Noch ein allerletztes Mal: Verlasst diese Institution!
Ein letztes Mal warnt unsere Kolumnistin: Anthroposophie durchdringt unseren Alltag – oft unsichtbar. Zeit, auszusteigen.
D ie Waldorfwelt ist in Deutschland inzwischen so etabliert, dass es alle Produkte und Dienstleistungen des täglichen Bedarfs auch aus anthroposophischer Hand gibt: Krankenhäuser, Versicherungen, Schulen, Kindergärten, Landwirtschaftsbetriebe, Drogerieartikel, Hobbys, Gottesdienste, Verlage, Kleidung, Therapien, Kurheime, Ferienlager, akkreditierte Studiengänge, Architekturbüros, Banken, Social-Media-Kanäle, Altenpflege. Einfach alles und nicht selten staatlich mitfinanziert.
Ähnlich wie bei den Tarnorganisationen von Scientology ist es für Außenstehende oft gar nicht ersichtlich, dass es sich um eine anthroposophische Firma handelt, um die Initiative einer anthroposophischen Stiftung oder um eine Kampagne, die maßgeblich von anthroposophischen Ärzt*innen gestaltet wurde.
Wenn Scientology allgemein bindende Schulen in Deutschland aufmachen wollen würde – unvorstellbar. Aber auf Waldorfschulen als „Exportschlager“ sind wir scheinbar stolz. Die erste wurde 1919 im Umbruch vom Kaiserreich zur Republik gegründet. Die Anthroposoph*innen haben ihre Schulform mit Geld und politischem Einfluss bis Juli 1941 erhalten können und nach dem Krieg schnell ausgebaut. Heute sind Waldorfschulen selbstverständlicher Teil der deutschen Bildungslandschaft. Die staatliche Förderung ist gesetzt, staatliche Kontrolle jedoch kaum existent.
Rassistisch, antisemitisch und ableistisch
Es ist faszinierend, wie gut das harmlose Image funktioniert und wie nahtlos es sich gesellschaftlich einfügt. Ich empfinde Rudolf Steiner inzwischen als heimlichen Guru Deutschlands, dessen Ideen nicht selten im Widerspruch zu unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung stehen. Für mich ist seine Jahrsiebtelehre adultistisch, seine „Menschenkunde“ rassistisch, antisemitisch und ableistisch, die Dreigliederung antidemokratisch, die anthroposophische „Medizin“ wissenschaftsfeindlich, und in der Demeter-Landwirtschaft dienen die Tiere gerne dem Menschen.
Als ich klein war, gab es vieles nur im kleinen Laden mit dem komischen Geruch oder im Versandkatalog. Heute gibt es Produkte anthroposophischer Firmen in allen Supermärkten und Drogerien: von Babysocken bis Tiefkühlpommes, von Hautcreme bis Spülmaschinentabs. Anthroposophische Mittelchen werden in jeder Apotheke verkauft, der Rettungswagen fährt anthroposophische Kliniken an. Dadurch wurden nicht nur Umsatz und Einfluss erhöht, sondern auch anthroposophische Ideen normalisiert und validiert.
Man kann sich heute ganz unbemerkt an die anthroposophische Weltsicht gewöhnen, selbst wenn man gar nicht weiß, was Anthroposophie ist: Waldorfkindergarten, weil er so nostalgisch anmutet; Anthro-Kinderärzt*in in der Hoffnung auf „sanftere“ Medizin; Waldorfschule, weil es keine Noten gibt; Urlaub im Anthro-Ressort auf Lanzarote, weil die Freundin so begeistert war …
Ich habe mich nie als Anthroposophin empfunden, aber ich war tief in dieser Weltsicht verwurzelt. Ich habe mich moralisch überlegen gefühlt und dachte, ich wäre halt eine „von den Guten“. Wie weit ich mich dadurch aber von den Grundlagen einer aufgeklärten demokratischen Gesellschaft entfernt hatte, fiel mir erst im Nachhinein auf. Mir war nicht klar, wie viel Unfug in diesem Umfeld für mich solide Realität geworden war. Ich plädiere daher für: Exit Waldorf!
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