Krieg in der Ukraine: Keine dogmatische Gesinnungspolitik
Trotz wachsender Unsicherheit: Die globalen Herausforderungen erfordern eine friedliche Koexistenz und Zusammenarbeit über Differenzen hinweg.
D er Krieg in der Ukraine befindet sich bekannterweise in einer besonders gefährlichen Phase. So überrascht, mit welcher Unbekümmertheit die Eskalationsrisiken in der deutschen Debatte vielfach übergangen werden. Auch ein nicht völlig auszuschließender Einsatz von taktischen Nuklearwaffen durch Russland scheint vielfach nahezu „eingepreist“ zu werden. Es geht unverändert zentral um die Frage der Lieferung schwerer Waffen.
Die moralisch aufgeheizte Debatte vermittelt den Eindruck, dass sich hier das Gute und das Böse schlechthin in Gestalt Wladimir Putins beziehungsweise Russlands gegenüberstehen. Die Notwendigkeit, die Ukraine zu unterstützen, wird letztlich damit begründet, dass die Ukraine einen Stellvertreterkrieg führt, dass sie für und damit letztlich im Namen der Nato und des Westens Werte wie Demokratie, Freiheit und Menschenrechte verteidigt.
Interessanterweise spricht auch das russische Regime von einem Stellvertreterkrieg, den die Ukraine für den Westen führt. Ziel dieser Propaganda ist, die Kriegsschuld abzuwälzen, die militärischen Rückschläge Russlands in der Ukraine zu relativieren und gleichzeitig eine Drohkulisse aufzubauen, um westliche Staaten von weiteren militärischen Unterstützungsleistungen für die Ukraine abzuschrecken.
Der Begriff Stellvertreterkrieg ist falsch und irreführend. Die Nato oder der Westen befinden sich eben nicht in einer militärischen Auseinandersetzung mit Russland, die in einem Drittland, der Ukraine, ausgetragen wird. Ebenso wenig kämpfen die ukrainischen Streitkräfte im Auftrag und im Namen des Westens.
war von 2012-2015 Botschafter, Ständiger Vertreter der Bundesrepublik Deutschland bei der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, Wien.
Kein Stellvertreterkrieg
Auch die vielfach an die Fehlinterpretation von Stellvertreterkriegen geknüpfte überhöhte Erwartung, dass Russland im Falle eines Sieges gegen die baltischen Staaten und andere Mitglieder der Nato vorgehen würde, ist Unsinn. Für eine solche Absicht gibt es in der Vorgeschichte zum Krieg keinerlei Anhaltspunkte. Dazu kommt: Zu einem konventionellen Angriff auf die Nato dürfte Russland nach dem Ukrainedebakel über lange Jahre hinweg nicht mehr fähig sein.
Dennoch ist die Unterstützung der Ukraine in der jetzigen Situation notwendig, denn letztlich geht es um die Wahrung für die regelbasierte Weltordnung zentraler, nicht nur im Interesse westlicher Demokratien liegender Prinzipien: das Verbot von Angriffskriegen und die Gewährleistung territorialer Integrität. Russland verstößt in eklatanter Weise gegen diese Prinzipien und geht gar so weit, der Ukraine die Existenzberechtigung als selbständiger Staat abzusprechen.
Sollte Putin mit seinem völkerrechtswidrigen militärischen Angriff Erfolg haben, würde das einen folgenschweren Präzedenzfall schaffen. Der Rückfall in das alleinige Recht des Stärkeren würde zu chaotischen Verhältnissen führen. Die Unterstützung für die Ukraine ist darauf angelegt, dass sich die Ukraine als eigenständiger und lebensfähiger Staat in gesicherten Grenzen behaupten kann. Sie ist militärisch bewusst begrenzt, um zusätzliche Eskalationen bis hin zu Nuklearschlägen zu vermeiden.
