Proteste der Letzten Generation: Es geht nicht um Mehrheiten

Der Letzten Generation wird schadenfroh vorgehalten, fast alle Deutschen lehnten ihren Protest ab. Aber aggressivem Widerstand geht es um Lärm.

Eine Person kniet zwischen zwei Polizisten auf einer Straße

Geräusche, Reibung, Sand im Getriebe: Aktivist der „Letzten Generation“ auf einer Straße in Hamburg Foto: Jonas Walzberg/dpa

Die deutschen Proteste für eine beherztere Erdschutzpolitik fanden in Lützerath einen vorläufigen Höhepunkt. Auf der einen Seite die Personen, die die Erde schützen wollen, auf der anderen Seite die, die sie scheinbar mit aller Gewalt weiter aufreißen wollen. Selten gab es einen Ort, der als Symbol besser taugte für – oder gegen – unser Lernen, unser mögliches Umdenken und für oder gegen die politische Schubumkehr. Die Protestierenden forderten eine Full-Stop-Mentalität und warfen sich selbst ins Getriebe. Die Politik versagte und hielt gar nichts an.

Einige Politiker verstiegen sich stattdessen zu der steilen These, dass das kleine Örtchen Lützerath – das immerhin mit brachialen Methoden dem Kohleabbau zum Opfer fallen soll – „nicht das richtige Symbol“ sei. Hubertus Heil und Robert Habeck wurden nicht müde, die These vom falschen Ort und falschen Symbol in die Fernsehkameras zu wiederholen (das Argument scheint zu sein, dass es ohne sie selbst noch viel schlimmer gekommen wäre). Aber nur weil Politiker eine These der interessierten Öffentlichkeit einzureden versuchen, wird sie nicht wahrer.

Es gibt kein besseres Symbol in Deutschland für den Kamikaze-Kollaps-Kurs, auf dem wir uns als Weltbevölkerung befinden. Und es gibt keinen prädestinierteren Ort für die deutsche Politik, ihr Nichtlernen, Nichtumdenken und Nichtumsteuern noch einmal symbolisch zu demonstrieren. In den Diskussionen um radikalen Protest hat sich in den letzten Jahren immer wieder das Vorurteil eingeschlichen, der Erdschutzprotest wolle doch die Mehrheit der Gesellschaft von der Richtigkeit der eigenen Ziele überzeugen. Ob beim klebenden Protest auf den Autobahnzufahrten, dem Bewerfen von Panzerglasrahmen mit Tomatensuppe oder den linksradikalen Stammesparolen in Lützerath – das seien alles falsche Mittel!

Wer das Gute wolle, müsse das Richtige tun. Schon interessant, dass niemand auf die Idee kommt zu fragen, ob das schaufelnde Monstrum, das da ganze Landstriche in Mondlandschaften verwandelt, das „richtige Mittel“ oder das „richtige Symbol“ sei. Stattdessen werden der letzten Generation relativ schadenfroh Umfrageergebnisse an den Kopf geworfen, nach denen zwischen achtzig und neunzig Prozent der Bevölkerung diese Form des Protests ablehnen. Ich wurde in der Vergangenheit selbst immer wieder mit dem Vorurteil konfrontiert, dass radikaler Widerstand doch letztlich „der falsche Weg“ sei, um eine Gesellschaft vom „eigentlich“ richtigen Anliegen zu überzeugen (bei unseren Aktionen zum Massenertrinken im Mittelmeer beispielsweise).

