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Gewaltsame Unruhen in FrankreichDie ausgehöhlte Republik

Harriet Wolff
Kommentar von Harriet Wolff

Emmanuel Macron kommt vorerst nicht nach Deutschland. Und auch nicht in die Vorstädte, in denen Unruhen und Gewalt toben. Und das hat Gründe.

Nanterre, 30. Juni. 1312 gilt als Code für den Satz: „All Cops are Bastards“ Foto: Ait Adjedjou Karim/Abaca/imago

E mmanuel Macron wird aus Gründen nicht nach Deutschland zum Staatsbesuch reisen. Der französische Staatspräsident wird auch aus Gründen nicht so schnell in einer der zahlreichen von gewalttätigen Unruhen erschütterten Vorstädte aufschlagen. Sein Leben, nach dem Tod des minderjährigen Franzosen ­Nahel M. durch eine Polizeikugel in Nanterre bei Paris, wäre dieser Tage dort in Gefahr. In weiten Teilen der meist jungen französischen Bevölkerung in der Banlieue, Menschen mit Wurzeln in Marokko, Algerien und anderen französischen Ex-Kolonien, sind der äußerst machtvolle Hüter der französischen Republik und mit ihm die, im Vergleich zu Deutschland, wesentlich uneigenständigere Regierung sowie die Polizei détesté: nicht nur ungeliebt – verhasst.


Das hat schwerwiegende Gründe. Gründe, denen sich die meisten Ver­tre­te­r:in­nen der Staatsmacht nicht stellen wollen. Unter dem prächtigen Mantel der République, die in ihrem Kern unbestreitbar für Menschenrechte und Demokratie steht, grassiert seit Jahrzehnten ein eklatantes Behördenversagen. Ein arrogantes Abbügeln und ein Negieren solcher Menschen in den Vorstädten, die in keinen familiären Honigtopf gefallen sind, die mit Gewalt und Armut leben, die kein Ausnahmefußballstar wie Kylian Mbappé aus einer Pariser Cité sind.

Nicht dass wir uns falsch verstehen: Die aufgeflammte Gewalt in den quartiers sensibles gegen Kommunalpolitiker:innen, die Zerstörung wichtiger Infrastruktur, die Plünderungen sind nicht zu rechtfertigen, auch nicht mit der illegalen und unentschuldbaren Tötung von Nahel M. durch die Polizei. Doch dieser brutale Nihilismus der Bevölkerung kommt nicht von ungefähr. Diese Menschen sehen sich nicht mehr als Teil des Staats, diese Menschen schießen buchstäblich das Versprechen von Liberté, Égalité, Fraternité in den Wind. Und sie werden es wieder tun, solange sich jenseits wohlfeiler Appelle der Staatsmacht an ihre Eltern nichts Substanzielles ändert.

Ein äußerst wichtiger Anfang wäre die Reorganisation der Polizei. Die ist mit ihren komplizierten Hierarchien und Dienstgraden eine Art Staat im Staat, hochgerüstet und extrem autoritär geführt.

Ihre Kontrolle durch die anderen staatlichen Organe funktioniert nur sehr begrenzt. Aufhören müssen die vielen grundlosen, oft rassistisch motivierten Personenkontrollen in Problembezirken. Die Polizei darf nicht mehr automatisch autoritär vorgehen, sie braucht eine menschenfreundliche Kommunikationsstrategie. Nur so kann gegenseitige Achtung auf schwierigem Terrain überhaupt erst beginnen. Vive la République!

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Harriet Wolff
Wahrheit-Redakteurin
Seit 2013 bei der taz-Wahrheit, zeitweise auch Themenchefin in der Regie und Redaktionsrätin. Außerdem Autorin mit Schwerpunkt Frankreich-Themen
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10 Kommentare

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  • Sozial gerechte und ausgeglichene Gesellschaften sind nachhaltig und stabil.



    Ungerechte, Gesellschaften wo Menschen ungleich behandelt werden und ungleiche Chancen bekommen, sind instabil.



    Nur sehr sehr wenige profitieren von instabile Gesellschaften.

    • @Nilsson Samuelsson:

      Leider werden sozial gerechte Gesellschaften immer weniger.

