Kriege im Nahen Osten: Immer sind die anderen schuld
Das mantraartig vorgetragene Recht Israels auf Selbstverteidigung verschließt in Deutschland den Blick auf die brutale israelische Kriegsführung.
Inhaltsverzeichnis
E lf Mal sei sie im vergangenen Jahr in den Nahen Osten gereist, berichtet Außenministerin Annalena Baerbock in der ARD-Talkshow von Caren Miosga stolz. Davon neun Mal nach Israel. Weil es ihr Ansatz als Außenministerin sei, immer alle Perspektiven in den Blick zu nehmen. Dass sie damit genau die Unausgewogenheit ins Schaufenster stellte, die die Wahrnehmung der deutschen Haltung in meiner Wahlheimat Beirut und weiten Teilen der Region prägt, war ihr vielleicht gar nicht bewusst. Die nämlich, dass auch vor dem Hintergrund einer wertegeleiteten feministischen Außenpolitik das Leid der einen sehr wohl schwerer wiegt als das der anderen.
Natürlich war der Beistand gegenüber Israel nach den Hamas-Massakern am 7. Oktober richtig. Was dann aber folgte, war eine Vergeltung, die jede Verhältnismäßigkeit vermissen ließ: bislang mindestens 41.000 Tote in Gaza. Unzählige Kinder mit amputierten Gliedmaßen. Vergewaltigte und missbrauchte Häftlinge. Systematisches Aushungern. Immer wieder Vertreibung der Bevölkerung. Zerstörte Universitäten, Kirchen, Moscheen, Krankenhäuser und Schulen. Auslöschung von Kultur, Tradition und Identität. Ob das Völkermord ist, darüber wird der Internationale Gerichtshof entscheiden.
Und jetzt der Libanon. Es stimmt – die Hisbollah hatte am 8. Oktober 2023, als Israel bereits den Gazastreifen attackierte, die Front im Süden eröffnet. Sie schoss Raketen auf die Shebaa-Farmen, nach internationalem Recht illegal von Israel besetztes Land. Lange war es ein Balanceakt, dann lief die Situation immer mehr aus dem Ruder. Bis die Waffen in Gaza schwiegen, würde man weiterschießen, wiederholte Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah. Einen „eigenen“, allumfassenden Krieg mit dem Erzfeind wollte er nicht. Den Zusammenbruch dieses Kalküls bezahlte Nasrallah, der zuvor noch einer Waffenruhe zugestimmt haben soll, letztlich mit dem Leben. Seither tobt der Krieg völlig entfesselt auch im Libanon.
Täglich fliegt die israelische Armee IDF jetzt Luftangriffe auf Beirut. „Wir bomben euch zurück in die Steinzeit“, tönten israelische Politiker schon vor Monaten. Die Wucht des Krieges lässt wenig Zweifel daran, wie ernst das gemeint war: Innerhalb von 14 Tagen wurden 1.500 Menschen getötet, 2.100 seit vergangenem Oktober, darunter 130 Kinder, hunderte Frauen. Mal kommen Evakuierungsaufforderungen um 3, dann um 4 Uhr in der Nacht, mal bleiben sie aus. Eine große israelische Tageszeitung fragte noch am Tag des Beginns der Bodenoperation am 30. September, ob der Libanon nicht auch ein Teil Groß-Israels sei.
lebt in Beirut und arbeitet im dortigen Auslandsbüro der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung. Sie war früher Redakteurin der taz.
In Deutschland dagegen haben weder die Zahlen aus Gaza noch die Eskalation im Libanon zu einem echten Umdenken geführt, zu einem veränderten Agieren gegenüber der israelischen Führung. Einer veränderten Sicht auf die Dinge. Alles wird weiter subsumiert unter Israels Recht auf Selbstverteidigung. Sowieso seien die Israeli Defence Forces (IDF) die moralischste Armee der Welt. Kriegsverbrechen? Jede*r Tote ein Opfer der Terroristen. Menschliche Schutzschilde? Israel habe keine Wahl, sei doch existenziell bedroht.
