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Olaf Scholz am Mittwoch im Bundestag. Seinen Kontrahenten geht er am Tag der Abstimmung scharf an Foto: Maurice Weiss/ostkreuz

SPD unter DruckNun hofft Olaf Scholz auf ein Comeback

Der Noch-Kanzler ist kein Visionär. Im Wahlkampf wirkt er gewohnt spröde. Kann er den Tabubruch von Friedrich Merz für sich nutzen?

Stefan Reinecke
Anna Lehmann
Von Stefan Reinecke und Anna Lehmann aus Berlin

M it Fußball hat es der Gast sonst nicht so. Umso mehr freut sich der Präsident des 1. FFC Turbine Potsdam, dass Olaf Scholz an diesem eisigen 3. Januar ins Potsdamer Stadion am Luftschiffhafen zum Training gekommen ist. „Gefühlt stehen wir Seite an Seite, also ein bisschen im Keller“, sagt Präsident Karsten Ritter-Lang. Turbine Potsdam liegt abgeschlagen auf dem letzten Tabellenplatz in der Oberliga der Frauen. Früher waren die Kickerinnen aus Potsdam mal ein Spitzenteam. „Das hat ja Symbolcharakter“, sagt Ritter-Lang fröhlich.

Olaf Scholz ist an diesem ersten Freitag im neuen Jahr in seinem Wahlkreis Potsdam unterwegs. Das politische Berlin ist noch in der Weihnachtspause, Scholz’ Wahlkreistour ist sein Aufwärmtraining für den Bundestagswahlkampf. Nur wenn die SPD am 23. Februar auf Platz eins landet, bleibt Scholz Politiker. Gewinnt Scholz, ist Friedrich Merz weg; gewinnt Merz, geht Scholz in Rente.

Der Beinahe-Rentner, die Hände in den Manteltaschen vergraben, kneift nach der Begrüßung die Augen zusammen und verzieht die Mundwinkel. Es könnte ein Lächeln sein. Es sind noch 51 Tage bis zur Wahl. Die SPD liegt Anfang Januar in Umfragen weit hinter der CDU/CSU, im Kanzlerranking wett­eifert Scholz mit Alice Weidel um Platz vier.

Die Fußballerinnen, die im Halbkreis vor ihm stehen, trappeln mit den Füßen auf dem gefrorenen Rasen, um sich warm zu halten. „Und ist die Spielfreude da?“, fragt Scholz in die Runde. „Wollen Sie gewinnen?“ Die Frauen nicken. „Klar! Und bei Ihnen?“ – „Auch beides“, sagt Scholz und nimmt die Hände aus den Taschen. Kämpfen und gewinnen wollen, das motiviere ihn.

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Wende im Wahlkampf?

Wie 2021. Vor drei Jahren stand die SPD zwei Monate vor der Bundestagswahl auch bei nur 16 Prozent. Dann lachte Unions­kanzlerkandidat Armin Laschet am falschen Ort zur falschen Zeit. Die SPD gewann die Wahl. Jetzt paktiert Unionskandidat Friedrich Merz mit der falschen Partei. Ist das die Wende im Wahlkampf?

Die Vorzeichen für eine Wiederholung des Wunders von 2021 sind schlechter. Die SPD kommt abgekämpft aus der Ampelkoalition. Scholz’ Image als unauffälliger, aber effektiver Macher ist ramponiert. Das Ende der Regierung hat ihn getroffen. Danach hat die SPD gezögert, ihn wieder zum Spitzenkandidaten zu machen. Manche hätten den populäreren Verteidigungsminister Boris Pistorius vorgezogen. All das hat Scholz Kraft gekostet, heißt es aus seinem Umfeld. Er, der stählern Selbstbewusste, hat nach dem Ampel-Aus an sich gezweifelt.

