Hubert Aiwangers Flugblattaffäre: Wer ist hier das Opfer?
Bei den Freien Wählern halten viele trotz der Flugblattaffäre zu Hubert Aiwanger. Er sei das Opfer einer Kampagne. Ein KZ-Überlebender widerspricht.
Anpacken für Bayern“ steht auf den Plakaten in einem Neubaugebiet im Westen von Regensburg. Es ist der Wahlkampfslogan der Freien Wähler. In einem kleinen Kubus-Haus lebt Ernst Grube, KZ-Überlebender und heute Präsident der Lagergemeinschaft Dachau, die 1946 von ehemaligen Häftlingen gegründet wurde.
Vor einer Woche berichtete die Süddeutsche Zeitung (SZ) über das holocaustverherrlichende Flugblatt, das Hubert Aiwanger, heute Vize-Ministerpräsident in Bayern und Chef der Freien Wähler, als Schüler verbreitet, aber nicht geschrieben haben will. Während Aiwanger am Donnerstagnachmittag im Münchner Wirtschaftsministerium vor der Presse steht und sagt, er halte es für nicht akzeptabel, „dass diese Verfehlungen jetzt in einer politischen Kampagne gegen mich und meine Partei instrumentalisiert werden“, sitzt der 90-jährige Ernst Grube in Regensburg an seinem Wohnzimmertisch, vor sich die Seite der Süddeutschen Zeitung, auf der das maschinengeschriebene Aiwanger-Flugblatt im Original abgedruckt ist.
Seine Frau hat gerade die Enkel zu den Eltern zurückgebracht. Am Abend will Grube einen Zoom-Zeitzeugenvortrag halten. Seit der Pandemie macht er das so, doch ihm fehle dabei der direkte Kontakt mit den Zuhörenden, sagt er.
„So etwas hat keine Verjährung“
Im Flugblatt ist die Rede von einem „Bundeswettbewerb“ für „Volksverräter“. „Bewerber: Melden sich im Konzentrationslager Dachau zu einem Vorstellungsgespräch“, heißt es darin. Der 1. Preis: „Ein Freiflug durch den Schornstein in Auschwitz“, der 2. Preis ein „lebenslänglicher Aufenthalt im Massengrab“, der 3. Preis ein „kostenloser Genickschuss“.
„Wenn ich das lese, dann bäumt sich bei mir innerlich alles auf“, sagt Grube. „Meine Tanten und Onkeln mit ihren Kindern und Geschwistern wurden in den Vernichtungslagern umgebracht, und dann schreibt jemand so etwas, auch noch in einer so rotzigen Art, das verhöhnt und verspottet die Überlebende in unglaublicher Weise.“ Dass nur von einem „antisemitischen“ Flugblatt die Rede ist, lenke von den anderen Opfergruppen ab, sagt er. In den im Flugblatt erwähnten Gestapo-Kellern („7. bis 1.000. Preis“) etwa seien oft die kommunistischen Häftlinge von der SS gequält worden. Mit dem erwähnten Genickschuss wurden tausende sowjetische Kriegsgefangene ermordet.
Dass das ganze 35 Jahre zurückliegt, spiele für ihn keine Rolle, sagt Grube. „So etwas hat keine Verjährung.“ Aiwanger habe „weder echte Reue gezeigt noch irgendeine Initiative ergriffen, um sich bei den Opfern zu entschuldigen.“
Typisch für Söder
Helga Hanusa, Grubes Frau, schaltet sich ein. Sie hat Aiwangers Statement im Radio verfolgt. „Wenn ich durch mein Verhalten Gefühle verletzt habe“, bereue er dies zutiefst, hatte er gesagt. Es sei „unglaublich, das so in den Konjunktiv zu setzen“, sagt Hanusa – „als sei das eine Frage der Empfindlichkeit und nur jemand ein bisschen sensibel,wenn er doch über die allergrößten Verbrechenskomplexe voller Hemmungslosigkeit und Mordlust geschrieben hat“.
Das Mindeste wäre gewesen, dass Aiwanger sein Amt ruhen lässt, bis die Vorwürfe geklärt seien, meint Grube. Söder hätte dazu eine unabhängige Instanz beauftragen müssen. Doch über die 25 Fragen, die er Aiwanger gestellt habe, dringe nichts nach außen. „Außerhalb des Kabinetts erfährt die demokratische Öffentlichkeit nichts. Das wird dann hinter verschlossenen Türen durchdiskutiert.“ Was dabei rauskomme, könne er sich jetzt schon vorstellen, sagt Grube: Aiwanger werde seinen Posten behalten dürfen.
Dieses Verhalten sei typisch für Söder. Der wende „sich immer dahin, wo er meint die besten Chancen zu haben“, sagt Gruber. Bei der letzten Wahl habe er gegen Asylsuchende gehetzt, dann habe er sich den Grünen zugewandt und nun setze er eben auf die Freien Wähler.
