Vegane Ernährung von Kindern: Kein Ü-Ei für Paul
Kinder vegan zu ernähren, ist ein Trend. Ist das okay? Oder schadet die Ernährung ohne tierische Produkte dem Nachwuchs gesundheitlich?
Paul ist fünf Jahre alt und vegan. Das war er schon, als er sich noch im Bauch seiner Mutter Lisa Kainz befand. Kainz, 32, ernährt sich seit zehn Jahren rein pflanzlich. Auch während der Schwangerschaft hat sie keine tierischen Produkte zu sich genommen. „Selbst wenn wir Bioeier und Biomilch kaufen, können wir leider sicher sein, dass es den Tieren nicht wirklich gut geht“, sagt Kainz am Telefon. „Das Bio-Siegel garantiert nicht automatisch mehr Tierwohl.“ Sie lehnt jegliche Nutzung von Tieren ab – ebenso wie Pauls Vater. Dass sie ihren Sohn vegan großziehen wollen, war für die beiden von Anfang an klar.
Immer mehr Menschen in Deutschland ernähren sich vegetarisch oder vegan. Laut dem Ernährungsreport 2021 ist der Anteil der Vegetarier*innen im Vergleich zum Vorjahr von fünf auf zehn Prozent gestiegen, der Anteil der Veganer*innen von einem auf zwei Prozent. Zwei Prozent – das sind mehr als 1,4 Millionen Menschen. Vor 15 Jahren ernährten sich erst 80.000 Deutsche rein pflanzlich.
Aktuelle Zahlen dazu, wie viele Kinder in Deutschland vegan ernährt werden, gibt es nicht. Nach Angaben des Robert Koch-Instituts haben von 2015 bis 2017 1,4 Prozent der Kinder zwischen sechs und elf Jahren vegan oder vegetarisch gegessen, bei den 12- bis 17-Jährigen waren es fünf Prozent. Da Eltern ihre Ernährungsgewohnheiten meist auf ihren Nachwuchs übertragen, liegt es nahe, dass immer mehr Kinder vegan ernährt werden.
Unumstritten ist das Ganze ein Trend: Es gibt vegane Säuglingsmilch auf Sojabasis, veganen Babybrei, Blogs zu dem Thema, sogar vegane Kindergärten. 2018 hat in Frankfurt die erste vegane Kita Deutschlands eröffnet, danach folgte eine in München, seit März gibt es dort auch eine Krippe, die ausschließlich vegane Mahlzeiten anbietet. Aber ist vegane Ernährung für Kinder gesund? Bekommen sie die nötigen Nährstoffe für ihre Entwicklung, wenn sie Fleisch, Eier und Milchprodukte weglassen?
Nahrungsergänzungsmittel auch für Säuglinge
Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung rät von veganer Ernährung bei Säuglingen, Kindern, Jugendlichen, Schwangeren und Stillenden ab. Diese Gruppen hätten einen erhöhten Nährstoffbedarf, der durch rein pflanzliche Ernährung schwer gedeckt werden könne.
Klar ist: Wenn man tierische Lebensmittel von der Ernährung ausschließt, fallen wichtige Nährstoffe weg. Zwar stecken die meisten „kritischen Nährstoffe“ auch in pflanzlichen Lebensmitteln, jedoch nicht immer in ausreichender Menge. Das lebensnotwendige Vitamin B12 etwa, das für die Blutbildung und Zellteilung wichtig ist, ist nur in tierischen Lebensmitteln enthalten. Veganer*innen müssen Vitamin B12 also über Nahrungsergänzungsmittel zu sich nehmen – auch Säuglinge.
Was passieren kann, wenn Kinder keine oder zu wenig Vitamin-B12-Präparate bekommen, hat Berthold Koletzko von der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin miterlebt. Der Kinderarzt arbeitet im Kinderspital der Uniklinik München und behandelt immer wieder vegan ernährte Kinder mit Mangelerscheinungen. „Ein Vitamin-B12-Mangel kann zu schwerwiegenden Schädigungen des Gehirns führen, die im schlimmsten Fall irreversibel sind“, sagt Koletzko.
Kinder mit Vitamin-B12-Mangel seien häufig matt oder apathisch, bei starker Unterversorgung erlitten sie Krampfanfälle, fielen ins Koma oder verlören Fähigkeiten, die sie bereits erworben hatten. „Sie können dann zum Beispiel nicht mehr laufen oder kauen“, sagt der Arzt. Rund die Hälfte der Kinder behalte lebenslange neurologische Schäden zurück.