Der gewiefte Machtpolitiker hat untypische Fehler gemacht. Bei der Frage, wann gewählt werden soll, hätte sich Scholz mit der Opposition auf einen gemeinsamen Termin einigen können. Doch er hat sich über- und den Gegner unterschätzt. Das Ergebnis: Er wirkte wie jemand, der aus Eigennutz einen späten Termin wollte – und scheiterte. Den 23. Februar handelten SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich und Merz aus. Noch ein Kratzer in der Politur des Machers.

Mittwochabend nach der Abstimmung: Das SPD-Präsidium tritt vor die Presse Foto: Maurice Weiss/ostkreuz

Im Januar scheint Scholz vor allem gegen sein eigenes Bild in der Öffentlichkeit anzukämpfen – dröge, unnahbar, arrogant. Er absolviert einen Wahlkampfauftritt nach dem andern – Bielefeld, Lünen, Münster, Chemnitz, Halle, Wolfsburg, Lübeck, Schwalbach, Frankfurt, Erfurt – doch diese Auftritte sind wie Schattenboxen. Sein Hauptgegner Friedrich Merz bleibt weitgehend unsichtbar. Bis zum 23. Januar. Da wirft Merz die bisherige Wahlkampfstrategie der Union über den Haufen, stellt seine Pläne zur Begrenzung der Migration vor, mit Grenzschließungen und Einreiseverboten für fast alle Asylbewerber, und kündigt an: „Kompromisse sind zu diesem Thema nicht mehr möglich.“ Ihm sei gleichgültig, wer diesen Weg mitgehe. Einen Tag zuvor hatte ein psychisch kranker Mann aus Afghanistan in Aschaffenburg auf bestialische Weise eine Kitagruppe angegriffen.

„Scholz will immer kontrollieren“

Merz will eine Wende in der Flüchtlingspolitik und setzt SPD und Grüne unter Druck. Doch eingeladen fühlt sich vor allem die AfD. Am 29. Januar verhelfen die Rechtsextremen dem Unionsantrag zur Mehrheit. Die AfD-Fraktion feiert, die Unionsabgeordneten sind wie eingefroren.

Scholz nennt Merz im Bundestag zuvor einen Zocker. Er beschimpft ihn als Populisten, als einen, der europäisches Recht breche, einen, dem man die Führung eines Landes nicht anvertrauen könne. Dass Scholz nicht viel von Merz hält, war schon immer klar. Selten hat er seine Verachtung für seinen Herausforderer so deutlich gezeigt.

Scholz hält sich sowieso für den am besten geeigneten Kanzler. Besonnen und rational. Seine Maxime: Immer das Heft des Handelns in der Hand behalten. „Scholz will immer kontrollieren“, sagt Gesine Schwan, Politikwissenschaftlerin und Vorsitzende der SPD-Grundwertekommission. „Er kann nicht sagen: ‚Lasst es mal laufen.‘ Sein Verständnis von Verantwortung ist, auf Nummer sicher zu gehen und genau zu kalkulieren, wie wir es machen.“

Schwan, die Scholz lange kennt, meint das nicht nur positiv. Also habe Scholz auch jede Diskussion in der SPD über den richtigen Kurs erstickt. „Er wollte keine diskutierende Partei, das war ihm zu viel Risiko. Er hat wenig Vertrauen in das Verantwortungsbewusstsein anderer Sozialdemokraten.“ Doch zu diskutieren sei eine Menge, gerade nach dem russischen Angriff auf die Ukraine, mit dem Erstarken der AfD. Wie buchstabiert man Solidarität, Freiheit, Gerechtigkeit aus in einer Welt, in der die Trumps, Putins und Xis den Ton angeben? Für wen macht man Politik?

So­zi­al­de­mo­kra­t:in­nen mit versteinerten Gesichtern Foto: Maurice Weiss/ostkreuz

Scholz verteidigt harte Asylpolitik

Die SPD hat den Mindestlohn auf 12 Euro erhöht. Doch das reicht wegen der Inflation kaum zum Leben. Das Bürgergeld, das die Hartz-IV-Wunde heilen sollte, ist auch in der eigenen Wählerklientel umstritten. Und bei der Migration, dem Wahlkampfthema derzeit, ist die SPD-Klientel ebenfalls gespalten.