Die Sprache der radikalen Rechten
Grube hat sich vorgenommen, in der Erinnerungsarbeit noch stärker darauf hinzuweisen, dass Hitler nur mit Hilfe bürgerlicher Parteien an die Macht kommen konnte. „Solche Ansätze sind heute wieder da, wenn über Zusammenarbeit mit der AfD nachgedacht wird.“
2020 sagte der damalige CSU-Generalsekretär Markus Blume, seine Partei habe im Umgang mit der AfD Fehler gemacht, als die CSU selbst nach rechts rückte, um dort die Konkurrenz auszuschalten: „Du kannst ein Stinktier nicht überstinken.“ Viele glauben, die Freien Wähler versuchen heute genau das. Vor allem Aiwangers Auftritt auf einer Kundgebung gegen das Heizungsgesetz Mitte Juni im bayerischen Erding sehen viele als Zäsur. Aiwanger hatte da unter anderem gesagt, die „schweigende Mehrheit in diesem Land“ müsse sich „endlich die Demokratie zurück holen“ und „denen in Berlin sagen, ihr habt wohl den Arsch offen“.
„Das ist die Sprache der radikalen Rechten“, sagt Grube.
So blöd kann keiner sein
Eine halbe Autostunde südlich, im niederbayerischen Mittelgebirge, hat die Landwirtschaft wenig Natur übrig gelassen. Rottenburg an der Laaber ist der Heimatort der Aiwangers – eine ländliche Region südlich von Regensburg. Im Ortskern betreibt Bruder Helmut ein Waffengeschäft. Seit er am vergangenen Wochenende behauptet hat, er habe das Flugblatt geschrieben, ist sein Geschäft geschlossen. Ins Schaufenster hat Aiwanger DIN-A4-Zettel mit schrägen Anspielungen geklebt. Zuerst die „Literaturempfehlung: Die verlorene Ehre der Katharina Blum“. In dem Böll-Roman erschießt die Protagonistin einen Reporter.
Am Donnerstag hängen im Schaufenster zwei neue Zettel: „‚So blöd kann keiner sein.‘ (Klaus Kinski)“, steht auf dem ersten. „Keiner sind alle“ steht auf dem anderen. Jeder hat in seiner Jugend über die Stränge geschlagen, wieso hacken alle auf uns herum – so ist das wohl gemeint. Nachdem der Grüne Volker Beck Helmut Aiwanger angezeigt hat, überprüft die Waffenbehörde Straubing dessen Zuverlässigkeit.
Hier ist Aiwanger das Opfer
Was in Teilen des Landes als Skandal gilt, den Aiwanger politisch nicht überstehen kann, wird in Niederbayern von vielen völlig anders gesehen: Hier ist Aiwanger das Opfer.
Zum Beispiel in Thurmansbang. „Luftkurort“ verkündet ein Schild am Ortseingang, „Kartoffeln“ steht auf einem handbemalten Holzpfeil direkt darunter. Am Horizont erheben sich die dunklen Bergkämme des Bayerischen Waldes. 2.700 Menschen leben hier, Bürgermeister ist seit 21 Jahren Martin Behringer, 52 Jahre alt, seit 1996 für die Freien Wähler in der Kommunalpolitik. Vor dem Rathaus parkt sein Wahlkampfbus. Behringer kandidiert bei der Wahl im Oktober für den Landtag, seinen Job als hauptamtlicher Bürgermeister will er dafür aufgeben. Behringer ist im Vorstand der Freien Wähler in Niederbayern – dem Bezirksverband von Hubert Aiwanger.
Ihm persönlich habe die Affäre im Wahlkampf keine Probleme bereitet, sagt Behringer, ein gelernter Bäcker und Konditor. „Wir kriegen viel Zuspruch, viele hier sehen das als Schmutzkampagne, was es auch ist.“ Wer kurz vor einer Wahl solche Vorwürfe ausgrabe, wolle einem Politiker persönlich schaden. Das Flugblatt sei „unsäglich, so was geht gar nicht“. Aber egal, bei welchem Politiker man grabe – „in der Jugendzeit findet man bei allen einen schwarzen Punkt“.
Von grünen und roten Kreisen gesteuert
Die SZ werde „nicht erst seit gestern erst wissen“, dass es das Flugblatt gab, glaubt Behringer. Und Aiwangers Dementi sei hinter der Bezahlschranke versteckt gewesen. Das Ganze sei von grünen und roten Kreisen gesteuert, meint er.
