Politologe über Brandmauer und CDU: „Wenn die CDU jetzt klein beigibt, ist sie bald überflüssig“
CDU-Politiker Spahn will die Brandmauer einreißen. Politologe Schroeder widerspricht. Seine Studie sagt: Die Brandmauer hat Risse, aber funktioniert.
taz: Herr Schroeder, wie sterben Demokratien?
Wolfgang Schroeder: Indem sie die Gefahren durch ihre Gegner unterschätzen und zu wenig dagegen tun. Extremisten kommen nicht durch einen Putsch an die Macht, sondern mit den Mitteln demokratischer Prozeduren und ihrer Liberalitätsspielräume. Zudem: der deutsche Faschismus, aber auch die Machtübernahme von Rechtsaußen in anderen Ländern starteten ihre Politik nicht im Zentralstaat, sondern unten; also in den Kommunen. Wenn die demokratische Mitte bröckelt, kann das der Beginn des Sterbens der Demokratie sein.
taz: Der möglicherweise bald Fraktionsvorsitzende der Union, Jens Spahn, forderte, die AfD im Bundestag wie eine normale Partei zu behandeln. Wie sehen Sie das?
Schroeder: Als eine geschichts-, werte- und machtnaive Haltung. Eine Partei, die in Teilen als rechtsextrem gilt, durch den Verfassungsschutz beobachtet wird, als normale Partei zu akzeptieren, zeigt, wie stark der Wille bei Teilen der Union ist, sich aus der Logik der wehrhaften Demokratie zu verabschieden, um die eigene Machtfähigkeit kurzfristig zu erhöhen. Dabei wird nicht ernst genommen, dass die AfD die Union ersetzen will, also die Union zerstören möchte.
64, ist Professor für Politikwissenschaft an der Uni Kassel, Vorsitzender der Denkfabrik Progressives Zentrum und Fellow des Wissenschaftszentrums Berlin (WZB).
taz: Viele sagen, die bisherige Ausgrenzungsstrategie im Umgang mit der AfD sei gescheitert, und nehmen dafür den Höhenflug der AfD als Beweis. Haben sie recht?
Schroeder: Na ja, das hieße ja, wenn man die AfD eingebunden hätte, wäre sie heute viel bedeutungsloser. Den Beweis muss man erst mal erbringen. Zu sagen, die Brandmauerstrategie hat versagt, weil die Wahlergebnisse so sind, wie sie sind, ist jedenfalls zu einfach. Dafür gibt es zu viele Faktoren, die die Rechtsaußenkräfte stark machen. Gleichwohl muss man kritisch reflektieren, was demokratiepolitische Aktivitäten trägt, was sie erreichen und was nicht. Ich bin schon für eine Wirksamkeitsdebatte.
taz: Dazu soll auch Ihre gerade vorgestellte Studie einen Beitrag leisten. Was ist das Ergebnis?
Schroeder: Die Brandmauer funktioniert in der überwältigenden Mehrheit der Fälle; sie hat aber deutliche Risse. Zentral ist: Selbst dort, wo die AfD normalisiert ist, wissen die Parteien sehr wohl, mit wem sie es zu tun haben, und grenzen sich deshalb in der absoluten Mehrheit der Fälle klar ab.
taz: Ist die Brandmauer also besser als ihr Ruf und kann funktionieren?
Schroeder: Es ist etwas komplizierter: Der Ausgangspunkt für unsere Studie, eine Vollerfassung aller deutschen Landkreise, ist die weit verbreitete These, dass die Abgrenzungsstrategie nicht funktioniert und oft bewusst außer Kraft gesetzt wird. Wir wollten schauen, wie es empirisch ist, und haben uns für den Zeitraum von 2019 und 2024 deutschlandweit 11.000 Kreistagssitzungen und 5.000 AfD-Anträge auf dieser Ebene angeschaut: In 81 Prozent der Fälle gab es eben keine Unterstützung für Anträge der AfD. Selbst bei situativ ähnlichen Interessen wird eine deutliche Abgrenzung zur AfD praktiziert. Die Mehrheit grenzt sich unter teils schweren Bedingungen klar von der AfD ab.
taz: Warum ist es so wichtig, dass die Brandmauer auch in den Kommunen steht – dort wird doch eher über den Bau einer Kita als über Gesetze entschieden.