Sonntag, 19. Januar. Schwalbach, eine Trabantenstadt nahe Frankfurt, 60er-Jahre-Betonbauten. Das Bürgerhaus ist klein und bis auf den letzten Platz gefüllt. Beim Bürgergespräch mit dem Kanzler kritisiert eine Frau, dass es bei Migrationspolitik nur Verschärfungen gibt. Andere bemängeln, dass Migranten schlecht Deutsch sprechen und sich zu wenig integrieren. Scholz verteidigt die härtere Asylpolitik.

Unter seiner Führung hat die SPD unter Murren zahlreiche Verschärfungen mitgetragen: Bezahlkarten für Asylbewerber, verlängerter Ausreisegewahrsam, raschere Abschiebungen. Alles an der Grenze des Rechtskonformen. Scholz mahnt, an, dass die Ausländerbehörden effektiver arbeiten müssen und die Bundesländer nicht Jahre brauchen, um Asylanträge zu bearbeiten. Die Botschaft lautet: Wir kümmern uns. Migration, das Megathema, das den Westen durchschüttelt, schrumpft bei Scholz zu einem Problem effektiver Verwaltung.

Scholz ist kein Visionär. Sondern der Mann, der im Maschinenraum alle Stellschrauben kennt. Er hat immer das Machbare im Blick, das man vernünftig und in Zimmerlautstärke formuliert. Einen Klempner der Macht nannte Merz ihn. Das trifft es. Scholz’ Problem ist: All die Berechenbarkeit, die Planbarkeit, das Kleinteilige seiner Politik hat das Vertrauen der Menschen in ihn nicht erhöht. Im Gegenteil. Viele seiner Pläne scheiterten. Die Umwidmung von 60 Milliarden Euro Coronaschulden in den Klimafonds kassierte das Bundesverfassungsgericht.

Nüchtern, gelegentlich oberlehrerhaft

Die grüne Transformation, die, wie Scholz kühn prophezeite, jährliche Wachstumsraten von 5 Prozent bescheren werde, stockt. Die Wirtschaft schrumpft seit zwei Jahren. Die Aussichten für 2025 sind mies. Kann der Kanzler diese Krisen wenigstens erklären? Zeigen, dass er trotz der Rückschläge der Richtige ist?

Wolfsburg, 17. Januar. Die erste SPD-Großveranstaltung. Der Ort ist wohl gewählt. Bei VW, dem Leuchtturm der Mitbestimmung, kriselt es. VW ist Symbol für die bundesdeutsche Industrie – und jetzt auch für massive Abstiegsängste. Scholz’ Auftritt soll zeigen, dass in der Krise auf die SPD Verlass ist.

Die Halle ist fast voll, 1.500 Leute, nicht nur GenossInnen. Drei GymnasiastInnen wollen den Kanzler mal live mitbekommen und hören, was er gegen die Malaise in Wolfsburg tun will. Die spüren sie. Das Schul­essen ist nicht mehr umsonst, sagen sie, weil VW weniger Geld für die Schule spendet. Und: In Wolfsburg ist alles VW, sagen sie achselzuckend. „Mehr für Dich. Besser für Deutschland“ lautet der Slogan über der Bühne. In Wolfsburg wäre „Nicht weniger für Dich“ auch schon eine gute Nachricht.

Scholz schlendert betont locker auf die Bühne und sagt: „Hallo Wolfsburg.“ Pause. „Ich fange so normalerweise keine Rede an.“ Verlegen befingert er das Mikrofon. Bemüht sich Fahrt aufzunehmen. Wolfsburg sei wegen VW, Krise, Industrie derzeit etwas Besonderes. Scholz redet eine knappe Stunde. Kein Wort mehr über Wolfsburg, keine Aufmunterung, kein Versprechen. Die Wahlkampfrede ist ein halber Vortrag über Wirtschafts- und Finanzpolitik.

