Der Fall Aiwanger: Was neuerdings wieder sagbar ist

Der öffentliche Diskurs verschiebt sich nach rechts. Gedenkstätten kritisieren einen „erinnerungspolitischen Scherbenhaufen“.

Hubert Aiwanger mit einer Bierflasche in der Hand am 3. September in Grattersdorf in Bayern

Hubert Aiwanger erhebt das Bier am 3. September im bayerischen Grattersdorf Foto: Uwe Lein/dpa

BERLIN taz | Am Sonntag beendete der bayerische Ministerpräsident Markus Söder (CSU) die Causa Aiwanger und die Enthüllungen um ein antisemitisches Hetzblatt. Für Rechtsextremismusforscher Miro Dittrich vom Center für Monitoring, Analyse und Strategie ist der Fall aber nicht abgeschlossen. Denn: „Wir erleben über die Jahre eine Verschiebung. Dinge, die als unsagbar galten, für die man ­früher zurücktreten musste, werden heute so toleriert“, sagte Dittrich der taz. Die Neumitgliedsanträge bei den Freien Wählern, von denen Medien berichten, und die jubelnden Unterstützer Aiwangers in den Bierzelten würden für große Ressentiments sprechen.

Der Fall werfe laut Dittrich zudem einen interessanten Blick auf die 1980er Jahre in Bayern, aber auch darauf, dass man nicht nur ein Problem mit Rechts­extremismus im Osten habe, sondern das Problem auch im Westen auftauche, ohne dass es bis heute Konsequenzen gebe. Auch bei Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden, sorgt die Causa Aiwanger für Irritationen. „Immer wieder betonte er eine politische Kampagne gegen ihn als Person und konnte sich erst spät zu einer Entschuldigung durchringen“, sagt Schuster. Er vermisse „eine wirkliche innere Auseinandersetzung mit den Vorwürfen und seinem Verhalten zur Schulzeit“.

Schuster ist damit nicht allein. Charlotte Knobloch, Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München, sagt, Aiwanger müsse „Vertrauen wieder aufbauen“. Knobloch machte öffentlich, dass Aiwanger sie zuletzt angerufen hatte – eine Entschuldigung Aiwangers habe sie abgelehnt. Die vergangenen Tage seien „eine enorme Belastung“ für die Gemeinde gewesen, so Knobloch. Sie forderte, die Erinnerungsarbeit gerade bei jungen Menschen stärker zu verankern.

Söder hatte Sonntag früh noch mit Schuster und Knobloch telefoniert. Zum genauen Inhalt der Gespräche äußerte sich keiner der drei. Söders Entscheidung, Aiwanger im Amt zu lassen, nannte Knobloch aber „politisch zu akzeptieren“. Sie seien Ergebnis „einer schwierigen Abwägung“. Die jüdische Gemeinschaft und die Menschen in Bayern erwarteten politisch stabile Verhältnisse. Auch Schuster sagte, in der „Gesamtbetrachtung“ sei Söders Entscheidung „nachvollziehbar“.

Erinnerung an die Shoah wesentlicher Bestandteil

Der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, sagte der taz dagegen: „Die Vorgänge der vergangenen Tage um Herrn Aiwanger erschweren den Kampf gegen Antisemitismus in Deutschland.“ Aiwanger habe den Sachverhalt „nur unzureichend“ aufgeklärt. „Ich möchte zudem deutlich seiner Aussage widersprechen, wonach die Shoah im vorliegenden Fall für parteipolitische Zwecke instrumentalisiert werde“. Das Gegenteil stimme: „Es gehörte bisher zum unter den demo­kratischen Parteien üblichen Konsens, dass die Erinnerung an die Shoah ein wesentlicher Bestandteil unserer offenen, demokratischen Gesellschaft ist.“

Klein hatte Aiwanger auch einen Besuch der KZ-Gedenkstätte Dachau nahegelegt, als „gutes Zeichen“. Gegenüber der taz ergänzte er, dass der Gedenkstätte zuletzt die Gelder gekürzt wurden. Ein Besuch Aiwangers könnte hier „ein Zeichen der Solidarität setzen, das die Gedenkstätte angesichts der fehlenden Gelder gut gebrauchen kann“.

Die Gedenkstätte Dachau zeigte sich wenig angetan. „Von öffentlichkeitswirksamen politischen Besuchen im Vorfeld der bayerischen Landtagswahl möchte die KZ-Gedenkstätte Dachau absehen“, sagte eine Sprecherin der taz. Gedenkstättenleiterin Gabriele Hammermann wollte sich zu der politischen Debatte um Aiwanger nicht äußern. Das Flugblatt hatte sie zuletzt aber als klar rechtsextrem bezeichnet. Ihre Sprecherin ergänzte zur taz: „Die aktuelle Debatte zeigt, wie wichtig eine lebendige Erinnerungskultur und der Kampf gegen Rechtsradikalismus und Antisemitismus nach wie vor ist.“

Auch Jens-Christian Wagner, Leiter der Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, ist skeptisch. „Mit dem Vorschlag, Aiwanger solle nun mit den jüdischen Gemeinden sprechen und eine KZ-Gedenkstätte besuchen, wird das Problem auf diejenigen abgewälzt, die für die Erinnerungskultur einstehen“, so Wagner zur taz.

„In Gedenk­stätten wird kein Ablasshandel betrieben“

Statt sich damit auseinandersetzen, warum Aiwanger „mit Schuldumkehr, der Beschimpfung seiner Kritiker und einer Jetzt-erst-recht-Haltung durchkommt und in Bierzelten dafür gefeiert wird, sollen die Gedenkstätten und jüdische Gemeinden die erinnerungskulturellen Scherben zusammenkehren, die Aiwanger und Söder hinterlassen haben“, so Wagner. „Dazu werden sie sich hoffentlich nicht zur Verfügung stellen. In Gedenk­stätten wird kein Ablasshandel betrieben.“

Christoph Heubner, Vizepräsident des Auschwitz-Kommittees, warnte derweil vor den gesamtgesellschaftlichen Folgen. Der „politische Flurschaden“, den Aiwanger mit seinen „egomanischen Redereien“ weiter anfache, werde „zunehmend größer und greift mittlerweile auf die gesamte Bundesrepublik über“. Jeder öffentliche Auftritt von ihm werde „zu einer demonstrativ beklatschten Unterstützung seiner Flugblatt-Aussagen“, so Heubner.

Dass Aiwanger behauptete, er solle politisch „vernichtet werden“, sei für Überlebende des Holocaust eine „unerträgliche“ Formulierung. Die ganzen Vorgänge ließen „die rechtsextreme Szene in Deutschland jubeln“ und führten zu einer „zunehmenden Verstörung“ des Bildes, das die Überlebenden von der deutschen Politik bisher hatten. Aiwanger täte sich und der Gesellschaft einen großen Gefallen, wenn er eine Auszeit nehmen und Söder um Entlassung bitten würde, so Heubner.

Der Antisemitismusbeauftragte Niedersachsens Gerhard Wegner vermisst vor allem eine klare Haltung Aiwangers zu dem, was war, und kein Rumgeeiere. „Ich fürchte, dass dies ein Tor öffnet zum Neuerwachen eines untergründigen antisemitischen Geredes, nicht nur in Bayern“, sagte Wegner der taz. „Die Brandmauer gegen Antisemitismus hat einen Riss bekommen.“ Dieses Fazit muss auch Rechtsextremismusforscher Dittrich ziehen: „Hier wurde eine Grenze überschritten – und diese Grenzüberschreitung verschiebt den Diskurs nach rechts.“

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