Grüne Abgeordnete zur Impfpflicht: „Eine Pflicht auch für den Staat“
Kirsten Kappert-Gonther, Grüne und Psychiaterin, war lange gegen eine Impfpflicht. Nun ist sie dafür – nennt für deren Einführung aber eine zentrale Voraussetzung.
taz: Frau Kappert-Gonther, ursprünglich sollte in der kommenden Woche im Bundestag über die Impfpflicht debattiert werden. Jetzt wird das auf Ende Januar verschoben. Wie finden Sie das?
Kirsten Kappert-Gonther: Die Debatte wurde nicht verschoben, weil sie noch gar nicht angesetzt war. Es ist notwendig, diese Diskussion mit Zeit und Sorgfalt zu führen. Ich gehe davon aus, dass wir uns noch im Januar mit konkreten Vorschlägen entlang den Empfehlungen des Ethikrats beschäftigen werden und anschließend ins Gesetzgebungsverfahren einsteigen. Aus meiner Sicht ist das in Anbetracht der Entwicklung des Pandemiegeschehens geboten.
Aber es gibt starke Vorbehalte – vor allem in der FDP, aber sicher auch bei den Grünen.
Dass das Impfen der Weg raus aus der Pandemie ist, da gibt es unter den Abgeordneten der demokratischen Fraktionen ein weitgehendes Einvernehmen. Ob wir eine allgemeine Impfpflicht brauchen und wie diese ausgestaltet werden sollte, dazu wird es vermutlich unterschiedliche Meinungen und Vorschläge in Form von fraktionsübergreifenden Gruppenanträgen geben.
Sie haben selbst die Impfpflicht lange abgelehnt. Warum sind Sie jetzt dafür?
Ich gehe davon aus, dass die Impfpflicht einen signifikanten Beitrag dazu leisten kann, diese Pandemie zu überwinden. Wegen Delta und jetzt Omikron brauchen wir eine höhere Impfquote, als wir sie bisher ohne die Pflicht erreicht haben. Allerdings müssten wir gar nicht über eine Impfpflicht sprechen, wenn die bisherige Impfkampagne bundesweit besser gewesen wäre.
Das heißt, sie ist eine Notlösung?
Sie ist ein Baustein zur Überwindung der Pandemie, und sie wird erst mittelfristig als Schutzschild gegen zukünftige Wellen greifen, das muss allen klar sein. Deshalb bleibt es erst einmal notwendig, Maske zu tragen, Abstand zu halten und Kontakte zu reduzieren. Und damit die Impfpflicht überhaupt wirksam werden kann, muss sie gut ausgestaltet sein.
Der Ethikrat hat sich kurz vor Weihnachten ähnlich geäußert. Die Impfpflicht sei „kein Allheilmittel“, es brauche auch eine „flächendeckende Infrastruktur“ mit „niedrigschwelligen Impfangeboten“. Aber wenn es solche Angebote bisher nicht gegeben hat in den meisten Bundesländern, warum sollen die sich jetzt noch anstrengen? Mit der Impfpflicht wird die Verantwortung an die Bürger:innen abgegeben.
Nein, es muss eine doppelte Verpflichtung geben, also auch für den Staat, die geeignete Infrastruktur zur Verfügung zu stellen. Wir sehen ja an Bremen, welche Quoten möglich sind, wenn die Impfkampagne gut organisiert ist. Politik und Verwaltung haben dort eine Positivspirale in Gang gesetzt: Je mehr Menschen sich impfen lassen, desto mehr ziehen sie mit. Da kann die Impfpflicht einen Beitrag leisten, aber nur, wenn der Staat die Impfung wie in Bremen zu den Menschen bringt: als ermöglichender, nicht verfolgender Staat. Dazu gehört, dafür zu sorgen, dass auch diejenigen den Schritt gehen können, die bisher Zweifel haben oder sogar Angst.
ist seit 2017 Mitglied des Deutschen Bundestags und aktuell für die Grünen Obfrau im Gesundheitsausschuss. Nach dem Medizinstudium promovierte sie zu den psychosozialen Folgen einer zivilen Katastrophe. Kappert-Gonther ist Psychiaterin und führte vor ihrem Wechsel in den Bundestag eine Praxis für Psychotherapie. Sie lebt in Bremen.
Davor hat sie Angst
Klimakrise und Artensterben
Das gibt ihr Hoffnung
Wenn durch gegenseitige Anerkennung in einem Gespräch die Entwicklung neuer Perspektiven möglich wird
Die Impfpflicht kann für diese Menschen auch ein Segen sein, weil sie endlich nicht mehr abwägen müssen, wovor sie sich mehr fürchten: der Impfung oder der Krankheit.
Ich vermute, dass das auf diejenigen zutrifft, die sehr ambivalent sind und sich gedanklich im Kreis drehen. Die sind vielleicht sogar erleichtert. Aber die Gruppe der Ungeimpften ist heterogen. Es gibt auch diejenigen, die es bisher einfach nicht geschafft haben, die Impfung in ihren Alltag zu integrieren. Und ich gehe davon aus, dass es auch Menschen gibt, die eigentlich große Angst vor der Pandemie haben, das aber verdrängen und die Angst unbewusst verschieben. Auf etwas, das sich – anders als die Pandemie – vermeiden lässt, nämlich auf die Impfung. Dann werden Widerstände gegen die Impfung entwickelt, ohne sich der Ursache bewusst zu sein. Für viele dieser Menschen können Gesprächsangebote zum begleiteten Impfen sinnvoll sein.