Schroeder: Wir haben in Deutschland etwas mehr als 200.000 gewählte Parlamentarier, davon sind fast alle auf kommunaler Ebene aktiv. Das ist die Schule und Basis der Demokratie. Wenn man diese Ebene außen vor lässt, würde das Fundament der Demokratie nicht nur aus der Verantwortung entlassen, sondern auch geschwächt.
taz: Zugleich könnte man Ihre Studie aber auch andersrum lesen: Bereits vor dem Sommer 2024 hat jeder fünfte AfD-Antrag auf kommunaler Ebene Zustimmung über deren Fraktion hinaus – obwohl die Parteien sich ja eigentlich eine Brandmauer verordnet haben. Dann kam eine Kommunalwahl, bei der die AfD erstarkt ist, und danach hat Merz den Kreistagen vorgemacht, wie man die AfD mit indirekter Kooperation auf Bundesebene normalisiert.
Schroeder: Das kann man so lesen, muss man aber nicht. Sonst würde man sich ja dem Fatalismus hingeben und sagen: Das hat ja alles keinen Sinn. Genau das Gegenteil repräsentieren doch die Menschen, die sich in der Kommunalpolitik klar abgrenzen. Es kann funktionieren. Es ist nicht zu leugnen, dass es viele Fälle gibt, in denen es nicht funktioniert. Aber das ist ein Stück weit normal: Denn Regeln werden nie zu 100 Prozent eingehalten. Die Regelkraft besteht darin, dass sie die Basis dafür ist, die Abweichung zu erkennen und mit ihr umzugehen. Regeln sind kein Selbstzweck: sie werden ja eingeführt und gebraucht, um das Miteinander, den Ausgleich und die wechselseitigen Interessen zu fördern.
taz: Sie sind also optimistischer: Die Brandmauer sei stabiler als gedacht und besser als ihr Ruf.
Schroeder: Das finde ich gut zusammengefasst. Es geht nicht darum, mit dem Kopf durch die Wand zu laufen. Wir sind mit einer Partei konfrontiert, die demokratische Spielregeln unterminiert und die Werthaltigkeit unserer Demokratie relativiert. Solange sich diese Partei zum Teil jenseits der Verfassung bewegt, ist Abgrenzung im Sinne der Selbstbehauptung der eigenen demokratischen Ideen und Interessen notwendig. Gleichzeitig muss man diskutieren, ob alle eingeschlagenen Maßnahmen sinnvoll sind und wie man mit den nicht intendierten Folgen umgeht.
taz: Es gibt nicht nur auf Bundesebene, sondern auch auf kommunaler Ebene politisches Zündeln: Die CDU im Jerichower Land stimmte ohne Not einem AfD-Antrag zu, Deutschlandfahnen vor Schulen aufzuhängen. Und die CDU im Harz fordert gleich ein Ende des Kooperationsverbots. Wie sollte die CDU-Führung mit solchen Fällen umgehen?
Schroeder: Gerade weil die AfD so stark geworden ist, muss die Union die werte- und inhaltsbezogene Auseinandersetzung suchen. Das ist eine Frage des Sich-selbst-ernst-Nehmens, der eigenen Würde. Wenn sie jetzt schon so klein beigibt, wird es nicht mehr lange dauern, bis sie überflüssig wird. Denn die AfD wird im Zweifelsfall dynamischer, emotionaler und innovativer sein als die Union. Ohne eine macht- und wertebewusste Leadership-Strategie wird die Union sich in dem Milieu der Enttäuschten überflüssig machen.
taz: Ein CDU-Politiker in Magdeburg, der für einen AfD-Antrag gestimmt hat, welcher die Abschaffung von Verkehrsberuhigungsschwellen vorsieht, sagte jüngst: Warum sollte ich das nicht machen, wenn es um etwas geht, das wir seit Ewigkeiten fordern und selbst vertreten? Er sehe die Gefahr der Normalisierung und wisse, wer bei der AfD am Werke sei, aber hier gehe es doch nun mal um Sachthemen. Was würden Sie ihm antworten?
