Thüringens neuer Ministerpräsident: Fassungslosigkeit in Berlin
Der Dammbruch in Thüringen wird zur Belastung für die Groko. Vizekanzler Olaf Scholz hat „ernste Fragen“ an die Spitze der CDU.
FDP-Chef Christian Lindner legte sich ebenfalls fest. „Für die FDP ist eine Zusammenarbeit mit Linker und AfD ausgeschlossen“, sagte er im Oktober. Sein Argument: Beide Parteien wollten die Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung in Deutschland verändern.
Tja. Und nun? Die entschiedenen Sprüche sind perdu, ignoriert und kalt ad absurdum geführt von den Thüringer Landesparteien. Die Wahl des FDP-Ministerpräsidenten Thomas Kemmerich mit den Stimmen von CDU, FDP und AfD schickt am Mittwoch Schockwellen durch die Republik. Christdemokraten und Liberale heben einen der ihren mithilfe der Rechtsradikalen ins Amt, um den Linken Bodo Ramelow zu verhindern.
„Dammbruch“, „Ruchlosigkeit“, „historischer Tiefpunkt“, lauten fassungslose Kommentare bei SPD, Grünen und Linken. Das Foto, auf dem AfD-Rechtsaußen Björn Höcke Kemmerich per Handschlag gratuliert und sich dabei leicht verneigt, wird in die Geschichtsbücher eingehen.
Mit Rechtsradikalen regieren geht dann doch?
Von Christian Lindner stammt der legendäre Satz: „Es ist besser, nicht zu regieren, als falsch zu regieren.“ Er sagte ihn, als er 2017 die Verhandlungen über ein Jamaika-Bündnis beendete. Aber mit Rechtsradikalen regieren, das geht dann doch?
Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP)
Am Nachmittag gibt der FDP-Vorsitzende ein Statement ab. Er sagt, dass die Landtagsfraktion in eigener Verantwortung handle, dass Freiheit und Weltoffenheit jenseits von AfD und Linken der Wählerauftrag der FDP seien. „Wer in geheimer Wahl unseren Kandidaten unterstützt, das liegt nicht in unserer Macht.“ Und, das vor allem, er bringt Neuwahlen ins Spiel. „Sollten sich Union, SPD und Grüne einer Kooperation mit der neuen Regierung fundamental verweigern, dann wären baldige Neuwahlen zu erwarten und aus meiner Sicht auch nötig.“
Andere in der FDP formulieren schärfer. Sie verstehe Kemmerichs Wunsch, Ministerpräsident zu werden, schreibt Marie-Agnes Strack-Zimmermann, Abgeordnete und Mitglied des Bundesvorstands, auf Twitter. „Sich aber von jemandem wie Höcke wählen zu lassen, ist unter Demokraten inakzeptabel und unerträglich.“ Es sei ein schlechter Tag für sie als Liberale.
Kein Mucks aus dem Konrad-Adenauer-Haus
Und die CDU? Bei der Bundespartei herrscht erst einmal Schockstarre. Nach dem Fiasko von Erfurt dringt eine verdammt lange Weile kein Mucks aus dem Konrad-Adenauer-Haus; dort ist man fassungslos über die taktische Kaltblütigkeit des Thüringer Landesverbands. Dessen Landesvorsitzender Mike Mohring hatte noch in der Schlussphase des Wahlkampfs auf einer taz-Veranstaltung vollmundig AfD-Spitzenkandidat Björn Höcke als Nazi bezeichnet. „Mit denen werden wir nicht zusammenarbeiten.“
Ein Versprechen an die WählerInnen, das nun gebrochen wurde. Ganz kurz vor dem Tag der Erfurter Ministerpräsidentenwahl sollen sich die Thüringer CDU-Fraktionsmitglieder darauf verständigt haben, im dritten Wahlgang für den FDP-Kandidaten zu stimmen. Auch um den Preis, Bodo Ramelow von Höckes Gnaden zu verhindern. Ein deutlicher Hinweis auf Mohrings Führungsschwäche; der Landesvorsitzende verfügt ganz offensichtlich über keine Richtlinienkompetenz unter seinen Leuten.
