Kommentar „Sea-Watch“: Unterlassung ist ein Verbrechen
Die Kapitänin der „Sea-Watch“ gehört nicht ins Gefängnis. Die Verantwortlichen für die Mittelmeertoten sollten in den Knast. Die sind nicht nur in Italien.
W er einen Menschen im Badesee vor dem Ertrinken rettet, darf wohl mit einer lobenden Erwähnung im Lokalblatt rechnen. Wer Dutzende aus dem Wasser zieht, findet sich bald im Schloss Bellevue wieder, denn ein Bundesverdienstkreuz ist das Mindeste, was Lebensretter*innen zusteht. Der Grund ist einfach: Wer Ertrinkenden oder in Seenot geratenen Menschen die lebensrettende Hand reicht, ist unbedingtes Vorbild einer humanen Gesellschaft.
Carola Rackete kann darüber wahrscheinlich nur müde lächeln. Ihre Verhaftung bei Einfahrt in einen sicheren Hafen, mit 40 Menschen an Bord der „Sea Watch 3“, stellt zwar jedes Prinzip des menschlichen Miteinanders auf den Kopf, war aber erwartbar. Racketes Gäste werden vom rechtsradikalen Innenminister Italiens nämlich nicht als Menschen wahrgenommen, sondern als gesichts- und rechtlose Bedrohung.
Seenotretter*innen sind für Matteo Salvini einfach nur Schleuser, Verbrecher also. Und die gehören in den Knast. An der Kapitänin Rackete wird ein Exempel statuiert.
Nun wäre es aber zu einfach, die Schuld für Eskalation allein in Rom zu suchen. Schließlich ist die Dehumanisierung der Geflüchteten, die Reduzierung ihrer Leben auf verzichtbaren Ballast, der stumm vor der libyschen Küste versinken kann, ein gesamteuropäisches Projekt.
Jede Abschiebung, jedes Hau-ab-Gesetz, jede Demütigung auf der Ausländerbehörde, jede von Rassismus triefende Rede in den Parlamenten der EU, gibt Salvini die Rechtfertigung für seinen menschenverachtenden Kurs an dieser tödlichen Grenze zwischen Afrika und Europa.
Das Schweigen der EU-Institutionen und der nationalen Regierungen, allen voran die deutsche, ist nichts weniger als unterlassene Hilfeleistung und immer wieder ein wenig verschämtes Einverständnis mit der Brutalität des Grenzregimes auf dem Mittelmeer.
Carola Rackete, Sea Watch und die anderen Rettungsorganisationen weigern sich mit Mut und Menschlichkeit, den andauernden Massenmord kommentarlos zu dulden und sind deswegen Repressionen ausgesetzt. Die Frage, wer da ins Gefängnis gehört, beantwortet sich von selbst.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Armut in Deutschland
Wohnen wird zum Luxus
Prozess zu Polizeigewalt in Dortmund
Freisprüche für die Polizei im Fall Mouhamed Dramé
Bis 1,30 Euro pro Kilowattstunde
Dunkelflaute lässt Strompreis explodieren
Leben ohne Smartphone und Computer
Recht auf analoge Teilhabe
Studie Paritätischer Wohlfahrtsverband
Wohnst du noch oder verarmst du schon?