Soziologe über die Unruhen in Frankreich: „Die Polizei will Furcht einflößen“
Der Soziologe Sébastien Roché hält eine Gesetzesänderung von 2017 für eine der Ursachen der Zunahme von Polizeigewalt. Er fordert eine Reform.
taz: Herr Roché, ich kann mich nicht erinnern, dass in Deutschland schon mal ein Streifenpolizist bei einer banalen Verkehrskontrolle seine Dienstwaffe gezückt, geschweige denn auf einen unbewaffneten und minderjährigen Autoinsassen geschossen hätte.
62, ist Soziologe des Nationalen Forschungszentrums CNRS in Paris. Er befasst sich mit Fragen der Sicherheit und der Polizei. In seinem 2022 im Verlag Grasset erschienenen Buch „La Nation inachevée“ (Die unvollendete Nation) befasst er sich mit dem Verhältnis der Jugend zur Schule und zur Polizei.
Sébastien Roché: Da sind Sie nicht der Einzige. Selbst in Portugal und Spanien, die ja noch nicht so lange Demokratien sind, gibt es längst nicht so viele Tote bei polizeilichen Verkehrskontrollen wie in Frankreich. Verkürzt könnte man sagen, dass es in Deutschland einen Todesfall in zehn Jahren, in Frankreich aber im Jahr 2022 einen Toten pro Monat gab.
Zusammen mit den Kollegen Paul de Derff und Simon Varaine habe ich dieses Phänomen im vergangenen Jahr untersucht. Dafür haben wir uns die amtlichen Angaben zu tödlichen Schüssen von Polizisten auf Personen und Fahrzeuge der vergangenen zehn Jahre in Deutschland, Belgien und Frankreich angeschaut. Wir haben dabei bemerkt, dass in Frankreich bis 2017 praktisch nie Schüsse auf fahrende Fahrzeuge abgegeben wurden. Das hat sich mit Einführung eines neuen Gesetzes zum Einsatz von Waffen sofort geändert.
Was ist das für ein Gesetz?
Bis Februar 2017 waren Polizisten nur bei Notwehr befugt, ihre Waffe einzusetzen, also wenn ihr Leben oder das einer dritten Person in Gefahr war. Die Reform von 2017 gibt ihnen die Möglichkeit, die Waffe auch dann einzusetzen, wenn ihr Leben oder das von Dritten nicht bedroht ist und der mutmaßliche Straftäter nicht unmittelbar ein Verbrechen begangen hat. Das heißt, der Einsatz der Waffe wird über das Recht zur Selbstverteidigung hinaus erweitert. Das wurde den Beamten Anfang März sofort mitgeteilt, und sogleich folgten die ersten tödlichen Schüsse.
Die plötzliche und starke Zunahme der Todesschüsse ist also nicht eine Frage der Ausbildung, der Herkunft oder des Alters der Polizisten, denn es waren ja dieselben Beamten wie vorher.
Wie soll ein Polizist seitdem entscheiden, ob er schießen darf oder nicht?
Auch wenn er nicht direkt bedroht ist, kann er für sich entscheiden, der Einsatz der Waffe sei erforderlich, beispielsweise, um ein Fahrzeug zu stoppen. Das Gesetz ist diesbezüglich missverständlich, weil es einerseits erlaubt zu schießen, um eine Flucht zu verhindern. Andererseits muss laut Gesetz das Prinzip der „Verhältnismäßigkeit“ und der „absoluten Notwendigkeit“ respektiert werden. Für den Polizisten ist der gesetzliche Rahmen damit unklar geworden.
Könnte diese Rechtsunsicherheit im Fall des Polizeibeamten geltend gemacht werden, der in Nanterre den 17-jährigen Nahel erschossen hat?
Dort waren die Bedingungen sicher nicht erfüllt. Präsident Macron hat sich schließlich auch entsprechend geäußert. Natürlich kann der Beamte sagen, dass er die Situation so eingeschätzt habe, dass der Jugendliche mit seinem Fahrzeug eine Gefahr darstellen könnte. Und dass er sich dann zum Schießen berechtigt gefühlt habe. Das wird bestimmt von seinem Anwalt so vorgebracht. Für die Richter wird die Auslegung eine delikate Angelegenheit.
Wie steht es um Rassismus in den Reihen der Polizei?
Mehrere Studien haben gezeigt, dass es ein strukturelles Problem mit Rassismus gibt. Das streitet die Regierung stets ab. Für sie handelt es sich allenfalls um individuelle Fälle.
Warum sind die Beziehungen der Bevölkerung in den Vorstadtquartieren zur Polizei so schlecht?
Das Vorgehen der französischen Polizei ist auf Weisung von oben zusehends aggressiver geworden. Nach den Unruhen (2005 ausgehend von Clichy-sous-Bois, Anm. der Red.) wurden ab 2007 alle Einheiten mit den Gummigeschosswerfern vom Typ LBD ausgerüstet. Sie wurden zur Standardausrüstung beim Einsatz in den Quartieren. Bei der geringsten Konfrontation wird mit den LBD geschossen.
Das ist auch ein Unterschied zu den anderen europäischen Ländern. Eine Befragung von Jugendlichen mehrerer europäischer Länder über ihre Erfahrungen bei Festnahmen hat ergeben, dass sie in Frankreich dreimal häufiger über Polizeigewalt klagen.
Sprechen wir da von derselben Polizeigewalt wie bei den Demonstrationen der Gelbwesten und kürzlich gegen die Rentenreform?
Ja, natürlich. Unter Präsident Sarkozy kamen die LBD ab 2007 in der Banlieue zum Einsatz, zehn Jahre später werden sie gegen Ansammlungen zur Aufrechterhaltung der Ordnung eingesetzt, was auf Englisch „Crowd management“ heißt. Der systematische Gebrauch dieser Waffen hat die Polizei verändert. Sie wurde zu einer Polizei, die Angst macht. Stellvertretend dafür sind spezielle Einheiten wie die BRAV-M oder die CRS-8. Die stehen quasi synonym für Attacken.
In Deutschland gibt es diesen Slogan „Die Polizei, dein Freund und Helfer“, in Frankreich würden die Polizisten nicht wünschen, dass auf ihren Fahrzeugen so etwas steht. Sie gehen davon aus, dass die Polizei wirksam ist, wenn sie Furcht einflößt.
Sind Sie überrascht von der aktuellen Welle der Gewalt? Und was könnten die Behörden tun, um die Lage zu beruhigen?
Ja. Solche sozialen Phänomene lassen sich nicht vorauszusagen. Obschon wir den Mechanismus kennen, nicht nur in Frankreich. Die illegitime Gewalt von Polizisten provoziert Reaktionen der Wut, die aber nicht notwendigerweise eskaliert. Die staatlichen Behörden müssen es zulassen, dass die Leute in der Öffentlichkeit gewaltlos protestieren. Das ist ein Grundrecht. Stattdessen werden derzeit Demonstrationen untersagt.
Außerdem müsste die Regierung die gesetzlichen Bestimmungen für den Waffeneinsatz ändern, eine Reform der Polizei ankündigen und versprechen, das Problem mit der Brutalität und mit dem Rassismus anzupacken. Das wäre das Minimum.
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