Schroeder: Mal jenseits der Bewertung, dass die Abschaffung von Verkehrsberuhigungsschwellen grundsätzlich als Rückschritt gesehen werden kann: Es gibt in der Kommunalpolitik – bei den Entscheidungen für Fußgängerüberweg, Turnhallen, Straßen und Friedhöfen – jeden Tag Übereinstimmungen von AfD und demokratischen Parteien. Wie kann man trotz dieses Konsenses ein eigenständiges Vorgehen ohne die AfD gewährleisten? Darin besteht ein Dilemma: Sowohl Ablehnung der AfD-Anträge als auch ihre Anerkennung kann zu Problemen führen. Lehnt man ab, sieht das ein Teil der Bevölkerung als wirklichkeitsfremd an. Stimmt man zu, normalisiert und etabliert man die AfD weiter. Der von Ihnen zitierte Bürgermeister sagt ja selbst, dass er das Problem der Normalisierung sieht.
taz: Aber jetzt mal ganz konkret: Was ist, wenn er keine Mehrheit ohne die AfD hat, um diese Verkehrsberuhigungsschwellen abzuschaffen?
Schroeder: Es geht darum, frühzeitig über Alternativen nachzudenken: Das heißt, den gleichen Antrag mit Dritten durchbringen. Es reicht eben nicht, nur situativ zu handeln, sondern man muss programmatisch klar aufgestellt sein. Und dazu gehört auch: Leadership! Klar ist aber auch, Politiker können nicht täglich an super moralischen Ansprüchen gemessen werden. Es kann schon sein, dass es Zwänge gibt; wo man sich in Widersprüche verwickelt. Aber dann muss man schon erklären und sagen: Das war eine Zwangslage, das ging in dieser Situation nicht anders. Denn wenn man sich in die Alltagsfremdheit reintreiben lässt, schadet man der Brandmauer mehr, als wenn man den Kräfteverhältnissen und Alltagsbegebenheiten Rechnung trägt.
taz: In dieser Logik wäre es dann ja auch okay, dass Friedrich Merz seinen Migrationsantrag im Bundestag mit der AfD durchgebracht hat. Ging ja nur mit Stimmen der AfD.
Schroeder: Nein, überhaupt nicht! Das ist eine ganz andere Lage: Es gab überhaupt keine Notwendigkeit, diesen Antrag zu stellen: Die Ampel hat in der Migrationspolitik ja bereits so hart agiert wie kaum eine Regierung zuvor und die Zahl der Flüchtlinge ist dramatisch zurückgegangen. Auf kommunaler Ebene hingegen kann es schon Zwangssituationen geben, bei denen die handelnden Akteure nicht überfordert werden sollten. Moralische Überforderung kann dazu führen, die Entfremdung der Wählerinnen und Wähler und Parteimitglieder zu verstärken.
taz: Was sagen Sie zu den 6 Prozent der AfD-Anträge, die sogar über 10 Prozent Zustimmung bekamen – Sie nennen das in Ihrer Studie starke Kooperation. Sind die kein Alarmsignal?
Schroeder: Alarmierend finde ich das ausdrücklich nicht. Man muss sich auch anschauen, auf welchen Feldern das stattfindet. Im Osten finden die Kooperationen zu 90 Prozent bei Fragen der Kreisadministration statt. Ebenso spielt das Thema Verkehr und Mobilität eine wichtige Rolle. Und dann erst mit weitem Abstand Migration.