Er reiht Fakten aneinander, ohne emotionalen Wärmestrom. Als er den Made-in-Deutschland-Bonus erwähnt, eine von der SPD geplante Steuerprämie für Investitionen, applaudieren einige. „Erst klatschen, wenn ich es erklärt habe“, sagt der Kanzler.

Scholz profunde Stärken

Nüchtern, gelegentlich oberlehrerhaft. Catchy geht anders. Man kann Scholz viel vorwerfen. Dass er seinem Publikum nach dem Mund redet, gehört nicht dazu. Er ist der Gegenpol zum dampfenden Gefühlspopulismus von Markus Söder und zu Friedrich Merz’ schneidiger Macherattitüde.

Die schärfste Kritik-Formel, die Olaf Scholz in den Hallen und Bürgerhäusern der Republik im Januar verwendet, lautet: „Das ist nicht in Ordnung.“ Die faktische Abschaffung des Asylrechts, die die Union betreibt, „nicht in Ordnung“, dass die Union Reichen Milliarden ohne Gegenfinanzierung schenken will: „nicht in Ordnung“. Die Union umwölkt er meist als „der politische Mitbewerber“. Den Namen Merz erwähnt er nicht.

Braucht man vier Wochen vor der Wahl in fast aussichtsloser Lage vor dem zugeneigten, freundlichen Publikum in Wolfsburg und Frankfurt, Halle und Schwalbach, nicht mehr Schwung, Verve, Risikobereitschaft? Mehr „Wir gegen die“?

Scholz redet oft leise. Er hält das Mikro etwas zu weit nach vorn. Leise zu reden ist keine Machtgeste so wie bei Scholz’ Amtsvorgänger Helmut Schmidt, der mit Kunstpausen, Schweigen arbeitete, um zu zeigen, wer das Sagen hat und das Tempo diktiert. Scholz’ leise Ansprache wirkt zurückhaltend. Eigentlich ist er schüchtern. Er mag keinen Smalltalk. Selbst auf SPD-Festen wirft er sich selten ins Getümmel und redet lieber mit Leuten, die er kennt.

Scholz hat durchaus profunde Stärken. Er verkörpert Souveränität, Vorsicht, Maß und Mitte. „Er setzt auf Argumente“, sagt Schwan. „Und er hat auch gute. Das Problem ist nur: Sie kommen nicht an.“ Dem Kanzler sei es bisher nicht gelungen, die kommunikative Mauer zwischen sich und dem Wahlvolk zu durchbrechen. Er wirkt auf viele kalt, fern, technokratisch.

Manche sagen Scholz wäre oft witzig

Dabei versucht Scholz fast alles, um das zu ändern. Er macht tausende Selfies. Er besucht tapfer online Ratesendungen und lässt sich in der „heute-show „veralbern. In Köln hält er als Hamburger beim Neujahrsempfang der Handelskammer eine kurze Büttenrede. „Manche sagen, wir sind dröge. Doch das ist ’ne glatte Löge.“ Er tritt bei der hessischen Online-Talkshow „Bembel und Gebabbel „auf, wo er durch ein Spalier von leicht bekleideten Frauen mit SPD-Fähnchen gehen muss. Dazu plärrt es aus den Lautsprechern: „Das ist die großen bunte Olaf Show.“

Scholz will das Publikum erreichen, dass nie Tagesschau guckt. Er versucht locker zu erscheinen. Doch das sind Auswärtsspiele für ihn. Bei einem Auftritt vor SPD-Klientel in Frankfurt fragt ein Genosse, ob Olaf, obwohl Norddeutscher, nicht mal einen Witz erzählen wolle. Das findet Genosse Olaf nur bedingt lustig. „Heute nicht“, sagt er.

