Freikaufen aus Berliner Gefängnissen: „Wir erwarten keine Dankbarkeit“
Die Initiative Freiheitsfonds kauft Menschen aus Berliner Gefängnissen frei. Initiator Arne Semsrott kritisiert das System der Ersatzfreiheitsstrafe.
taz: Herr Semsrott, die Initiative Freiheitsfonds hat letzte Woche 21 Menschen aus Berliner Gefängnissen freigekauft, die wegen Fahrens ohne Fahrschein Ersatzfreiheitsstrafen verbüßt haben. Wie kam es dazu?
Arne Semsrott: Die Idee gibt es schon seit zwei oder drei Jahren. Durch eine Kooperation von der Online-Plattform FragDenStaat mit dem ZDF Magazin Royale hatten wir nun aber die Möglichkeit, noch mal eingehender zu recherchieren zum Thema Fahren ohne Fahrschein und die Hintergründe aufzuzeigen. Die Initiative zum Freikaufen ist davon aber unabhängig.
Allein in Berlin verbüßen pro Jahr über 500 Menschen Ersatzfreiheitsstrafen, weil sie ihre Geldstrafe nicht bezahlen können. Kann man einfach so für jemanden die Geldstrafe übernehmen?
Ja, aber es muss das Einverständnis der Betroffenen vorliegen. In unserem Fall haben wir in den Gefängnissen Formulare verteilen lassen, auf denen sich die Betroffenen ausdrücklich einverstanden erklärt haben. Grundsätzlich kann man auch über Anstaltsbeiräte Gefangene kontaktieren. Die Gefängnisse haben in der Regel auch kein Interesse daran, dass Leute wegen so etwas bei ihnen sitzen.
33, ist Politikwissenschaftler und Journalist. Der Gründer der Initiative Freiheitsfonds ist Projektleiter von FragDenStaat – ein Interentportal, das für den freien Zugang von Informationen kämpft.
Kommen die Menschen sofort frei, wenn die Geldstrafe bezahlt ist?
Das kommt darauf an, wie man bezahlt. Wenn das vor Ort in bar geschieht, wie wir das gemacht haben, erfolgt das im Prinzip sofort.
Sie haben also einfach einen Stapel Geldscheine auf den Tisch gelegt?
Ja, in der JVA Plötzensee haben wir am vergangenen Donnerstag mit 15.000 Euro zwölf Leute ausgelöst. In der JVA Lichtenberg haben wir am Freitag 13.000 Euro für neun Frauen beim Amtsgericht eingezahlt, das direkt neben dem Gefängnis ist. Dann sind wir mit den Quittungen rüber, und die Frauen sind freigekommen.
Haben Sie solange draußen gewartet?
Nein, das haben wir nicht gemacht. Es geht nicht darum, uns als Samariter zu präsentieren. Wir erwarten von den Betroffenen auch keine Dankbarkeit. Es geht darum, dass dieses gesamte System ungerecht ist und wir dem etwas entgegensetzen wollen.
In der Regel muss man dreimal ohne Fahrschein erwischt worden sein, um ein Verfahren wegen Leistungserschleichung zu bekommen. Was verbindet die Menschen, die am Ende im Knast landen?
In der Regel sind das Personen, die in ihrem Leben aus verschiedenen Gründen Probleme haben. Die überwiegende Mehrheit ist schon lange Zeit arbeitslos, Statistiken zufolge sind das oftmals auch Menschen mit psychischen Krankheiten und einer Suizidgefährdung. Viele haben keinen festen Wohnsitz und haben deshalb nie die Gerichtspost bekommen, die immer einer Inhaftierung vorausgeht.
Und wenn jemand sagt, er möchte die Zeit – im Schnitt sind das 30 Tage – lieber im Knast bleiben, zumal jetzt im Winter?
Diese Leute kaufen wir natürlich nicht frei. Dass Leute lieber im Gefängnis bleiben, ist natürlich auch Ausdruck des Versagens der Gesellschaft. Es müsste andere Instrumente und Angebote geben. Gefängnis darf nicht die Lösung sein.
Wie geht es jetzt mit Ihrer Initiative weiter?
Die 28.800 Euro für den Freikauf hatten wir durch Spenden im Freundeskreis zusammenbekommen; von berufstätigen, freundlichen Leuten, die ein bisschen Geld übrig haben. Nachdem die Aktion öffentlich geworden ist, haben wir seit dem Wochenende über 200.000 Euro Spenden bekommen. Wir sind überwältigt von dieser Reaktion und wollen jetzt auch bundesweit Leute freikaufen. Das Problem gibt es ja überall. Zuvor müssen wir aber erst mal ein paar Strukturen schaffen. Sei es, indem wir auf die Gefängnisse zugehen, oder indem man uns die Leute meldet. Grundsätzlich ist das aber keine Initiative, die sich nur auf Einzelfälle bezieht.
Was ist das Ziel?
Es geht darum, politisch Druck zu machen, dass niemand mehr hinter Gittern landet. Das Fahren ohne Fahrschein muss endlich entkriminalisiert werden. Nicht nur weil das Ganze unwürdig ist, der Staat würde dadurch auch immense Kosten sparen.
Im Vertrag der Ampelkoalition im Bund steht, man wolle sich „für weitere Schritte zur Entkriminalisierung des Fahrens ohne Fahrschein und des Containerns“ einsetzen.
Mit dieser eher nebeligen Formulierung hat sich die Ampel-Koalition zu nichts verpflichtet. Wir wollen zeigen, dass die Zivilgesellschaft das Heft in die Hand nimmt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
BGH-Urteil gegen Querdenken-Richter
Richter hat sein Amt für Maskenverbot missbraucht
Umweltfolgen des Kriegs in Gaza
Eine Toilettenspülung Wasser pro Tag und Person
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Biden genehmigt Lieferung von Antipersonenminen
BSW stimmt in Sachsen für AfD-Antrag
Es wächst zusammen, was zusammengehört
Streit in der SPD über Kanzlerkandidatur
Die Verunsicherung