  • Ich verstehe diesen Satz nicht:

    "In weiten Teilen der meist jungen französischen Bevölkerung in der Banlieue, Menschen mit Wurzeln in Marokko, Algerien und anderen französischen Ex-Kolonien, sind der äußerst machtvolle Hüter der französischen Republik und mit ihm die, im Vergleich zu Deutschland, wesentlich uneigenständigere Regierung sowie die Polizei détesté: nicht nur ungeliebt – verhasst."

    • @Paul Schuh:

      Soweit ich es verstanden habe, wird einfach gesagt, dass die meisten Menschen in den Banlieus die Polizei, Macron und die Regierung hassen. Und diese Menschen sind eben oft Personen mit familiären Hintergründen aus genannten Regionen, die einst von Frankreich kolonisiert waren. Ich n usste den Satz aber auch mehrmals lesen.

  • 4G
    47351 (Profil gelöscht)

    Trauer und Wut, die immer wieder bemühte Begründung für solche Vorkommnisse, ist grundsätzlich nicht akzeptabel. Sie entlastet auch nicht den Polizisten, der den Schuss abgegeben hat.

    Ich war allerdings bisher der Ansicht, dass die übergroße Mehrheit in Deutschland es als ein Verbrechen ansieht, nach einem Todesfall Gebäude anzuzünden, die man mit der Gruppe des Täters im weitesten Sinne in Verbindung bringt. Von daher wundert mich die Relativierung und das implizite Verständnis für die Lage in Frankreich. Und aufgrund angeblich eigener Chancenlosigkeit Schulen anzuzünden, entbehrt nicht einer gewissen Tragikomik.

  • Sofern es auch an der Struktur liegt, gibt's alternative Ansätze. Auch in UK, speziell in London, ist die Problematik mit Übergriffen und "uniformierter" Gewalt bekannt. In der Schweiz wurde vor fast 10 Jahren ein umfangreicher Bericht zur Gewaltprävention vorgelegt. Diese liegt als pdf im Netz vor.



    //



    "...Bürgernahe Polizeiarbeit». Darunter wird einerseits die enge Zusammenarbeit der Polizei mit anderen Institutionen wie Sozial- und Schulbehörden, Quartiervereinen, örtlichem Gewerbe oder Ausländervereinigungen und andererseits ein partnerschaftliches Verhältnis mit der Bevölkerung verstanden."



    //



    www.nzz.ch/articleF7J2X-ld.414468

  • Wann und wie genau sind Menschen der einen Gruppe für Menschen der anderen Gruppe verantwortlich? Wann versperren Menschen der einen Gruppe Menschen einer anderen Gruppe etwas, was ihnen zusteht? Wer ist dafür verantwortlich, dass es allen Menschen gut geht. Lässt sich jeder Hass zwischen Menschen darauf zurückführen, dass irgendwer mal angefangen hat andere Gruppen ungerecht zu dominieren?

    Ich glaube nicht, dass Menschen und Gesellschaften dazu fähig sind solche Fragen aktiv anzugehen. Ich denke man wächst da mehr passiv heraus, oder es eskaliert erst und dann kommt irgendwas Neues.

  • Annette Hauschild , Autor*in ,

    Die jungen Leute haben "ihre Wurzeln " nicht in Marokko, Algerien oder Tunesien, sondern in Frankreich, in den Vorstädten. Sie sind Franzosen und wollen auch endlich als solche anerkannt werden.

    • @Annette Hauschild:

      ich anschließe mich

  • Welche République?



    Das Rassemblement National hat sich als Nationalversammlung bezeichnet. Sie feiern sich mit riesigen Anhänger-Sommerfesten auf den Champs Elysées.



    Zu welcher Republik gehören die Menschen in den Banlieues? Die Spaltung ist v.a. subjektiv sehr weit vorangeschritten.



    Welche République wollen die Gelbwesten? Eine plebiszitäre. Denen ging es um Macron demisison. Den Vorstädtern ist der Name des Präsidenten völlig egal.



    Bei den Treffen von nuit debout wurde schon einiges an Plena, egalitärer Versammlung geübt.



    Zeit für eine sechste Republik - und ein Frankreich ohne AKWs und ohne Areva.



    Anfang Juni wurde der gerade verstorbenen Madjigène Cissé gedacht, die viel für die Selbstorganisation der Sans Papiers getan hat.



    Der Umbau der Polizei ist allerdings das erste.