Es geht um eine Keimzelle des Widerstands

Aber geht es radikalem Widerstand überhaupt darum, die Mehrheit von der Richtigkeit des eigenen Tuns zu überzeugen? Es klingt immer sehr demokratisch, irgendeine Mehrheit überzeugen zu wollen. Aber dieser Wunsch wäre oft naiv. Es geht bei radikaleren Maßnahmen um Licht in der Finsternis, um eine Keimzelle des Widerstands oder darum, eine Einheit zu durchbrechen. Vielleicht muss man sich von der Vorstellung verabschieden, dass aggressiver Widerstand überhaupt sonderlich demokratisch ist. Aber wenn er für den Humanismus kämpft – und nichts anderes tun die Klimaschutzproteste, letztlich geht es mit dem Kollaps des Erdklimas sehr direkt um den Kollaps unserer Zivilisation –, wird dieser Protest auch dann richtig sein, wenn ihn 95 Prozent der Gesellschaft in irgendwelchen Forsa-Umfragen ablehnen.

Ich möchte das Problem dahinter noch etwas pointieren: Es ist Luisa Neubauer oder Carla Hinrichs vielleicht nicht egal, ob die Mehrheit der Gesellschaft von der Richtigkeit ihrer „Anliegen“ überzeugt ist, aber sie sind keine protestantischen Sektenanführerinnen, denen es darum ginge, die große Mehrheit von der Richtigkeit zu überzeugen. Sie wissen, dass das Ziel, die Obergrenze von 1,5 Grad Erderwärmung einzuhalten, richtig ist. Wir alle wissen das. Nicht nur eine Mehrheit in Deutschland, praktisch die ganze Menschheit. Deshalb hat es auch eine überwältigende Mehrheit in Paris beschlossen. Bloß ist das ein paar Jahre später eben egal, wenn es noch irgendwo Kohle aus der Erde herauszubrechen gibt.

Sand im Getriebe

Warum dem Protest nun nachgesagt wird, Mehrheiten für Dinge zu benötigen, die demokratisch längst beschlossen sind, bleibt das Geheimnis der pseudodemokratischen Taschenspieler-Philosophie-Trickbetrüger, die solche Forderungen erheben. Es muss befriedigend sein, sich über den politischen Protest zu beugen, um ihn zu belehren, was richtig und was falsch ist. Aber wenn den Protestierenden das Ziel nur angedichtet wird, eine Mehrheit der Öffentlichkeit überzeugen zu wollen und sie das gar nicht wollen: Was wollen sie dann?

Es kann bei radikalen Maßnahmen nicht darum gehen, irgendwelche demokratischen Mehrheiten zu erzeugen. Der radikale Widerstand will die Reibungslosigkeit stören. Politischer Widerstand will immer den geräuschlosen Ablauf der Dinge treffen. Und das bedeutet: Geräusche, Reibung, Sand im Getriebe. Die gut geölte Maschine des „So haben wir es immer gemacht“ soll sich krümmen, sich aufbäumen und spektakulär zusammenbrechen. In Lützerath wäre das der Kohlebagger, der bei seiner Fahrt durch irgendetwas blockiert, sich aufbäumt, verbiegt und in Blechteile zusammenfällt. Zentral ist der Lärm – die Geräusche. Lärm ist immer Belastung.

Aber genau darum geht es dem radikalen Protest. Er ist in dem Sinne nicht demokratisch. Er wird keine Mehrheiten finden. Aber das muss er gar nicht. Denn es geht darum, einer breiteren Öffentlichkeit überhaupt erst bewusst zu machen, dass die Bundesregierung nicht vorhat, irgendwelche Maschinen für den Klimaschutz zu stoppen. Das zur Schau zu stellen, die eiserne Machtdemonstration eines großen „Weiter so“ der Bundesregierung, wo es eigentlich gilt, die Maschinen anzuhalten und einzupacken, und damit die Politik vorzuführen und uns letztlich alle zu beschämen, ist ungleich wichtiger, als Mehrheiten zu organisieren, die vor Jahren in Paris längst organisiert wurden.

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ist Philosoph und Aktionskünstler. 1981 in Dresden geboren, 2008 Gründer des Zentrums für Politische Schönheit, das polarisierende politische Aktionen durchführt. Ruch studierte politische Ideengeschichte. 2015 erschien sein Buch „Wenn nicht wir, wer dann?“, 2019 „Schluss mit der Geduld“

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