Diese klare Orientierung, die wir uns wünschen, ist leider nicht immer gegeben. Trotzdem hält vermutlich die Mehrheit der Abweichler die Brandmauer grundsätzlich für angemessen. Aber ohne gewisse interessenbezogene Lebensklugheit mit einzubeziehen, wird es nicht gehen. Es zeigt sich, dass AfD-Anträgen auf kommunaler Ebene auch progressive Parteien zugestimmt haben – natürlich in kleinerem Umfang als Freie Wählergruppen, FDP und CDU. Aber unsere Studie kann keine Aussagen über konkrete Zwänge und Motivationslagen machen. Diese Handlungskonstellationen vor Ort werden wir in unserer nächsten Studie untersuchen, ebenso wie mögliche Normalisierungseffekte und Wahlauswirkungen, die sich aus der Unterstützung der AfD ergeben.
taz: Was würden Sie Kommunalpolitikern empfehlen?
Schroeder: Ich würde sehr empfehlen, solange der Radikalisierungsgrad der AfD so ist, wie er ist, diese Partei als gefährlich für unsere Demokratie zu begreifen und ihr keine Unterstützung zu gewähren. Gleichzeitig kann es immer Zwangssituationen geben, wo es keine anderen Mehrheitsverhältnisse gibt und der Druck der Bevölkerung so groß ist, dass man durch Ablehnung mehr schadet, als wenn man die reine Lehre praktiziert. Aber das muss dann erklärt und für die nächste Runde verhindert werden.
taz: Also so wie bisher: durchwurschteln?
Schroeder: Ich denke schon. Aber durchwursteln nicht im Sinne von Ahnungslosigkeit, sondern mit einem wachen und strategisch-wertebezogenen Konzept. Man braucht ein Verständnis für Kräfteverhältnisse, nicht intendierte Folgen und vor allem benötigen die demokratischen Parteien einen klaren Wertekompass. Wenn man das gut verbindet, ist man auch authentisch und kann das Konzept der Brandmauer durchhalten. Auf jeden Fall braucht es dafür auch Leadership.
Was heißt Leadership?
Die Fähigkeit, zu erklären, was ist und die Autorität für einen demokratischen Weg überzeugend einzutreten. Also die Mühen der Ebene zu verstehen, wie auch die Notwendigkeit, für größere Ziele zu motivieren.
taz: Also ist die Brandmauer noch lange nicht am Ende.
Schroeder: Nein, aber es gibt keinen Königsweg im Umgang mit der AfD. Was sicher ist: Die Brandmauer oder auch die Stigmatisierung wird nicht funktionieren, wenn es nicht insgesamt eine vitale Loyalität gegenüber dem System der repräsentativen Demokratie gibt. Das lässt sich nicht verordnen oder durch den Verfassungsschutz und andere Institutionen herstellen. Entscheidend ist die Stärke der demokratischen Mitte!
taz: Nun gab es in den letzten Wochen beides: Merz’ Tabubruch im Bundestag, aber auch Millionen für die Demokratie und die Einhaltung der Brandmauer auf der Straße. Trifft hier zivilgesellschaftliche Verantwortung auf politisches Versagen?
Schroeder: Ja, wir beobachten eine Parallelität: einerseits eine in Teilen vitale Zivilgesellschaft und andererseits ein wachsender Sektor der Rechtsaußenmilieus. Beides kann nebeneinander bestehen. Wichtig ist, dass der demokratische Korridor die überwältigende Mehrheit der Menschen hinter sich hat. Dann kann man auch eine Rechtsaußenstruktur verkraften und abpuffern. Die Stärkung der Demokratie fängt im Elternhaus an, über Schulen, Lebenserfahrungen, in der Arbeitswelt – auch Social Media spielt eine immer größere Rolle. Politik sollte nicht nur für demokratisches Engagement ermutigen, sondern auch auf allen Ebenen dafür gute Bedingungen befördern.
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