Der Außenpolitiker und frühere CDU-Generalsekretär Ruprecht Polenz ist erschüttert. Gegenüber der taz sagte er: „Es muss klar sein, dass die CDU nicht in eine FDP-geführte Minderheitsregierung eintritt, die von der AfD toleriert wird.“ Das Ergebnis müsse ja unter Beteiligung der völkisch nationalistischen AfD zustande gekommen sein. Derlei Kooperationen verbietet die CDU. Polenz fordert Konsequenzen: „Die CDU sollte Ministerpräsident Kemmerich auffordern, so schnell wie möglich Neuwahlen herbeizuführen.“
Am Abend tritt dann doch noch Paul Ziemiak vor die Presse. Der CDU-Generalsekretär findet deutliche Worte. Die FDP habe „mit dem Feuer gespielt und heute Thüringen und unser ganzes Land in Brand gesetzt“. Den CDU-Landesverband greift er frontal an. Die dortigen Abgeordneten hätten billigend in Kauf genommen, dass „ein neuer Ministerpräsident auch mit den Stimmen von Nazis wie Herrn Höcke“ gewählt werden konnte. „Das Beste für Thüringen wären Neuwahlen.
Fortbestand der Großen Koalition gefährdet
Angesichts der Forderung von SPD-Chefin Saskia Esken nach einem Koalitionsgipfel könnte er da recht behalten: Die Vorgänge von Erfurt gefährden den Fortbestand der Großen Koalition. „Das hat Auswirkungen weit über Thüringen hinaus“, stellt auch Vizekanzler Olaf Scholz fest. „Es stellen sich für uns sehr ernste Fragen an die Spitze der Bundes-CDU, auf die wir schnelle Antworten verlangen.“ Was in Erfurt passiert sei, sei kein Zufall, sondern eine abgekartete Sache.
Scholz dürften Fragen wie diese vorschweben: Was wird die Bundes-CDU tun? Muss sie nicht ihre Parteifreunde in Thüringen davon abhalten, in die Regierung einzutreten, um glaubwürdig zu bleiben? Muss sie nicht mit Ausschlussverfahren drohen? SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil spricht von einem Tiefpunkt der deutschen Nachkriegsgeschichte, „nicht nur für Thüringen, sondern für ganz Deutschland“.
Die Antworten aus CDU und CSU kamen prompt. Annegret Kramp-Karrenbauer, derzeit in Strasbourg, sagte unmissverständlich: „Das Verhalten der CDU im dritten Wahlgang geschah ausdrücklich gegen die Empfehlungen, Forderungen und Bitten der Bundespartei. Am Abend empfiehlt das CDU-Präsidium einstimmig Neuwahlen in Thüringen.
CSU-Chef Markus Söder spricht von einem „inakzeptablen Dammbruch“. Die CDU erleide durch die Parteifreunde in Thüringen einen Glaubwürdigkeitsverlust. Ebenso die Liberalen: „Die FDP hat sich bei Jamaika verweigert, aber bei dieser Aktion jetzt mitgemacht“, sagte ein sichtlich empörter Söder. „Dass am Ende jemand mit fünf Prozent zum Ministerpräsidenten wird, zeigt, dass auf dieser ganzen Aktion kein Segen liegen wird.“
Keine Zusammenarbeit mit der AfD
Die Grünen fordern Kemmerich auf, sein Amt „unverzüglich“ niederzulegen. „Das ist ein Pakt mit Rechtsextremen“, heißt es in einer Erklärung, die die Partei- und Fraktionsvorsitzenden Annalena Baerbock, Robert Habeck, Katrin Göring-Eckardt und Anton Hofreiter gemeinsam veröffentlichen. Bundes-CDU und Bundes-FDP hätten beschlossen und x-mal behauptet, dass es keine Zusammenarbeit mit der AfD geben werde. Lege Kemmerich das Amt nicht nieder, müssten CDU und FDP auf Bundesebene die Thüringer Landesverbände ausschließen. „Sonst sind ihre Worte und Unvereinbarkeitsbeschlüsse keinen Pfifferling mehr wert.“
Parteichef Robert Habeck kritisierte die Wahl des FDP-Politikers Thomas Kemmerich zum Ministerpräsidenten von Thüringen als „Kulturbruch“ und forderte ihn zum sofortigen Amtsverzicht auf. CDU und FDP in Thüringen hätten bewusst einen Ministerpräsidenten mit den Stimmen der AfD gewählt, erklärten die Spitzen von Partei und Fraktion am Mittwoch in Berlin. „Wir sind entsetzt von der Ruchlosigkeit und Verantwortungslosigkeit von CDU und FDP in Thüringen.“
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