Bereits während der Schwangerschaft und Stillzeit ist eine ausreichende Zufuhr von Vitamin B12 wichtig. Wenn sich schwangere Frauen vegan ernährten, sagt Koletzko, und nicht regelmäßig Vitamin-B12-Präparate einnähmen, dann gäben sie zu wenig Vitamin B12 über die Plazenta an ihr Kind ab. „Auch die Muttermilch enthält dann nicht genug Vitamin B12.“ Die Folge: neurologische Störungen in den ersten Lebensmonaten.
Kinderärztliche Beratung ist wichtig
Wieso nicht alle Veganer*innen Vitamin-B-12-Tabletten oder -Tropfen nehmen? „Viele denken, Nahrungsergänzungsmittel sind ungesund“, sagt Koletzko. Dabei seien die Präparate genau das, was wir auch über Fisch, Fleisch, Milch und Eier aufnähmen. „Auf manchen Internetseiten steht, dass gewisse Pflanzen genügend Vitamin B12 liefern, aber das stimmt nicht.“ Daher sollten sich Eltern, die ihren Nachwuchs vegan großziehen wollen, unbedingt vom Kinderarzt beraten und die Nährstoffversorgung der Kinder regelmäßig untersuchen lassen, sagt Koletzko.
Lisa Kainz, die Mutter von Paul, hat kein Beratungsgespräch geführt, sondern selbst recherchiert, wie sie die kritischen Nährstoffe zuführen kann. Genauso wie sie und ihr Partner nimmt Paul täglich Vitamin-B-12-Präparate ein, im Winter auch Vitamin D. „Wenn wir eine Weile keine jodhaltigen Algen essen, etwa in Sushi, bekommt Paul noch Jodtabletten“, sagt Kainz. Darüber hinaus trinkt die Familie kalziumreiches Mineralwasser und Milchalternativen, die mit der Meeresalge Lithothamnium calcareum angereichert sind.
Das Blut ihres Sohnes hat Kainz bisher noch nicht auf Nährstoffmängel untersuchen lassen. „Laut Pauls Kinderarzt ist das nicht nötig, da er sehr gut entwickelt ist.“ Weil Paul große Angst vor Spritzen habe, habe sie noch nicht auf einer Blutuntersuchung bestanden.
Es braucht Vitamin B12
Für allgemeine Aussagen über gesundheitliche Auswirkungen von veganer Ernährung auf Kinder ist die Studienlage zu dünn. Zwar weisen vereinzelt Studien auf Wachstumsverzögerungen und Nährstoffmängel hin. Allerdings sind die meisten Studien klein und stammen aus den achtziger und neunziger Jahren. Eine aktuelle Untersuchung von 2020, die VeChi-Youth-Studie, zeigt, dass eine gesunde Entwicklung bei veganer Ernährung möglich ist. Untersucht wurden 400 Kinder zwischen sechs und 18 Jahren, die vegan, vegetarisch und omnivor essen, also auch Fleisch und Fisch konsumieren. Die Teilnehmer*innen mussten Fragebögen ausfüllen und ein Ernährungstagebuch führen, außerdem wurden ihnen Blut- und Urinproben entnommen.
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Den Ergebnissen zufolge gab es innerhalb der Altersgruppen keine signifikanten Unterschiede bezüglich Größe und Gewicht. Die Nährstoffversorgung der sich vegan ernährenden Teilnehmer*innen war „insgesamt gut“ – auch die mit Vitamin B12. Das liege daran, dass 88 Prozent der Veganer*innen Vitamin-B-12-Präparate einnahmen. Die Vegetarier*innen hingegen wiesen tendenziell schlechtere Vitamin-B12-Werte auf, wie es in der Studie heißt. Von ihnen verwendeten nur 39 Prozent Vitamin-B12-Ergänzungsmittel. Die Autor*innen raten daher auch bei vegetarischer Ernährung zur gelegentlichen Einnahme von Vitamin B12-Präparaten.
Unzureichend versorgt war „ein nennenswerter Anteil“ der Proband*innen aller drei Ernährungsformen mit Vitamin B12, Vitamin D und Jod. Auch die Kalziumversorgung war in allen Gruppen eher schlecht, besonders bei den Veganer*innen. Die Studie zeigte aber auch, dass die veganen Teilnehmer*innen mehr Gemüse, Obst, Hülsenfrüchte und Nüsse und damit am meisten Ballaststoffe zu sich nahmen.