Die Unterwerfung Moskaus ist nicht das Ziel
Das ist zudem ein Signal an Moskau, dass es nicht – wie die russische Propaganda meint – um die Unterwerfung Russlands geht. Der Westen befindet sich mitnichten im Krieg mit Russland. Auch in dieser Hinsicht ist also die Mär von einem Stellvertreterkrieg irreführend. Beim Thema Stellvertreterkrieg geht es letztlich um die Einordnung des Krieges in der Ukraine, die Haltung zu der sich dynamisch entwickelnden Weltordnung, um eine Entideologisierung und Versachlichung der Debatte.
Und es geht um Realpolitik: Bei aller verständlichen Empörung über den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg und die Kriegsverbrechen kann es der Nato nicht um einen ideologischen Kampf gegen ein autokratisch-faschistoides Russland oder dessen Niederringung gehen. Vielmehr muss angesichts der steigenden Eskalationsgefahr, aber auch der enormen menschlichen Opfer und Schäden die rasche Beendigung der Kriegshandlungen im Vordergrund der Bemühungen stehen.
Trotz der jüngsten beeindruckenden Erfolge der ukrainischen Streitkräfte bleibt der Ausgang des Krieges ungewiss; die von Putin dekretierte Mobilisierung von mehreren 100.000 Reservisten deutet vielmehr darauf hin, dass Putin keinesfalls aufgegeben hat. Die USA stehen in einer besonderen Verantwortung, um eine diplomatische Lösung und das rasche Ende der Kriegshandlungen voranzutreiben.
Problem Krisenkommunikation
Problematisch ist, dass es – anders als in der Kubakrise vor 60 Jahren – keine funktionierende Krisenkommunikation zwischen den beiden Atommächten zu geben scheint. Die Kubakrise hat gezeigt, wie entscheidend eine wirksame Krisenkommunikation ist, um Fehlkalkulationen und in letzter Konsequenz einen Atomkrieg zu vermeiden. Einmal mehr gilt jetzt, sich nicht von moralischer Empörung und Abscheu und Verachtung für Putin, sondern strikt von Interessen leiten zu lassen.
Praktisch können die USA unter Berufung auf Artikel IV des mit Moskau 1973 geschlossenen Abkommens zur Verhinderung eines Atomkriegs den sofortigen Eintritt in dringende Konsultationen fordern. Dabei stehen dann beide in der Verpflichtung, alles zu unternehmen, um das Risiko eines nuklearen Konflikts abzuwenden.
Eine anzustrebende diplomatische (Zwischen-)Lösung muss natürlich darauf bedacht sein, im Interesse der Wahrung der eingangs genannten zentralen Prinzipien der internationalen Ordnung keinen falschen Präzedenzfall zu schaffen. Dennoch dürfen bittere und schwierige Kompromisslösungen nicht von vornherein ausgeschlossen werden.
Optimistisch, dass ein solcher Ansatz gelingen könnte, stimmt die aktuelle Lage sicher nicht. Trotzdem steht zu viel auf dem Spiel. Nichts darf unversucht bleiben, um die Möglichkeiten einer Kriegsbeendigung auszuloten. Das Verständnis, nicht in einen Stellvertreterkrieg verwickelt zu sein, kann dabei den Weg zu realpolitischen Lösungsansätzen erleichtern. Natürlich müsste auch die Ukraine in einen solchen Prozess in geeigneter Weise eingebunden sein.
Bunt gemischte Weltordnung
Ein verändertes Verständnis zur eigenen Rolle im Krieg sollte auch den Blick für die Risiken der Entwicklung der Weltordnung schärfen. Es geht eben nicht um einen Krieg zwischen Demokratien und Autokratien. Ebenso wenig sollte die sich abzeichnende neue Weltordnung auf eine solche Bipolarität reduziert werden.
Schon der Kotau, den westliche Staaten vor auch unappetitlichen autoritären Regimen wie Saudi-Arabien im Interesse der eigenen Energiesicherheit zu machen bereit waren, signalisiert, dass die Versteifung auf eine derartige politische Frontstellung schon jetzt den politisch Handelnden wenig realistisch erscheint, selbst wenn immer wieder die „Wertegeleitetheit“ der Außenpolitik beschworen wird.