Dabei kann er im kleinen Kreis ganz anders sein. „Der Kanzler ist oft witzig und gut gelaunt“, sagt sein Sprecher Steffen Hebestreit. Er sei ein „wirklich guter Chef“ – rücksichtsvoll und verlässlich. Hebestreit nimmt „Olaf“ sogar vor Journalisten auf den Arm. „Bloß nicht zu emotional“, witzelt er vor Hintergrundgesprächen schon mal. Und Olaf grinst. Übertriebenes Machtbewusstsein, gesteigerten Geltungsdrang oder Mackerattitüden kann man Scholz nicht vorwerfen.

Dass Politiker süchtig nach Macht sein sollen, gilt als eine Art Generalschlüssel, um zu erklären, wie sie ticken. Für Scholz trifft diese Diagnose nur bedingt zu. Ihn treibt eher ein Pflichtethos, so wie es bei seinem Vorbild Helmut Schmidt der Fall war. Scholz ist längst nicht so barsch und herablassend wie Schmidt. Aber wie Schmidt versteht Scholz Politik als Geschäft, in dem Visionen eher stören. Wie sein Vorbild ist Scholz ein Ideologe des Pragmatismus. Und natürlich ist er immer schlauer als die anderen, auch wenn die das natürlich erst später begreifen werden.

Es geht ihm viel um Geld

Mittwoch, 22 Januar. Scholz fliegt, zwei Tage nach Trumps Amtseinführung, nach Paris. Das soll zeigen, dass Europa sich nicht von Trump spalten lässt. Scholz redet im Flugzeug eine Stunde lang mit den mitreisenden Journalisten. Ein Hintergrundgespräch, aus dem nicht zitiert werden darf. Doch Scholz gibt ein paar Sätze frei. Das ist ungewöhnlich. Aber so wichtig ist ihm seine Botschaft: Die Kritik an den unseriösen Plänen seiner politischen Mitbewerber für zusätzliche Militärhilfen an die Ukraine. Grüne, FDP und Union fordern zusätzliche drei Milliarden Euro für die Ukraine. Scholz weist sie in scharfen Worten zurecht. Wirft ihnen vor, die Öffentlichkeit zu belügen. Es gebe 2025 ein Haushaltsloch von 25 Milliarden Euro.

Man müsse schon sagen, woher das Geld kommen soll. Das, so der Kanzler, der selten Ich sagt, „empfinde ich als Skandal.“ Und: „Einfach zu behaupten, das würde trotz der Finanzlücke schon irgendwie gehen, hat das Niveau von Sprücheklopfern.“ Sprücheklopfer sollen die anderen sein. Nur er rechnet seriös.

Seine Kernbotschaft, die er leise, aber stetig wiederholt, lautet: Nur mit der SPD wird Ukraine-Unterstützung und Verteidigung nicht zu Lasten von Renten und Sozialem gehen. Kein Entweder-oder, sondern ein Sowohl-als-auch. Scholz erklärt das immer wieder. Wenn er es erklärt, regnet es Zahlen: 12,5 Milliarden, 3 Milliarden, 25 Milliarden. Haushaltspolitik ist kompliziert. Dabei hat die SPD noch nie eine Wahl mit Finanzpolitik gewonnen.

Als der Kanzler nach Paris fliegt, tötet ein psychisch kranker Flüchtling aus Afghanistan in Aschaffenburg ein zweijähriges marrokanisches Kind und einen 41-jährigen. Es braut sich ein Stimmungsorkan zusammen, der die Wahlkampfstrategie der SPD vom Tisch zu fegen droht. Im Dezember hatte ein SPD-Stratege prophezeit: „Wir haben eine Chance, wenn der Wahlkampf um Soziales geht. Wenn es um Migration geht, verlieren wir.“ Es gibt eine aktuelle Zahl, die SPD-Wahlstrategen Kopfzerbrechen machen muss. Die SPD-Klientel hat Sympathien für Merz' Grenzen-dicht-Parole. 52 Prozent der SPD-Anhänger sind dafür, 37 dagegen. Die eigene Anhängerschaft ist gespalten.

