Soziologe über AbtreibungsgegnerInnen: „Das Ziel ist, liberale RichterInnen zu verhindern“
Die Union hadert mit Frauke Brosius-Gersdorf als mögliche Verfassungsrichterin. Soziologe Andreas Kemper sieht dahinter Kampagnen von AbtreibungsgegnerInnen.

taz: Herr Kemper, am Freitag wählt der Bundestag drei neue RichterInnen für das Bundesverfassungsgericht. Die Union sträubt sich gegen die von der SPD vorgeschlagene Kandidatin Frauke Brosius-Gersdorf – warum?
Andreas Kemper: Frauke Brosius-Gersdorf war Mitglied der Kommission, die in der vergangenen Legislaturperiode die Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen empfohlen hat. Das gefällt einer konservativen Partei wie der Union nicht. Vor allem gefällt es antifeministischen Lobbygruppen nicht – die wiederum großen Einfluss in der Unionsfraktion haben.
taz: Welche Lobbygruppen meinen Sie?
Kemper: Es gibt verschiedene, eng miteinander vernetzte AkteurInnen der organisierten „Lebensschutz“-Bewegung mit sehr guten Kontakten in die Unionsfraktion. Da sind zum Beispiel die „Christdemokraten für das Leben“ (CDL), die schon Anfang Juli die Union aufgefordert haben, die Kandidatur von Frau Brosius-Gersdorf nicht zu unterstützen.
taz: Wer steckt hinter dieser Gruppe?
Kemper: Die Organisation hat sich nach der Wiedervereinigung gegründet, als es darum ging, das Abtreibungsrecht aus BRD und DDR zu einem gemeinsamen Recht zusammenzuführen. Damals hat sie erfolgreich eine liberale Regelung mitverhindert. Mit bei der Stimmungsmache seit Anfang Juli waren zudem die „Stiftung Ja zum Leben“, der „Bundesverband Lebensrecht“, die „Aktion Lebensrecht für Alle“ – also alles Gruppen aus der Anti-Choice-Bewegung.
taz: Wie hängen die zusammen?
Kemper: Diese AkteurInnen sind im engen Austausch miteinander und auch personell eng verbandelt. Und es steckt viel Geld dahinter: Bereits 2017 überschritt die jährliche Förderung der „Stiftung Ja zum Leben“ an „Lebensschutz“-Initiativen die Millionengrenze. Auch die verschiedenen Organisationen der AfD-Bundestagsabgeordneten Beatrix von Storch und ihrem Mann Sven von Storch gehören in diese Szene. Dazu kommen internationale Netzwerke und Geldflüsse, etwa aus den USA und Russland. Relevant sind hier auch eingespielte Verbindungen des Adels: Johanna von Westphalen gründete die CDL und die „Stiftung Ja zum Leben“, deren Cousine Elisabeth von Lüninck kämpfte gegen die Ehe für alle, deren Tochter Hedwig von Beverfoerde baute zusammen mit Beatrix von Storch die „Demo für alle“ auf, und so weiter.
taz: Wie gehen diese Gruppen nun konkret vor?
Kemper: Es ist immer das gleiche Muster: Die Organisationen starten einen Aufruf, in diesem Fall, um die Berufung von Frau Brosius-Gersdorf zu verhindern. „Lassen Sie uns die lebensfeindliche Rechtsprechung verhindern“, heißt es darin. Sie recherchieren die Kontaktdaten der entscheidenden Abgeordneten im Wahlausschuss und stellen eine Excel-Datei zur Verfügung mit Namen, Telefonnummern und Emailadressen – mit einem Klick kann man die Leute dann kontaktieren. Oft gibt es sogar einen vorgefertigten Text, so dass innerhalb von sehr kurzer Zeit eine sehr große Zahl ähnlicher oder wortgleicher Mails an die Abgeordneten geht.
taz: Dass Leute ihre Position zum Ausdruck bringen, auch gewählten Abgeordneten gegenüber, ist doch legitim.
Kemper: Ein Problem wird es aber, wenn damit Demokratie ausgehebelt wird. Wir wissen aus repräsentativen Befragungen, dass 80 Prozent der Bevölkerung für ein liberaleres Abtreibunsgrecht sind. Sogar die Mehrheit der Katholik*innen sieht das so. Diese Email- und Anrufaktionen aber schlagen ein wie eine Bombe, Abgeordnete können ihre Postfächer wegen Überfüllung teils nicht mehr nutzen.
taz: Wozu das Ganze?
Kemper: Die Aktion soll aussehen wie eine riesige Graswurzel-Bewegung. Wenn man näher hinschaut, ist es aber eigentlich nur ein Kunstrasen. Aber damit und mit ihren Verbindungen in konservative Parteien sind diese Organisationen extrem erfolgreich. Sie nutzen ihren Einfluss, um Politik zu machen, die sich gegen die eigentliche Mehrheit wendet – und gegen Grundrechte von Minderheiten.
taz: Wie meinen Sie das?
Kemper: Das Aushängeschild dieser Bewegung ist der Kampf gegen Schwangerschaftsabbrüche. Es gibt aber enge Kontakte und viele Überschneidungen in jene Bewegungen, die auch gegen die Ehe für Alle mobilisiert haben oder gegen das Selbstbestimmungsgesetz. Was sie eint, ist das Beharren auf einer vermeintlich natürlichen Ordnung, in der Männer und Frauen gemeinsam Kinder bekommen in einer patriarchalen Gesellschaft. Dass sich dieser Kampf gerade konkret an der Besetzung von Richterposten zeigt, ist kein Zufall.
taz: Warum nicht?
Kemper: Bis 2018 gab es in verschiedenen europäischen Großstädten jährliche Geheimtreffen antifeministischer Organisationen unter dem Namen „Agenda Europe“. Das waren Netzwerk- und Strategietreffen von Personen, die sich gegen emanzipatorische und progressive Politik wenden und an einem Rollback sexueller und reproduktiver Rechte arbeiten. Eine zentrales Vorhaben: Richterposten mit ihren Leuten zu besetzen, vor allem an den obersten Gerichten. Die Ergebnisse sehen wir in Polen, aber auch in den USA. Das hat ganz klar Strategie.
taz: Mit welchem Ziel?
Kemper: Diese Leute wissen, dass sie Politik gegen die Mehrheit machen. Wie gesagt, 80 Prozent in Deutschland wollen ein liberaleres Abtreibungsrecht. Auf demokratischer Ebene ist für die AntifeministInnen nichts zu holen. Also müssen sie die Politik von oben bestimmen, wenn sie etwas erreichen wollen: Von den Gerichten aus, wenn dort Richter*innen sitzen, die in ihrem Sinne urteilen und Fortschritt verhindern. Deswegen ist es aus ihrer Sicht auch so wichtig, liberale RichterInnen zu verhindern.
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