Es gibt keinen festgefügten Block von autoritären Staaten. Darüber können auch die Bemühungen von Russland und China nicht hinwegtäuschen, die Beziehungen zu autokratisch verfassten Regimen zu vertiefen. Und der Westen sollte einer Blockbildung durch eine ungeschickte Konfrontations- und Abgrenzungspolitik ohne Augenmaß keinesfalls Vorschub leisten.
Weltweit immer weniger Demokratien
Besondere Aufmerksamkeit sollte dabei zentralen, durchaus auch demokratisch verfassten Staaten der Dritten Welt gelten. Russland und China umwerben diese Staaten, um sie auf ihre Seite zu ziehen oder zumindest zu neutralisieren. Es ist keineswegs davon auszugehen, dass die Zeit für die Demokratie arbeitet. Nach einer kontinuierlichen Zunahme der Zahl demokratischer Staaten in den letzten Jahrzehnten ist deren Zahl in den letzten Jahren rückläufig.
Nach dem Demokratie Index der Zeitschrift Economist wurden 2021 nur 21 Staaten als „vollständige Demokratien“ eingestuft. Nicht nur gibt es besorgniserregende autokratische und autokratisch-populistische Tendenzen in einigen Staaten auch der EU. Auch – dies ist für die Entwicklung der internationalen Beziehungen besonders relevant – zählen die USA mit der Perspektive einer erneuten Machtübernahme eines republikanischen Präsidenten ebenfalls zu den Staaten, die sich von der Demokratie zu verabschieden drohen.
Nicht die Konfrontation zwischen Demokratien und Autokratien darf das konstitutive Element einer neuen Weltordnung sein. Sondern es gilt, in einer heterogenen Weltgemeinschaft den Ausbau regelbasierter Ordnungsrahmen mit Nachdruck voranzutreiben. Dabei ist auch die Zusammenarbeit unter den durch das System der Vereinten Nationen privilegierten P5-Staaten (USA, China, Russland, Frankreich, Großbritannien) im Interesse einer Einhegung ihrer Rivalität zu fördern.
Diese fünf nach dem Atomwaffensperrvertrag anerkannten Nuklearwaffenstaaten haben gemeinsame Interessen. Kurzfristig wird es auch darum gehen, das Atomabkommen mit dem Iran, von dem sich 2018 die USA zurückgezogen haben, wiederzubeleben. Empörung über die aktuellen Vorgänge im Iran ist mehr als verständlich, aber kein Grund, von diesem Ziel abzurücken.
Für die EU wird es darauf ankommen, im Interesse der Verteidigung ihrer Freiheit und Werte enger zusammenzurücken und den autokratisch-populistischen Tendenzen in den eigenen Reihen entschieden Einhalt zu gebieten. Entschlossen und schnell sollte sie die Selbstbehauptungskräfte in einer unsichereren Welt stärken und eine strategische Autonomie (auch in militärischer Hinsicht) verwirklichen. Zwar wird sie sich auf einen Kalten Krieg 2.0 mit Russland einrichten müssen, dennoch sollte sie alles daran setzen, eine friedliche Koexistenz zu wahren.
Nicht Scharfmacherei und konfrontative Missionierung für die Demokratie, sondern klares und entschiedenes Eintreten für Prinzipien wie Gewaltverbot, territoriale Integrität und menschenrechtliche Mindeststandards sollten leitend sein. Hierzu bedarf es der Führung und gemeinsamen Handelns. Und Führung erfordert nicht nur einen Wertekompass, sondern auch einen wachen und klaren Sinn für Realpolitik ohne ideologische Scheuklappen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Spiegel-Kolumnist über Zukunft
„Langfristig ist doch alles super“
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
James Bond
Schluss mit Empfindsamkeit und Selbstzweifeln!
Nachtcafé für Obdachlose
Störende Armut