Und wer über die bedauerlichen „Kollateralschäden“ hinausgeht, fantasiert gar von einer „Avantgarde des Westens“ (Welt-Chefredakteur Ulf Poschardt), die sich da Sturm bricht. Die Vernichtungslandschaft in Gaza wird so zu einem Triumph der „Kinder des Lichts“ auf ihrem Weg zum „totalen Sieg“ (Netanjahu) erklärt.
Das real existierende Israel wollen große Teile der politisch-medialen Elite in Deutschland weiterhin nicht wahrnehmen. Vielmehr ergeht man sich in der Wohlfühlprojektion der bunten Demokratie. Dabei wird das Land längst von einer breit verankerten, rassistischen Siedlerbewegung geprägt. Früher noch als „Irre“ abgetan, sitzen sie heute an den Schalthebeln der Macht.
Der Libanonkrieg ist äußerst populär im Land, auch die zionistische Linke trägt ihn mit. Dabei offenbaren sich schon jetzt Parallelen zur brutalen Kriegsführung in Gaza. In einer am Mittwoch auf seinem X-Account veröffentlichten Ansprache an das libanesische Volk stellt Netanjahu unumwunden klar: „Befreit“ ihr euch nicht von der Hisbollah, erwartet euch die gleiche Zerstörung, das gleiche Leid wie in Gaza – als sei das ganz automatisch so und er selbst daran im Grunde gar nicht beteiligt. Sie sind da, die Worte, doch wer hört hin?
Schweigen und Schulterzucken
Was ich von meinen libanesischen Freund*innen vernehme, was ich auf X lese, ist große Wut, aber auch tiefe Verletztheit. Darüber, dass sie Bilder hinaus in die Welt senden, von getöteten Frauen und Kindern, von ihrer geliebten Hauptstadt, auf die jetzt täglich Bomben fallen. Von 1,3 Millionen Vertriebenen, einem Sechstel der Gesamtbevölkerung – und dass das, was sie am anderen Ende erwartet, Schweigen ist oder Schulterzucken, flankiert von Worten, die all das zu rechtfertigen scheinen: Terroristen, Hochburgen, gezielt, menschliche Schutzschilde, Recht auf Selbstverteidigung.
Die libanesische Autorin Lina Mounzer schreibt dieser Tage von der systematischen Entmenschlichung arabischen Lebens: „Die westliche Presse übersetzt uns in eine Sprache, die ihnen unsere Auslöschung erträglicher macht. Unsere Viertel sind nicht mehr die Orte, an denen wir spielten, aufwuchsen, Kinder großzogen und Freunde besuchten – sie sind Hochburgen.“ Die Leiber unserer Männer sind nicht mehr die geliebten Körper, an die wir uns schmiegten, die Hände, die uns hielten oder die starken Arme, die uns trugen, die weichen Lippen, die uns gute Nacht küssten. Sie sind „Verdächtige“, „Militante“, „Terroristen“, und ihr Tod ist immer gerechtfertigt, denn sie sind Männer, und unsere Männer sind Schurken – und so war es schon immer, so sind wir schon immer gewesen, für sie.“
Auch ich erwähne in diesem Text, wie mir dann bewusst wird, explizit die getöteten Frauen und Kinder, weil ich denke, dass getötete arabische Männer in Deutschland sowieso automatisch als Terroristen gelten. Die Großväter, Brüder und Onkel, die Apotheker, Taxifahrer und Tierärzte. Ich kann deshalb nur im Ansatz ahnen, was arabischstämmige Menschen in Deutschland immer wieder erleben. Wie abfällig und geringschätzig man sie beäugt, wie sie alle miteinander in einen Topf geschmissen werden, Antisemiten sowieso, sind die ja alle, Deckel drauf, fertig.
Bloß keine Auseinandersetzung, bloß kein Hinhören. Augen zu, Ohren zu – und den Mund besser auch geschlossen halten. Das mantraartig vorgetragene Recht Israels auf Selbstverteidigung, es funktioniert wie ein besonders elastisches Gummiband, das immer weiter um alles israelische Handeln gespannt wird. In der Logik der deutschen Staatsräson genügt es, wenn Benjamin Netanjahu referiert, die Hisbollah habe in praktisch jedem Haus im Libanon Raketen gelagert, in Küchen, Garagen, Wohnzimmern. Schulterzucken, tja, dann ist das wohl so, schon wieder eine Bombe und Dutzende zivile Opfer gerechtfertigt.
