Nahost-Diskurs seit 7. Oktober: Die neue Logik der Einseitigkeit
Seit dem Massaker der Hamas am 7. Oktober hat sich der Diskurs zum Nahostkonflikt zugunsten von Terroristen verschoben. Ein schrecklicher Zustand.
![Patronenhülsen und Reste eines Handys auf sandigem Boden Patronenhülsen und Reste eines Handys auf sandigem Boden](https://taz.de/picture/6602169/14/Israel-Hamas-1.jpeg)
D ass das Massaker der Hamas am 7. Oktober für die Menschen in Israel und die israelische Antwort für die Menschen in Gaza eine Zäsur bedeutet, ist klar. Die Ereignisse sind aber in gewisser Weise auch eine Zäsur für die Beobachter von außerhalb. Diese Zäsur besteht darin, eine neue Eindeutigkeit zu erzwingen.
Für die einseitige Pro-Palästina-Fraktion ist diese nicht neu. Für die einseitige Pro-Israel-Fraktion ebenso wenig. Neu ist solch eine Eindeutigkeit hingegen für all jene, die bisher kritische, aber nicht feindliche Beobachter waren. Kritisch gegenüber Netanjahus Politik, gegenüber der israelischen Siedlungspolitik, gegenüber dem Umgang mit den Palästinensern.
Jene, die bisher die Komplexität der Situation im Blick hatten. Die dem Existenzrecht Israels genauso gerecht werden wollten wie der Situation der Palästinenser. Jene sehen sich mit dem konfrontiert, was eine terroristische Logik ist: eine Logik der Einseitigkeit, der Nichtambivalenz, der parteiischen Eindeutigkeit. Ein Entweder-oder. Ohne Bedenken, ohne Mehrdeutigkeiten. Entweder oder. Dafür oder dagegen. Eine Logik, die heute die Diskussionen beherrscht. Weltweit. Bis in die kleinsten Fugen der sozialen Netzwerke.
Nur noch Haltung
So bestimmen die religiösen Extremisten den Diskurs: Sie haben den Konflikt in die Logik von Ausschließlichkeit verlagert. Diese ist jetzt bestimmend. Auch für die Diskussionen hierzulande. Insbesondere für jene der Linken. Für eine Linke, die keine Alternativen mehr hat – nur noch Haltungen. Für eine Linke, deren zentrale Kategorie heute das Opfer ist. Das ist eine ganz andere Kategorie als etwa die Ausgebeuteten.
Isolde Charim ist freie Publizistin in Wien.
Es gebe, so Omri Boehm in einem Interview, zwei konkurrierende Vorstellungen einer „ultimativen Verkörperung“ des Opferseins: Juden und Palästinenser – beide mit einer langen Opfergeschichte. Die zwei linken Haltungen zum Nahost-Konflikt entsprechen genau diesen beiden Vorstellungen. Auf der Pro-Israel-Seite findet man eine Wiederbelebung des Narrativs der Juden als ewige Opfer.
Eine Vorstellung, die schon lange nur mehr retrospektiv gegolten hat – mit Blick auf die Schoah. Die jetzigen Opfer in Israel werden unmittelbar in diese Vorstellung eingereiht. Und so verknüpft sich die aktuelle Erschütterung nahtlos mit dem Abtragen des schlechten Gewissens der Täter-Erben. Hier ist die linke Reaktion eins mit dem Mainstream der öffentlichen Meinung.
Schuldgefühle entsorgen
Spiegelverkehrt schleudern die Verfechter der Palästinenser als „ultimative Opfer“ den anderen entgegen: „Free Palestine from German guilt!“ In Palästina sei nicht die deutsche Schuld abzutragen. Das hat mehrere Vorteile: Man ist gegen den Mainstream, gegen die Juden als Opfer und entsorgt auch noch die eigenen Schuldgefühle. Diesmal nicht durch Empathie, sondern durch Empathielosigkeit. Das Mitgefühl bleibt exklusiv den geschundenen Gazabewohnern vorbehalten.
Das folgt der terroristischen Logik der Eindeutigkeit – denn diese Opferkonzeption beruht auf einer solchen: auf der unerschütterlichen Eindeutigkeit, wer Opfer und wer Täter ist. Sie beruht auf der Vorstellung eines reinen Opfers – dem ein eindeutiger Täter gegenübersteht. Ein ebenso eindeutiger wie einfacher Gegensatz. Als hätte es nie eine Dialektik gegeben.
In dieser Vorstellung sind die Kategorien im Nahen Osten klar verteilt. Die Palästinenser sind die Opfer und die Israelis die Täter. Nicht dass das nicht stimmen würde. Ein Stück weit. Aber wenn Ereignisse wie die aktuellen den Kategorien widersprechen – wenn Israelis zu Opfern und Palästinenser zu Tätern werden.
Umso schlimmer!
Mehr noch: Wenn Israelis Opfer und Täter – und Palästinenser sowohl Attentäter als auch Leidende in Gaza sind. Wenn also die Einteilung durch die Geschehnisse untergraben wird, dann wirkt diese linke Reaktion wie die Paraphrase eines alten Ausrufs: umso schlimmer für die Ereignisse!
Man lässt sich von den Ereignissen doch nicht die Reinheit der Kategorien erschüttern. Eine Reinheit, die dazu führt, die Hamas der Seite der Opfer zuzurechnen. Eine eigene Verhaftung mit der terroristischen Logik.
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