Koalitionsvertrag schwarz-rot: Immer schön fleißig!
Ein Blick in den Koalitionsvertrag von Union und SPD zeigt: Die künftige Regierung will Politik für Leistungsträger machen. Wer sind die eigentlich?

S ind Sie eine Leistungsträger:in? Wenn Sie das spontan bejahen können, dann willkommen im Club, Sie und ihre Familie stehen ab sofort im Mittelpunkt. So verspricht es die Präambel des Koalitionsvertrags zwischen Union und SPD. Und weiter steht da „Leistung und Anstrengung müssen sich auszahlen“.
Falls Sie zweifeln, ob Sie gemeint sind – weil Sie gestern ihre zehntausend Schritte nicht geschafft haben, weil Sie Bürgergeld beziehen oder gerade ein Sabbatical machen, weil Sie Rentner:in sind oder erwerbsunfähig, können Sie ja die 144 Seiten des Vertrages durchgehen, um sich eine Meinung zu bilden. Dort taucht 113 Mal das Wort Leistung auf, zweimal der Begriff Solidarität und kein einziges Mal das Wort Muße.
Wenn die künftige Koalition Leistungsträger, Leistung und Anstrengung so explizit benennt, dann muss in Abgrenzung dazu wohl auch eine Gruppe von Menschen existieren, die keine Leistungsträger sind, die sich nicht anstrengen. Unsere Gesellschaft ist demnach nicht, wie marxistisch geschulte Geister behaupten, in soziale Klassen von Herrschenden und Beherrschten oder Besitzenden und Nichtbesitzenden geteilt. Nein, laut Koalitionsvertrag stehen jenen, die etwas leisten, jene, die nichts leisten gegenüber. Also Fleißige versus Faule.
Die Union ist ja schon lange der Meinung, dass Leistung sich nicht mehr lohne. CDU-Chef Friedrich Merz machte sich im vorigen Jahr Sorgen um die Arbeitsmoral im Land; wenn diese nur als „eine unangenehme Unterbrechung unserer Freizeit“ empfunden werde, führe das zu einem „massiven Wohlstandsverlust“. Zugleich forderte er mehr Respekt vor Besserverdienenden.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Keine Leistungsbereitschaft mehr in Deutschland?
Die SPD, die Letzteres damals scharf kritisierte, betont zugleich, dass man Politik vor allem für jene macht, die „morgens früh aufstehen“ und „die den Laden am Laufen halten“. Im Wahlkampf und bei der Vorstellung des Koalitionsvertrags klangen die SPD-Vorsitzenden Lars Klingbeil und Saskia Esken mit ihrem Lob der „Fleißigen“ schon wie die zweite Stimme zu CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann, der im Chor mit Merz permanent beklagt, in Deutschland gebe es keine Leistungsbereitschaft mehr, keiner strenge sich mehr an.
Von der Union erwartet man nichts anderes, die versucht als Lobbypartei der Arbeitgeber nun mal allein die Beschäftigten dafür in Verantwortung zu nehmen, dass Deutschlands Wirtschaft schrumpft.
Anders, als Merz und Co suggerieren, ist Deutschland kein Land, wo sich alle nur noch auf ihre Hobbys konzentrieren. Noch nie wurde so viel gearbeitet wie im vergangenen Jahr. Die Zahl der Arbeitsstunden lag 2024 auf Rekordhoch bei über 60.000, genauso wie die Zahl der Erwerbstätigen. Fast 46 Millionen Menschen gehen einer Arbeit nach und damit fast doppelt so viele wie 1970. Richtig ist, damals wurde pro Person länger gearbeitet. Aber man kann sich schon fragen, wo ist das Problem, wenn doch insgesamt alle mehr anpacken.
Für die SPD ist das Dauerlob der Fleißigen vor allem der Versuch, aus der Defensive zu kommen und sich vom Vorwurf zu befreien, man kümmere sich mehr um Menschen, die nicht arbeiten, als um jene, die arbeiten. Das von der SPD-Regierung eingeführte Bürgergeld sei demnach eine Art bedingungsloses Grundeinkommen, welches Faulheit fördere. Eine Argumentation, die auch bei jenen verfängt, um die sich die SPD – hervorgegangen 1863 aus dem Allgemeinen Deutscher Arbeiterverein – vor allem kümmern will: die einfachen Leute. Nur noch 12 Prozent der Arbeiter:innen wählten bei der Bundestagswahl sozialdemokratisch, 38 Prozent stimmten für die AfD, eine Partei, die Ausgrenzung und das Treten nach unten zum Programm erklärt hat.