Also mehr als das ärztliche Aufklärungsgespräch?
Ja, eine Impfpflicht bedeutet nicht weniger, sondern mehr Kommunikation. Es braucht Personen, die geschult sind im Gespräch, zum Beispiel Psychotherapeut:innen, um Sorgen und Widerstände in Ruhe zu besprechen. Und das mehrsprachig.
Sie sind Psychiaterin und Psychotherapeutin. Wie entstehen solche Sorgen und Widerstände?
Dahinter können biografische Gründe stecken, zum Beispiel eine Traumatisierung, Erlebnisse in einem autoritären Staat oder eine erfahrene Impfnebenwirkung bei sich oder nahen Menschen.
Das heißt, es geht bei vielen womöglich um ihre Selbstwirksamkeit, sich nicht ausgeliefert fühlen zu müssen?
Ja, und dieser Punkt ist mir sehr wichtig. Es darf heute zum Glück nur noch medizinische Eingriffe geben, wenn die Patientin oder der Patient eingewilligt hat. Dazu gehört auch eine Impfung. Immerhin überwindet eine Spritze die Hautschranke zwischen Außen und Innen. Ohne Einwilligung wäre das ein Impfzwang – den darf es nicht geben.
Also auch keine Sanktionen?
Doch, eine Impfpflicht wäre verbunden mit Bußgeldern, wenn ihr nicht nachgekommen wird.
Wären die Beratungsgespräche ergebnisoffen, so wie in der Schwangerschaftskonfliktberatung?
Nein, das ist eine andere Situation. Der Staat will, dass du dich impfen lässt und soll dich in den Stand versetzen, Sorgen, Ängste, Ambivalenzen zu überwinden.
Das ist doch keine Beratung, das ist Überreden.
Das Ziel ist es, den Menschen alle Informationen in einem geeigneten Rahmen zur Verfügung zu stellen, die sie brauchen, um zu einer informierten Entscheidung zu kommen – im Sinne der Pandemiebekämpfung.
Aus Studien geht hervor, dass bei vielen die Ablehnung der Impfung nichts mit Ängsten vor Nebenwirkungen zu tun hat, sondern sie ihre Unzufriedenheit mit der Regierung an sich ausdrücken wollen. Da helfen keine psychotherapeutischen Gespräche.
Warum nicht? Die Pflicht, sich impfen zu lassen, bestünde ja auch für diese Menschen. Vielleicht gibt es gar nicht so wenige Personen, die im Gespräch erkennen, dass ihre Unzufriedenheit wenig mit der Impfung zu tun hat. Es geht hier auch nicht um Wattebauschpusten, nach dem Motto: Schön, dass wir drüber geredet haben. Sondern um eine Begegnung mit Profis, die gelernt haben, sich auf ihr Gegenüber einzustellen. Sicher würden nicht alle solche Gesprächsangebote nutzen, vielleicht auch mit der Haltung: Ich lass mich doch nicht einlullen. Dabei ginge es im Gegenteil darum, das Gegenüber ernst zu nehmen.
Haben Sie keine Sorge, dass sich diese Menschen mit einer Impfpflicht noch stärker radikalisieren?
Das wird sich nicht in jedem Fall vermeiden lassen. Ich glaube aber, dass die Impfpflicht auch zu einer gesellschaftlichen Befriedung führen kann. Zum einen von denen, die sehr ambivalent sind oder die sich einem Gruppendruck ausgesetzt fühlen, sich nicht impfen zu lassen. Die können dann sagen, ich muss das jetzt machen, ob ich will oder nicht. Zum anderen gibt es derzeit eine Individualisierung des Themas und moralische Zuschreibungen. Sowohl von Leuten, die geimpft sind und Ungeimpfte abwerten, als auch andersherum nach dem Motto: Die sind alle gebrainwashed. Das könnte eine Impfpflicht partiell auflösen.
Wegen der Coronavarianten gehen Expert:innen davon aus, dass wir eine Impfquote von 90 bis 95 Prozent der gesamten Bevölkerung für eine Herdenimmunität brauchen. Das geht nur, wenn ein großer Teil der Minderjährigen geimpft wird. Soll die Impfpflicht auch für sie gelten?
Ich bin gegen eine Impfpflicht für Kinder, weil die Einwilligungfähigkeit bei Kindern nicht in gleicher Weise vorausgesetzt werden kann wie bei Erwachsenen. Ich hoffe aber, dass sich zukünftig noch mehr Eltern dafür entscheiden, ihre Kinder impfen zu lassen.
Bei der Omikron-Variante sehen wir, dass eine Impfung, die länger her ist, deutlich schlechter schützt. Ist eine Impfpflicht auch dann sinnvoll, wenn wir uns drei Mal im Jahr impfen lassen müssen?
Wir wissen aus der Infektiologie, dass Impfschemata immer wieder an aktuelle Entwicklungen angepasst werden müssen. Als Ärztin halte ich es für wahrscheinlich, dass auch in Bezug auf das sich ändernde Coronavirus die Impfstoffe im Verlauf adaptiert werden und gegebenenfalls weitere Auffrischungsimpfungen notwendig werden. Ich finde nicht, dass diese Erkenntnisse einer allgemeinen Impfpflicht entgegenstehen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern