etwas tut, wäre das ein Zeichen dafür, dass Russland möglicherweise den Einsatz vorbereitet.

Ähnliches gilt für die strategischen Nuklearwaffen mit einer Reichweite von 10.000 Kilometern, für die es drei verschiedene Trägersysteme gibt: Interkontinentalraketen, U-Boote und Langstreckenbomber. Wenn man zum Beispiel sieht, dass besonders viele russische Atom-U-Boote gleichzeitig die Häfen verlassen, wäre das ein sehr extremes Signale dafür, dass eventuell etwas bevorsteht. Man kann mit solchen Signalen aber auch bluffen.

Wir haben in Europa aber hoffentlich gute Abwehrraketen, die die Nuklearwaffen abfangen würden?

Die Idee können Sie komplett vergessen. Gegen russische Lang-, Mittel- oder Kurzstreckenraketen, ballistische Raketen oder auch Marschflugkörper haben wir fast keine Verteidigung hier in Europa. Die Amerikaner haben eine begrenzte Verteidigung. Aber die würde im Ernstfall schon deshalb kollabieren, weil Russland die USA mit einem unfassbar großen nuklearen Schlag angreifen würde, mit hunderten Raketen und vielleicht sogar tausenden Gefechtsköpfen. Dagegen kann kein System verteidigen.

Es würde also auch keinen Sinn ergeben, die gerade in Aussicht gestellten 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr in ein Abwehrsystem zu stecken?

Nein, das ist Unfug. Viele der russischen Raketen haben nicht nur einen Sprengkopf, sondern mehrere. Die ballistische Rakete steigt hoch auf ihren Scheitelpunkt und dann treten die einzelnen nuklear beladenen Gefechtsköpfe aus. Wenn man möchte, kann man auch noch sogenannte Köder reinpacken, das wären zum Beispiel Ballons, die für das gegnerische Radar so aussehen würden, wie Gefechtsköpfe. Jetzt stellen Sie sich vor, das macht man mit mehreren 100 Raketen. Wer will denn dagegen verteidigen? Keine Chance.

Das klingt alles nicht gut. Um doch noch ein wenig Hoffnung zu schöpfen: Wie könnte ein Szenario aussehen, in dem es mittel- oder langfristig wieder zu Abrüstungsgesprächen kommt?

Ich würde es anders formulieren: Jetzt ist es dringend geboten, sich daran zu erinnern, dass Nuklearwaffen eben nicht den Frieden sichern. Ihr Preis ist, dass man theoretisch jederzeit komplett vernichtet werden könnte. Deswegen müssen wir dringend in der Zukunft über Rüstungskontrolle sprechen, aber auch über komplette globale nukleare Abrüstung.

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