Die Wahlkampf-Dramaturgie wird neu geschrieben

Doch geht es nun nicht nur um Migration, sondern auch um die Sprengung der Brandmauer gegen rechts. Denn genau das hat Merz getan: Die Union setzt einen knallharten Asylantrag, auf den die AfD das politische Copyright anmeldet, mit AfD-Stimmen durch. Damit geht der Union-Kandidat im Wahlkampf „all in“, ein Begriff aus dem Poker. „All in“ geht nur, wer im Spielverlauf kaum noch Chancen hat. Dabei liegt die Union in Umfragen weit in Führung. Doch Merz sprengt den Anti-AfD-Konsens der politischen Mitte in die Luft. Die Wahlkampf-Dramaturgie wird neu geschrieben.

Dienstagabend, 28 Januar. Scholz steht auf einer kleinen Bühne im Festsaal Kreuzberg in Berlin. Er wirkt selbstsicherer. Er redet flüssiger, und reagiert spontan auf Zwischenrufe. Für Merz‘ Tabubruch gebe es „keine Entschuldigung“, sagt er. Und: Es dürfe „keine schwarz-blaue Mehrheit im Bundestag geben“. Abteilung Attacke. Tosender Beifall. Dass Merz ohne Not der AfD die Tür geöffnet hat, wirkt auf Scholz wie eine Sauerstoffzufuhr. Er hat nun endlich den Gegner vor sich, auf den er sich gefreut hat: erratisch, unzuverlässig, affektgesteuert. Im Wahlkampf, im Bundestag, im Interview bei „Maischberger“ wirkt Scholz wie ausgewechselt. Das Hölzerne, Steife, Buchhalterhafte scheint wie weggeblasen.

Die SPD hat dem Moment entgegen gefiebert, in dem Merz, der sich wochenlang keine Blöße gab, endlich im Ring auftaucht. Nicht nur Scholz kommt in Schwung. Es liegt Spannung in der Luft, es geht nun um Grundsätzliches.

Plötzlich ist die Chance greifbar, dass Scholz, trotz Ampelcrash, wieder in seiner Lieblingsrolle wahrgenommen wird – als der verantwortliche Staatsmann, den nichts aus der Ruhe bringt. Denn Merz' Zickzack-Kurs in Sachen AfD, das Sprunghafte, Unberechenbare, müsste auf frühere Merkel-WählerInnen doch abschreckend wirken. Die Ex-Kanzlerin rüffelt Merz öffentlich, weil er mit der AfD gemeinsame Sache gemacht hat. Ist das ein Kipppunkt wie 2021, als die Union in internem Streit versank – und der blasse Scholz vielen als das kleinere Übel erschien?

Die Wahl entscheiden „weder Meinungsmacher noch Umfrageinstitute“, sagt Scholz stoisch. Er scheint wieder an seine Chance zu glauben. Scholz, der Mann des Comebacks, der auftaucht, wenn ihn alle abgeschrieben haben.

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17 Kommentare

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  • Dieser Artikel beinhaltet sehr viel Positives über einen Olaf Scholz.



    Der aktuelle Bundeskanzler kann hiermit aber nicht gemeint sein, oder ? 😉



    Wirtschaft kaputt, Migration nicht im Griff, Energie zu teuer, Inflation zu hoch, Deutschlands Image in der Welt zerstört, AfD wächst und wächst, ....



    Erfolg sieht anders aus - Olaf sollte in Rente gehen und Platz machen für eine politische Wende ...

  • In dem cum ex-SteuerSkandal hat nicht nur Scholz Ernnerungsvermögen versagt, sondern er hat gelogen und -eigentlich noch schlimmer - das Fehlverhalten/die Entscheidung



    einer Sachbearbeiterin zugeordnet ( „in die Schuhe geschoben“)



    um sich aus der Verantwortung zu nehmen. Das ist richtig mies,



    Genauso wie die permanente Schuldverweisung auf andere

  • Bei der Europawahl 24 hat die SPD 570000 Wähler an die Afd verlohren, genausoviele wie die CDU. Selbst die Grünen haben 50.000 an die AFD verlohren. Bin ja mal gespannt wohin die Wähler jetzt wandern bei der ruhigen Hand.