Glaube an das meritokratische Prinzip
Statt sich dieser Logik zu verweigern oder zumindest argumentativ entgegenzutreten – es gibt schlichtweg keine Belege dafür, dass Menschen ihren Job kündigen, um sorglos vom Bürgergeld zu leben – und sich darauf zu konzentrieren die Bedingungen für Arbeitnehmer:innen zu verbessern, sind die Sozialdemokraten eingeknickt: Das Bürgergeld wird zurückgedreht, der Druck auf Arbeitslose massiv erhöht.
Zugleich will die schwarz-rote Koalition die Arbeitszeit ausweiten. So soll die tägliche durch eine wöchentliche Höchstarbeitszeit ersetzt werden, Überstundenzuschläge künftig steuerfrei sein, und wer als Rentner:in freiwillig weiterarbeitet, soll 2.000 Euro steuerfrei bekommen.
Was Union und SPD dabei verbindet, ist der Glaube an das meritokratische Prinzip. Also, dass Leistung und Begabung darüber entscheiden (sollten), wer die wichtigsten Posten in der Gesellschaft besetzt. Der Union dient das als Legitimation für die großen Einkommens- und Vermögensunterschiede – Leistung drückt sich demnach in Gehalt und Besitz aus. In der SPD fußt die sozialdemokratische Erzählung vom Aufstieg durch Bildung auch auf dem Glauben, dass es jede und jeder durch eigene Anstrengung bis an die Spitze der Gesellschaft schaffen kann.
Kritik an der Leistungsgesellschaft und ihrem meritokratischen Grundkonsens gibt es zuhauf – eine der bekanntesten und fundiertesten formulierte der US-amerikanische politische Philosoph Michael Sandel in seinem 2020 erschienenen Buch „Vom Ende des Gemeinwohls“. Sandel machte nicht nur deutlich, dass der Mythos vom Aufstieg aus eigener Kraft eben nicht mehr sei als ein Mythos und Privilegien zementiere. Kinder reicher Familien haben viel bessere Chancen im Auslesesystem amerikanischer Eliteuniversitäten und damit auch die Nase vorn im Rennen um gut bezahlte Top-Jobs. Auch in Deutschland haben Kinder aus Akademikerfamilien ungleich bessere Start- und Aufstiegschancen als Arbeiterkinder.
Der Schwund von „Gnade“
Der Harvard-Professor warnte zugleich davor, dass der Glaube an die Leistungsgesellschaft diese spalte – in abgehobene Eliten und wütende Verlierer – und das Gemeinwohl zerstöre. Die Leistung dränge dazu, die Gnade zu verdrängen, schreibt Sandel: „früher oder später versichern die Erfolgreichen, und glauben es allmählich auch, dass ihr Erfolg ihr eigenes Werk ist, und dass die Verlierer weniger wert sind“. Sandel erklärt den Erfolg des Populismus und die Wahl Donald Trumps 2016 mit der Wut der „Verlierer“, denen die Leistungsgesellschaft die Schuld an ihrem Scheitern zuschiebe und den Respekt verweigere.
Für den Erfolg der Rechtspopulisten in Deutschland und insbesondere in Ostdeutschland sind sicher auch andere Faktoren entscheidend – Abwanderung, Deindustrialisierung, Überalterung und Männerüberschuss der Gesellschaft. Was aber diesseits und jenseits des Atlantiks spürbar ist, ist der Schwund von „Gnade“. Gnade mit jenen, die angeblich zu wenig leisten, Gnade mit jenen, die um Hilfe und Asyl bitten.