Er habe von dem Flugblatt erfahren, als der SZ-Text online ging. „Wir haben uns verständigt, erst mal die Reaktion von Hubert abzuwarten.“ Dessen Erklärung, das Flugblatt nicht verfasst zu haben, „war für mich ausreichend“. Dass Aiwanger sich seither wenig äußere, verstehe er gut: „Alles, was er sagt, wird ihm im Mund herumgedreht.“
So sähen es auch die Menschen in seiner Region. „Die Leute nervt das so derartig, diese Schmutzkampagne, dass er nun angeblich auch Judenwitze gemacht hat, wahrscheinlich werden bald Kindergartenbilder rausgezogen.“ Statt über Sachthemen zu streiten, gebe es in der Politik nur noch persönliche Angriffe, klagt er. Von Markus Söder hätte Behringer sich gewünscht, „ein bisschen mehr zu seinem Stellvertreter zu stehen“, ansonsten sei der Umgang mit der Sache „schon o. k.“ gewesen. „Der Söder kriegt ja auch Druck.“
„Wir sind ideologiefrei“
Behringers Büro liegt im ersten Stock des Rathauses, die Tür steht offen, alle paar Minuten ruft ihn jemand auf dem Handy an. An der Wand hängen Bilder von Behringer als Pilger auf dem Jakobsweg und als katholischer Jugendverbandsvorsitzender bei Papst Johannes Paul II. in Rom. Bis heute läuft er jedes Jahr bei der Jugendwallfahrt nach Altötting mit. Zur CSU wollte er nicht. „Bei den FW schließt die Satzung Fraktionszwang aus, und wir sind ideologiefrei.“ Das habe ihm gefallen.
Die CSU setze Themen von oben nach unten. „Wir machen es genau andersrum, das ist unser großes Plus, das merken die Leute und fühlen sich ernst genommen.“ Aiwanger und die FW stünden dafür, Probleme aufzugreifen und pragmatische Lösungen zu suchen: Hemdsärmeligkeit. Die Freien Wähler kämen aus der Mitte der Gesellschaft, seien vielleicht ein bisschen konservativ. Er wehre sich dagegen, dass „bestimmte Gruppierungen uns immer wieder nach rechts rücken, wo wir nicht sind“.
Einer der wenigen, die Aiwanger kritisieren
Wie Martin Behringer ist auch Simon Haas im FW-Bezirksvorstand Niederbayern und dort Geschäftsführer. Der promovierte Politologe arbeitet als Bürgermeister der Gemeinde Haselbach, eine Autostunde östlich von Aiwangers Heimatort Rottenburg. Er ist einer der wenigen bei den FW, die Aiwangers Verhalten kritisieren. Wenn es Zweifel an der demokratischen Gesinnung gebe, müsse man ein „positives Statement und klares Bekenntnis abgeben,“ sagt Haas. Stattdessen schließe man die Reihen und sehe sich zu Unrecht angegriffen. Jeder habe das Recht, aus Fehlern zu lernen, meint Haas. Doch Aiwangers Reaktion sei problematisch.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Als Politiker müsse man problematische Stimmungen in eine richtige Richtung zu lenken versuchen, sagt er. Aiwanger tue das Gegenteil. Obwohl Aiwanger starker Befürworter erneuerbarer Energien sei, kokettiere er mit Klimawandelleugnung. „Wenn es mal ein paar Tage regnet, fragt er auf Twitter gleich, wo denn dieser Klimawandel sei. ‚Wir sind die mit dem gesunden Menschenverstand, die anderen sind die Ideologen‘ – das ist seine Message“, sagt Haas.
Die Folgen sind fatal
Die junge grüne Bundestagsabgeordnete Marlene Schönberger stammt aus Adlkofen im Landkreis Landshut. Mit Hubert Aiwanger sitzt sie im Kreistag. In der grünen Bundestagsfraktion ist sie unter anderem für den Kampf gegen Antisemitismus zuständig. Die vergangene Woche hat sie in ihrem Heimatdorf verbracht, um ihre Dissertation fertigzustellen. Thema: „Antisemitismus und Verschwörungsideologie in populistischer Agitation“.
Am Morgen nach Aiwangers Verteidigungsrede sitzt sie in einem Café in Adlkofen. Dass nun von einer Kampagne die Rede ist, sei „typisch für den Umgang mit Antisemitismus“, sagt Schönberger. „Man tut so, als sei der Vorwurf an sich das Problem, um sich nicht mit dem Antisemitismus selbst auseinandersetzen zu müssen.“ Die Frage sei doch, „was denn da los gewesen ist in der Familie Aiwanger“.
Ihr sei Antisemitismus „in einer Heftigkeit wie in diesem Flugblatt, mit so einer Mordlust“ kaum untergekommen. „Das liest man nach 1945 schon selten.“ Markus Söder agiere nach dem Grundsatz: „Lieber Antisemitismus als Koalition mit den Grünen.“ Die Folgen seien fatal, meint Schönberger. „Wenn ein Staatsminister so was ungestraft sagen kann, sagt sich jeder: Dann kann ich das ja auch.“
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