  • Auch "Linke" sollten sich freuen das die CDU erstmals seit langem wieder ein konservatives Profil hat! Eine "Merkel-CDU", die (nur) Grünen/SPD Wähler gut finden, ist keine CDU. Nur eine knackig-provokativ konserative CDU kann die AfD erfolgreich bekämpfen. Meine Vorhersage dank Merz: CDU > 35%, AfD < 20%,

  • Scholz schlimmer als Merz?



    Ich werde Merz nicht wählen, aber Scholz wäre aus meiner Sicht noch schlimmer für Deutschland. Unter Scholz als Kanzler hat sich die AfD verdoppelt und die Wirtschaft ging abwärts, viel schlechter als bei allen anderen EU-Staaten.



    Wir brauchen endlich eine Veränderung in diesem Land, nicht weiter die Valium-artige, angeblich "ruhige Hand". Die war nämlich so ruhig, dass die Wirtschaft abstürzt, die Arbeitslosen zunehmen, die Asylpolitk von der Mehrheit des Volkes als großes Problem angesehen wird und die AfD weiter aufblüht. Für die AfD ist gerade Weihnachten und Ostern zusammen, so dumm benehmen sich die Parteien der Mitte.



    Nur der Gerechtigkeit wegen: Linder und Habeck taugen auch nicht für dieses Amt.

    • @Hans Dampf:

      Aber wer taugt überhaupt? Ich bin wirklich am verzweifeln, es gibt keine gute Wahl.

  • "Scholz’ Image als unauffälliger, aber effektiver Macher ist ramponiert."

    Ich glaube, dieses Image hat er noch nicht mal bei seinen Wählern bei der SPD.



    Ein "Macher" würde doch keine 9% seit der letzten Bundestagswahl verlieren, weil dann Ergebnisse (oder zumindest die Aussucht auf welche) da währen. Und ein Macher würde nicht die Fehler der anderen brauchen sondern abliefern.

    ->



    "Scholz ist kein Visionär. Sondern der Mann, der im Maschinenraum alle Stellschrauben kennt. Er hat immer das Machbare im Blick,[...]. Scholz’ Problem ist: All die Berechenbarkeit, die Planbarkeit, das Kleinteilige seiner Politik hat das Vertrauen der Menschen in ihn nicht erhöht. Im Gegenteil. Viele seiner Pläne scheiterten. Die Umwidmung von 60 Milliarden Euro Coronaschulden in den Klimafonds kassierte das Bundesverfassungsgericht."

    Der "Macher" sollte vielleicht dann doch lieber aufhören "zu machen", wenn "Machen" bedeutet "Am Ende ist der Schaden größer als wenn man es gelassen hätte."

    Wie wenn der Mann im Hause denkt "Das bekomme ich auch ohne Kemptner hin..." und der "Macher" am Ende, nach dem Wasserschaden den Fachmann/Frau rufen muss.

  • Nein, der Vorsprung der CDU/CSU gegenüber der SPD ist zu groß, zu stabil, da wird sich nichts mehr ändern. Da fehlt Scholz der Realismus. Realismus ist etwas, was Scholz schon immer gefehlt hat.

    Er hat z.B. von Anfang an nicht erkannt, wer Lindner ist, hat auch Bearbock und Habeck falsch eingeschätzt.

    Ihm hätte klar sein müssen, dass die FDP, aber auch die Grünen ihm jederzeit in den Rücken fallen würden, sobald sich für sie die Aussicht auf die Rolle des Juniorpartners in einer CDU-Regierung ergibt - was nun der Fall ist.

    Wahrscheinlich wird aber seine SPD ohne ihn selbst der Junior-Regierungspartner der Merz-CDU werden - und im Grunde die Politik von Scholz weiterführen.