Im Koalitionsvertrag manifestiert sich eine neue Unbarmherzigkeit. Auf Langzeitarbeitslose wird, wie beschrieben, mehr Druck gemacht, der sogenannte Vermittlungsvorrang wieder eingeführt. Wer arbeiten kann, soll arbeiten, egal ob er oder sie gerade eine Weiterbildung macht. Ob es genau so kommt, ist noch unklar. Aber der Geist von Hartz IV, als es wichtiger schien, Menschen in Call-Center zu vermitteln als zum IT-Manager weiterzubilden, weht auch durch die „Neue Grundsicherung“.
Auch Geflüchtete können nicht mit einer Willkommenskultur rechnen, ein Begriff, den kaum noch jemand in den Mund nahm und der es auch nicht in den Koalitionsvertrag geschafft hat. Schneller abschieben, weniger reinlassen, so das Credo der Flüchtlingspolitik.
Starren auf die, die nichts haben
Für Fachkräfte, oder wie es Gerade-noch-Kanzler Olaf Scholz (SPD) auf einer Parteiveranstaltung ausdrückte, „für Menschen die uns nützen“, will sich Deutschland dagegen weiter öffnen. Diese Klassifizierung von Menschen, die nützlich sind und die nicht nützlich sind, weckt nicht nur beklemmende historische Assoziationen. Es lenkt auch ab von grundlegenden Verteilungsdebatten.
Deutschlands Wirtschaft schrumpft, das schränkt die Spielräume eines Staates ein, der darauf eingestellt ist Wachstums- und Wohlstandsgewinne zu verteilen, aber nichts an der grundsätzlichen Verteilung des Wohlstands zu ändern.
Eine Reform der Erbschaftsteuer oder eine Wiedereinsetzung der Vermögensteuer hat die künftige Koalition nicht geplant. Die SPD ist ihrer jahrelangen Tradition treu geblieben, beide Forderungen im Wahlkampf tapfer vor sich herzutragen und mit Beginn der Koalitionsverhandlungen kleinlaut wieder abzuräumen.
Union und SPD starren lieber auf jene, die nichts haben und wollen bei ihnen Milliarden einsparen. Jenen oberen 1 Prozent der – ähem – Leistungsträger:innen etwas zuzumuten, die sehr, sehr viel besitzen, davor scheuen sie sich. Wobei das Wort „zumuten“ ein Euphemismus ist. Denn welche Art von Zumutungen würden die BMW-Erb*innen Susanne Klatten und Stefan Quandt spüren, wenn der Staat 10 Prozent ihres Vermögens von geschätzt 40 Milliarden Euro für uns alle beanspruchen würde? Die Geschwister wären weiterhin mehrfache Milliardäre, die Allgemeinheit hätte 4 Milliarden Euro mehr in der Kasse für Schulen, Straßen, Schienen und – die Freizeit darf ja nicht zu kurz kommen – Schwimmbäder und Theater.
An die Arbeit!
Doch dem Netzwerk Steuergerechtigkeit zufolge, zahlen Hochvermögende und Topverdiener:inen in Deutschland oft weniger Steuern als Normalverdiener*innen. Was unter anderem daran liege, dass sie nicht von ihrer Arbeit, sondern von ihren Kapitaleinkünften leben. Darauf hinzuweisen und ihren Beitrag einzufordern, bleibt nun der Opposition vorbehalten namentlich Grünen und Linken.
Und natürlich uns allen. Paradoxerweise will die künftige Koalition neben Mehrarbeit auch ehrenamtliche Arbeit stärker belohnen. Wie das mathematisch aufgehen soll, bleibt ein Rätsel. In einer aktuellen Umfrage im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung sagt die Hälfte der Befragten, sie hätten zu wenig Zeit, sich so stark politisch und gesellschaftlich zu engagieren, wie sie es wünschten. Vielleicht gehören Sie ja auch dazu. Aber keine Einwände, es gibt viel zu tun. An die Arbeit!
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Koalitionsvertrag schwarz-rot
Immer schön fleißig!
Schwarz-rote Koalition
Als Kanzler muss sich Friedrich Merz verscholzen
Anschläge vor Bundestagswahl
„Der Verdacht ist plausibel“
Rechte Drohungen und mediale Ignoranz
Wo bleibt der Aufschrei gegen rechts?
Schwarz-rote Koalition
Was befürchtet wurde …
Rassistischer Anschlag von Hanau
Terror-Betroffene reicht Beschwerde ein