Proteste von Jugendlichen in Frankreich: Sie haben keine Wahl
Die Proteste in Frankreich reagieren auf die Polizei, die einen 17-Jährigen erschoss. Sie sind für Jugendliche der einzige Weg, gehört zu werden.
Seitdem der 17-jährige Nahel in Nanterre von einem Polizisten kaltblütig erschossen wurde, brennt es in Frankreich. Dort, wo die rassifizierte Arbeiterklasse vom Staat auf Ewigkeiten geparkt und von seiner Polizei unterdrückt wird, lassen vor allem Jugendliche ihrem Frust freien Lauf. Das Video, das den Mord an Nahel zeigt, wurde längst von Bildern der Zerstörung abgelöst: eine ausgebrannte Tram nach Protesten in Bordeaux, demolierte Glasfassaden in Marseille.
Insbesondere viele deutsche Korrespondent*innen zeigen sich schockiert über die Ausmaße des Protests. Die Demonstrant*innen werden zur Ruhe aufgerufen. Sie würden mit den Randalen nur ihr eigenes Eigentum zerstören, heißt es.
Diesem eingeübten Blick von außen – manchmal vom Homeoffice mit Aussicht auf die restaurierte Kathedrale von Notre-Dame aus – liegt ein grundsätzliches Missverstehen des historisch gewachsenen Kastensystems in Frankreich zugrunde. Die Bilder der brennenden Autos, der Feuerwerkskörper, die auf die Staatsmacht abgefeuert werden, wirken wie eine fragile Lebensversicherung für die rassifizierte Jugend Frankreichs.
Auch in anderen Ländern mussten in den vergangenen Jahren Polizeiwachen in Flammen aufgehen, damit die Schwächsten eine Überlebenschance bekommen. Diesen Zusammenhang zwischen Mobilisierung und Selbstschutz verstehen nur die wenigsten.
Rein analytisch und aus der Perspektive der Demonstrant*innen betrachtet: Paris muss brennen, damit sich zumindest kurzfristig etwas in Sachen Polizeigewalt im Land tun könnte.
Der Preis für die Morde, die von Polizist*innen begangen und von der Politik überhaupt ermöglicht werden, muss nach oben getrieben werden. In diesen Tagen erinnern sich viele an das Jahr 2005. Damals starben die beiden Jugendlichen Zyed Benna und Bouna Traoré in Clichy-sous-Bois bei Paris. Sie versteckten sich vor einer rassistischen Polizeikontrolle in einem Elektroverteilerkasten und wurden von Stromschlägen getroffen.
Verbale und physische Dehumanisierung
Es folgten heftige Proteste, die von der Polizei und mit dem Segen einer Mehrheit in Politik und Gesellschaft gewaltsam niedergeschlagen wurden. Der damalige Innenminister Nicolas Sarkozy hatte seine Beamt*innen angestachelt, „den Abschaum“ mit einem „Dampfreiniger“ zu entfernen.
Die Proteste gegen diese verbale und in der Polizeipraxis normalisierte Dehumanisierung entfalteten nach 2005 ihre Wirkung in den Vorstädten: Wir müssen uns im äußersten Fall selbst verteidigen, erkannten damals viele Jugendliche. Ihre jüngeren Geschwister knüpfen an diese Mobilisierungs-Tradition nun an. Sie haben keine Wahl.
In Frankreich hat bisher keine andere Maßnahme gegen Polizeigewalt gewirkt: weder der friedliche Protest mit Schildern und Sprechchören, noch ein geordneter Diskurs, noch die Demokratie selbst. Im Gegenteil. Ein Gesetz aus dem Jahr 2017, das Polizist*innen erlaubt bei Verkehrskontrollen zu schießen, wurde von einer demokratisch gewählten Regierung verabschiedet und diente als Grundlage für den Polizisten, der Nahel mit einer Maschinenwaffe ermordete.
Die Jugend in den Vorstädten kennt es gar nicht anders: Der französische Zentralstaat, mit allem, was ihn ausmacht, möchte sie kontrollieren, unterdrücken, im äußersten Fall töten. Dagegen hilft nur die Revolte. Und die gehört in Frankreich zum Standardrepertoire der Bürger*innenbeteiligung. Die Jugendlichen, so kann man es auch lesen, erfüllen mit den Randalen eine ur-französische, republikanische Pflicht gegen die unmenschliche Staatsgewalt, die ihre Würde mit Polizeistiefeln tritt.