Im Libanon haben wir tagelang nur Witze gemacht, ob man heute schon seine Rakete geputzt habe. Das Gummiband hält auch dann, wenn Rettungsdienste, die nach den Luftangriffen zu den Einschlagsstellen rasen, um Tote und Verletzte zu bergen, bombardiert werden, mit der aberwitzigen Behauptung, darin würden Waffen für die Hisbollah transportiert. 40 Rettungssanitäter*innen wurden an drei Tagen im Libanon getötet, zehn Feuerwehrleute an einem Tag allein. Sie sind da, die Bilder, doch wer sieht hin?
Systematische Entrechtung durch Israel
Jeder Hinweis auf Selbstverteidigung, jedes Wort wie „Hochburg“, „Terrorist“, „menschlicher Schutzschild“ dient dazu, das Leiden der Menschen in Nahost für den Westen erträglich zu machen, es, wie Mounzer schreibt, in gut verdauliche Portionen zu verpacken, nach denen man noch beruhigt schlafen gehen kann. Gott sei Dank sind wir die Guten und am Ende sind immer Hamas oder Hisbollah schuld, jaja, das ergibt schon Sinn. So richtig verstehen kann man dieses Leben da ja auch nicht, warum haben die so viele Kinder, die alle Mohammad oder Fatima heißen, ist es dann genauso schlimm, wenn eines stirbt, die lieben anders, nicht so wie wir, warum ist nicht alles ein bisschen mehr so wie bei uns – dann gelte denen ja auch unser Mitgefühl.
Und überhaupt, so ist eben Krieg, was soll Israel da machen, umringt von Feinden in diesem antisemitischen Loch namens Nahost. Als die Einzigen, die dort „unsere“ Werte verteidigen, ganz praktisch eigentlich, dass die den Kampf gegen den islamistischen Terror schön weit weg von uns führen. Ob es wohl auch und vielmehr um ein Ende von Besatzung, systematischer Entrechtung und Vertreibung geht? Das sei dahingestellt, bloß nicht vergessen, was wir Deutschen getan haben, denkt an Auschwitz, ihr alle, egal, wo, und auch egal, ob euch gerade Bomben auf den Kopf fallen und ihr eines eurer Kinder beerdigt.
Die wenigen Worte des Mitgefühls werden nie in Taten übersetzt. Die Aufrufe zur Mäßigung und Deeskalation verpuffen in der Luft. Oder explodieren gemeinsam mit der Ladung von 85 Tonnen Bomben über den Straßen von Beirut. Am Donnerstag kündigt Kanzler Olaf Scholz an, bald wieder Waffen an Israel liefern zu wollen. Zur gleichen Zeit, da Israel ein interkulturelles Begegnungszentrum, mehrere Gebäude mitten in Beirut und Stellungen der UN-Friedensmission im Libanon bombardiert.
Denn was man in Deutschland noch immer nicht wahrhaben will: Es gibt im Israel des Jahres 2024 keinen Plan für Frieden. Genügend Partner in der arabischen Welt fänden sich längst, wie auch der jordanische Außenminister jüngst noch einmal erhitzt und verärgert versichert hat. Man sei vor dem Hintergrund einer überfälligen Zweistaatenlösung bereit, die Sicherheit des jüdischen Staates zu garantieren, äußerte er.
Doch Netanjahu und seine messianischen Koalitionspartner wollen einen palästinensischen Staat verhindern. Die Politik in Israel verweigert sich ihrer Kernaufgabe, die es wäre, politische Lösungen anstelle von immer mehr Kriegen zu präsentieren. In Deutschland verscherzt man es sich aus falsch verstandener Solidarität langfristig mit den progressiven Akteuren in der Region, die die eigentlichen Partner beim Streben nach Frieden in Nahost sein sollten, die uns aber mit der Unterstützung einer ethnonationalistischen israelischen Regierung nicht mehr über den Weg trauen.
Mounzer schreibt: „Fragt man heute einen Araber, was die schmerzhafteste Erkenntnis des vergangenen Jahres war, wird er sagen: Es ist die Entdeckung des Ausmaßes unserer Entmenschlichung – so tiefgreifend, dass es unmöglich ist, die Welt jemals wieder auf die gleiche Weise zu betrachten.“
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