    Diese Politik der SPD unter Scholz war sowieso nie sozial, die friedlich und nie asylfreundlich und wird nun von der neuen/alten großen Koalition noch mal ins Extrem getrieben, noch weiter nach rechts als sie ohnehin schon war.

    Die AfD und die FDP freut's - auch wenn sie nicht direkt dabei sein werden.

  • Nach der mutwillig angesetzten Wahl gibt es keine besseren Mehrheiten. Scholz kann lange über Merz lästern, es ist sein Fehler.

  • merz ist ein Kanzlerkandidat aus dem letzten Jahrhundert.



    Das mag erschreckend sein, aber er wurde in den 80er Jahren von den Grünen genauso gehetzt wie heute von der AfD. Er hat`s erlebt und erinnert sich. Manchmal ist es für die Partei nicht tragbar ihre Doktrin den Wähler zu verkaufen, sondern den Wunsch der Wähler aufzunehmen. Vor 40 Jahren war es mehr grüne Politik, heute mehr Deutschland zu erst.



    Im Artikel steht, Herr Scholz sei kein Machtmensch, nur ob der Position des Machthabenen wegen. Wäre das wirklich so, dann wäre Herr Pistorius der Kanzlerkandidat. Die SPD käme wahrscheinlich über 20% und eine althergebrachte Groko würde das Schlimste verhindern. So krallt Scholz sich an den Stuhl und macht es nur schlimmer für die Partei und das Land. Selbst seine eigene Vorstellungen und Wünsche für Europa und den Ukrainekrieg gefährdet er damit vehement

  • Sehr gute Analyse. Ich bin mir sicher jetzt werden die Leute erstmal merken welche Gefahr nicht nur von der AfD, sondern auch von der Union ausgeht.



    Jetzt wird die SPD so richtig loslegen. Auch wenn Scholz die Menschen nicht emotional anspricht, ist er die einzige Garantie gegen Rechtsextremistinnen!

    • @Nobodys Hero:

      "Jetzt wird die SPD so richtig loslegen."



      Ironie oder ernst gemeint?

      • @Hans Dampf:

        Normalerweise hat der Amtsinhaber einen „Bonus“, wird



        jedenfalls bei jeder Wahl behauptet. Bei Scholz beträgt der



        zZ. miinus 10 % !

  • Hätte man in der SPD auf Pistorius gesetzt hätte man jetzt wirklich eine Chance. Ob das Gesicht der Ampel, eine Zielscheibe des Überdrusses da noch was reißt? Okay, Merz macht es sehr schlecht, aber sooo schlecht?

  • Seine gewisse, durchaus gekonnte Ironie, sollte man Olaf Scholz nicht absprechen 😉

  • Aus den Umfragen der vergangenen Tage und Wochen habe ich den Eindruck gewonnen:

    Es wird sich wenig ändern. Fast alle, die Merz' Schritt unmöglich finden, waren ohnehin schon fest auf SPD, Grüne oder Linke abonniert. Das war bei den Rote-Socken-Kampagnen der Union gegen die PDS bzw. Linke ganz entsprechend.

    • @Frauke Z:

      Sie dürfen wohl recht haben. Ich gebe ohnehin nichts auf die links/rechts-Lagerkämpfe. Kretschmann war ein super MP für Baden-Württemberg, die Grünen im Bund würde ich niemals mehr wählen. Die SPD hat ein paar echte Könner, Scholz gehört aber so gar nicht dazu. Bei der FDP muss dringendst der Kopf ausgetauscht werden, Lindner wird unerträglich. Und Merz ist nun auch nicht das, was ich den Knaller nennen würde, zu ruckartig dumme Sachen machend, eines Kanzlers nicht würdig..



      Aus meiner Sicht ist dies bestenfalls die Wahl des kleinsten Übels, und ich überlege immer noch, wer das kleinste Übel ist.



      Werde wohl irgendeiner Minipartei die Stimme geben.