Egal ob Gelbwesten oder monatelange Streiks: Immer gehen in Frankreich Fensterscheiben zu Bruch, werden Barrikaden errichtet und Autos angezündet. Immer antwortet die Polizei mit noch mehr Gewalt. Doch nur im Fall der Jugendlichen in den Vorstädten wird mit einem derart großen Entsetzen reagiert. Es stellt sich die Frage, ob einige Beobachter*innen hier mit zweierlei Maß messen.
Hauptverantwortlich ist die Polizei selbst
Zumindest ist es mehr als nur weltfremd, auf die Lage in Frankreich eine deutsche Sehnsucht gesellschaftlicher Friedensromantik zu projizieren. Während hierzulande von Rassismus betroffene Menschen zur Grünen Jugend oder den Jusos stoßen, schmeißen Jugendliche in Nanterre und Marseille Pflastersteine, um ihr Leben zu retten. So funktioniert das politische System in Frankreich nun mal.
Ebenfalls rein analytisch betrachtet: Hauptverantwortlich für die brennenden Städte und Vorstädte ist Florian M. Jener Polizist, der Nahel zuerst bedroht und dann in die Brust geschossen hat. Florian M. ist derjenige, der all die Gewalt gegen Sachen verursacht hat. Auf ihn könnte man gut die eigene Empörung umleiten.
Das sollten wir uns als Beobachter*innen stets vergegenwärtigen. Von Lille bis Marseille hat die Polizeigewalt in den vergangenen Nächten also großen Sachschaden angerichtet – der die betroffenen Jugendlichen nachvollziehbar emotional wenig trifft.
Selbst die Idole der Banlieues, so wie der Fußballer Kylian Mbappé, können die Situation derzeit nicht beruhigen, die Jugendlichen nicht erreichen. Mbappé bat in einer Stellungnahme die jungen Demonstrant*innen, keine Gewalt anzuwenden.
„Es ist euer Eigentum, das ihr zerstört, eure Nachbarschaften, eure Städte“, schrieb der Fußballer von Paris Saint-Germain. Nur: Wenn man von der Polizei erschossen wird, hat man von Eigentum, Nachbarschaften und Städten nichts.
Polizei droht mit Gewalt
Das haben die jungen Demonstrant*innen verinnerlicht, weil viele von ihnen in bedrohliche Situationen gegenüber der Polizei geraten sind oder mit hoher Wahrscheinlichkeit geraten werden. Viele Eltern verzweifeln in diesen Tagen an ihren eigenen Kindern. 13, 14 oder 16 Jahre alt, lassen sie sich nicht mehr bändigen und bestehen darauf, dem tödlichen Zentralstaat die Stirn zu bieten.
Einige Eltern sollen aus Angst ihrem Nachwuchs Hausarrest auferlegt haben. Um ihre Leben zu schützen, dürften diese Jugendlichen aber nie wieder auf die Straße gehen – zumindest nicht, solange die Polizei in Frankreich im Auftrag von Staat und einem großen Teil der Gesellschaft frei dreht.
Zur Ruhe könnte und müsste daher in diesen Tagen die Polizei selbst gerufen werden – bevor sie noch mehr Sachschaden anrichtet und Menschen tötet. Das Gesetz von 2017 und andere Regelungen müssten zurückgenommen werden, die Sicherheitskräfte in den Vorstädten abrüsten.
Was haben Maschinenpistolen bei Verkehrskontrollen zu suchen? Der Protest könnte Reformen erzwingen. Ein Blick in die Realität ist allerdings mehr als schockierend: Die beiden größten Polizeigewerkschaften des Landes forderten vor wenigen Tagen in einem martialischen Ton auf, „angesichts dieser wilden Horden“ nicht nur um Ruhe zu bitten, sondern sie „durchzusetzen“. Die „Schädlinge“ müssten mit „allen Mitteln“ bekämpft werden.
Das kann nur als Gewaltankündigung verstanden werden und ist der eigentliche Grund für brennende Trams und Autos, für eingeschlagene Scheiben und schockierte Beobachter*innen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Anschlag in Magdeburg
Auto rast in eine Menschenmenge auf dem Weihnachtsmarkt
Anschlag auf Magdeburger Weihnachtsmarkt
Vieles deutet auf radikal-islamfeindlichen Hintergrund hin
Fragestunde mit Wladimir Putin
Ein Krieg aus Langeweile?
Einigung über die Zukunft von VW
Die Sozialpartnerschaft ist vorerst gerettet
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen