Ostdeutsche und ihr Wahlverhalten: Schluss mit dem Verstehen
Die Parteien der Mitte meinen, mit empathischer Kümmerergeste „das Ossi“ für sich gewinnen zu können. Sie sollten sie lieber zum Mitwirken auffordern.
H ätten Bürger westlich der ehemaligen Staatsgrenze aus Ampelfrust auch in diesem Ausmaß Extremisten gewählt? Oder ziehen die Ostdeutschen die gesamte Republik nach rechts? Einmal mehr werden nun die professionellen Exegeten, die Ossi-Versteher bemüht. Sie sollen nach dem Wahlschock das Ossi, das unbekannte Wesen erklären. Dieses arme Ossilein ist dann in der Regel Opfer einer kolonialen Westattitüde seit 1990, sein Protestwahlverhalten damit erklär-, wenn nicht gar entschuldbar. Als sei die Bundesrepublik West 1989 über uns hergefallen. Keine Spur von Selbstkritik bei den hiesigen Schnellfrustrierten im Dauerempörungsstatus.
Wenn die Hälfte der Wählerinnen und Wähler Hass- und Hetzparteien wählt, dann schäme ich mich inzwischen für meine Artgenossen. Die hielt ich stolz mal für die besseren Deutschen: vital, lebensfroh, improvisationsfähig, gemeinschaftsfähig, robust. „Drüben“ hingegen eine in Ritualen erstarrte langweilige Verwandtschaft in potemkinschen Wohlstandskulissen.
Das hat sich seit etwa eineinhalb Jahrzehnten gründlich geändert. Wähler für die Folgen ihres Wahlverhaltens verantwortlich zu machen, ist keine Wählerbeschimpfung. Eine Anamnese dieser Wahlergebnisse ist dringender denn je!
Ost und West sind von Erzählungen geprägt, die beide mit „Es war einmal“ beginnen und von Märchenländern berichten. Auch in Westdeutschland ist der amerikanisch inspirierte Traum längst zusammengebrochen, man müsse nur genügend Teller waschen, um Millionär zu werden. Die Legende vom Aufstieg durch eigene Leistung glaubt niemand mehr.
Sinn und Unsinn wurden dem Zoni im Überschuss verordnet
Schlimmer noch: Im so genannten Abendland erodierte weit vor der vergifteten deutschen Umarmung 1990 die ideelle Basis eines gesellschaftlichen Grundkonsenses. Max Weber hielt schon 1904 den „Traditionalismus“ für den größten Feind des Kapitalismus. Also die Bindung an Ideale und eine Genügsamkeit, die immaterielle Lebensziele priorisiert.
Ein totalitärer Materialismus aber, der auf alle Lebensbereiche durchgreift, stiftet keinen Sinn. Sinn und Unsinn wurden dem Zoni im Überschuss verordnet. In die Einheit brachten wir einen nicht ganz freiwilligen, hedonistisch kompensierten Geist der Genügsamkeit mit. Der musste mit dem Beitritt ins Land der Verheißungen folgerichtig in maximales Anspruchsdenken umschlagen. Die Anbetung eines Westens im Konsumrausch musste dann ebenso folgerichtig enttäuscht werden.
Kein Besitz und kein Idealismus
Jeder, der bei Trost war – und sogar Oskar Lafontaine war es damals –, hätte wissen müssen, was mit einer schnellen Währungsunion und dem Beitritt auf uns zukam. Wir kannten doch auch das ökonomische Grundgesetz „Der Teufel scheißt immer auf den größten Haufen“!
Die ausbleibende Verheißung des Glücks durch Besitz wurde durch keinen Idealismus mehr aufgefangen. Spätestens die schleichende Radikalisierung des Beitreter-Teilvolks hat das Master-Narrativ, es sei dem Ossi 1989 vor allem um Freiheit und Demokratie gegangen, längst widerlegt. Zur ersten freien Volkskammerwahl am 18. März 1990 straften die Wähler das Bündnis 90, den Zusammenschluss der Bürgerrechtler, die gegen die SED wirklich etwas riskiert hatten, mit 2,9 Prozent ab.
Nur eine Minderheit ist sich außerdem der latenten Deprivationsgefühle bewusst, die postum zu einer Ost-Identität führten. „Der Kompass ist weg“, höre ich aus Künstlerkreisen.
Das empfundene Vakuum ruft nach neuen Heilsbotschaften, die unbewusst den alten möglichst nahekommen. Frappierend, welche einst parodierten Grundmuster wieder zutage treten, bis in die Generation der Erstwähler hinein.
Zuerst: Es gehörte schon damals zum guten Ton, gegen den Staat zu sein, aber zugleich alles von ihm zu erwarten. In einer immer mehr von Partikularinteressen, von divergierenden narzisstischen Ansprüchen dominierten Gesellschaft wird es aber keiner Regierung mehr gelingen, eine Mehrheit zufriedenzustellen.
Demokratie verlangt Selbstermächtigung
Eine anthropologische Konstante: Es kann auf keinen Fall so bleiben, aber es darf sich um Himmels willen nichts ändern! Vor allem nicht bei mir. AfD und BSW bedienen genau diese Schizophrenie. Wie sehr jegliche Veränderung diese Gesellschaft überfordert, hat schon die Coronapandemie gezeigt.
Drittens: Sehnsucht nach autoritärer Führung. Welcher der 89er Demonstranten wusste schon, dass Demokratie anstrengend ist, Mitwirkung verlangt und Selbstermächtigung? Der von Mitverantwortung entlastende Spruch „die Genossen werden sich schon etwas dabei gedacht haben“ spukt weiter. Kommunalpolitiker berichten aus erster Hand vom populären Führerprinzip.
Der traditionelle Spruch „Lerne klagen, ohne zu leiden“ verweist auf die offenkundigste Schizophrenie. Laut Sachsen-Monitor und der Sächsischen Zeitung sind etwa drei Viertel der Bürger zufrieden mit ihren Lebensumständen. Und dennoch können die Apokalyptiker und Panikmacher von AfD und BSW, in Teilen auch von der CDU, auf die Motzer und Weltuntergangssüchtigen bauen.
„Wir wissen zwar nicht, was wir wollen, aber das mit ganzer Kraft!“, parodierten wir einst die Losungen zum 1. Mai. Abstinenz, Negativismus Naivität bis heute: Wenn ich AfD wähle, verschwindet der Klimawandel. Wähle ich BSW, lädt Väterchen Wladimir den Kollegen Wolodimir bald zum Prasdnik mit Wodka in den Kreml ein.Und die anderen Parteien meinen, mit der empathischen Kümmerergeste das Ossi, das unbekannte leidende Wesen, für sich gewinnen zu können. Anstatt es endlich zu selbstbewusster emanzipatorischer Mitwirkung und Gemeinsinn, zum Größerdenken aufzufordern.
Wie lautete doch der Buchtitel von Dirk Neubauer, der von den Rechten, also vom ignoranten Volk fertiggemacht wurde und als Landrat von Mittelsachsen nach zwei Jahren entnervt zurücktrat? „Das Problem sind wir!“
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