Vegane Ernährung nicht pauschal schlecht für Kinder
Für Mathilde Kersting sind die Ergebnisse kein Grund zur Entwarnung. Sie leitet das Forschungsdepartment Kinderernährung der Universitätskinderklinik Bochum und sieht es erst mal kritisch, wenn Eltern ihre Kinder rein pflanzlich ernähren. Zwar hätten 88 Prozent der veganen Studienteilnehmer*innen Vitamin B12 eingenommen. „Zwölf Prozent haben es aber nicht getan und das ist besorgniserregend.“
Die Ernährungswissenschaftlerin empfiehlt bei Kindern und Jugendlichen „Optimierte Mischkost“: reichlich pflanzliche, mäßig tierische, wenig fett- und zuckerreiche Lebensmittel. „Wenn man Eltern nicht von der Mischkost überzeugen kann, wäre viel gewonnen, würden die Kinder immerhin Milch trinken. Denn Milch ist der entscheidende Vitamin-B12-Lieferant.“
Kersting sagt aber auch: Eine vegane Ernährung ist nicht pauschal schlecht für Kinder. Bei ausreichender Nährstoffaufnahme könnten sie komplett gesund heranwachsen. Doch dafür müssten sich die Eltern extrem gut mit der Zusammensetzung von Lebensmitteln und dem Einsatz von Nahrungsergänzungsmitteln auskennen. „Und allen voran müssen die Kinder die pflanzlichen Lebensmittel, in denen viele Nährstoffe stecken – Hülsenfrüchte oder Vollkorngetreide zum Beispiel – auch mögen.“ Mischkost sei schlicht die einfachere Variante.
Paul darf jetzt selbst entscheiden
Paul mit Mischkost zu ernähren, wäre für Lisa Kainz keine Option. In ihrem Studium der Agrarwissenschaften habe sie gelernt, wie Nutztiere gehalten werden, „welche Qualen sie erleiden müssen“. Dieses System möchte Kainz nicht unterstützen. „Ich will meinem Sohn vorleben, dass tierische Produkte keine Lebensmittel sind.“ Dann erzählt sie, wie Paul sie neulich an der Supermarktkasse gefragt habe, ob er ein Ü-Ei haben dürfe. „Ich habe ihm erklärt, warum ich das mit meinem Geld nicht kaufen werde. Er hat es sofort verstanden.“ Stattdessen durfte sich Paul eine vegane Schokolade aussuchen. „Die haben nur leider nicht so buntes, kindgerechtes Design wie etwa die Ü-Eier.“ Kainz findet es schade, dass vegane Kinder hier benachteiligt und vegane Eltern „an den Pranger“ gestellt würden. Denn vegane Ernährung sei nicht nur besser für die Tiere und das Klima, sondern auch für die Gesundheit.
Paul sei sehr interessiert an veganer Ernährung, sagt Kainz. „Wir haben auch einige Kinderbücher, in denen es um Veganismus geht.“ Vor einem halben Jahr wollte Paul auf einer Autofahrt wissen, wie Schweine, Rinder und Hühner getötet werden. „Ich war hin- und hergerissen und wusste nicht, was ich sagen soll. Eigentlich war er noch viel zu klein für diese grausamen Details.“ Weil Paul aber nicht locker gelassen habe, hat Kainz nachgegeben und ihm „kindgerecht“ von der Tötung erzählt – von den Transportern, in denen die Tiere eingepfercht und zum Schlachthaus gefahren werden; von dem Gas, das die Schweine betäuben soll, aber ein Gefühl des Erstickens hervorruft; von dem Schnitt durch den Hals. „Paul hat aufmerksam zugehört und immer wieder nachgefragt. Er wollte für jedes Tier einzeln wissen, wie es getötet wird.“
Bis Paul vier Jahre alt war, hat seine Mutter bestimmt, was Paul isst. Seit etwa einem Jahr dürfe er selbst entscheiden, ob er tierische Produkte bei anderen mitessen möchte, fast niemand in seinem Freundeskreis sei vegan. „Ab und an nimmt Paul ein paar Gummibärchen von anderen Kindern an“, erzählt Kainz. „Ich gucke dann immer weg, um ihn nicht zu beeinflussen.“ In den meisten Fällen aber sage Paul stolz: „Nein danke, ich bin vegan“ oder „Nein danke, in dem Schokoriegel ist Milch drin und dafür werden Babykühe ihren Mamas weggenommen.“
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